Wirtschaft
anders denken.

Mehr EU, die Milieus der Linkspartei und was neue Studien sagen

15.02.2019

Weniger Europa ist keine Option für die Parteien im linken Spektrum. Das gilt auch für die europapolitisch zerrissen erscheinende Linkspartei. Auch und gerade weil sie unterschiedliche Milieus adressiert: Die Rechte der Arbeit gegen die Drinnen-Draußen-Logik zu stärken, das wäre ein Rezept.

Laut der neuesten Umfrage dürfen die Parteien des Mitte-Links-Lagers bei der Europawahl mit Ergebnissen rechnen, die einiges durcheinanderwirbeln. Zum Beispiel die Reihenfolge, derzeit liegen die Grünen mit 19 Prozent knapp vor der SPD mit 18 Prozent, bei der Abstimmung 2015 hatten die Sozialdemokraten noch 17 Prozentpunkte Vorsprung. Die Linkspartei muss sich laut der Zahlen von Infratest dimap auf Verluste einstellen. Die Union liegt gegenüber der vorigen Wahl aktuell leicht im Plus, die rechtsradikale AfD ist weniger stark als zu befürchten sein müsste.

Ein paar Anmerkungen zur Linkspartei. In der bundespolitischen Öffentlichkeit dominieren aktuell die Regierungsparteien, die mit Einzelforderungen für Aufmerksamkeit sorgen; auch die Grünen, deren Hoch anhält (warum das so ist, dazu gibt es hier einen Erklärungsvorschlag). Ohne irgendeinen bundespolitischen Rückenwind fällt es der Linkspartei schwer, europapolitisch besondere Akzente zu setzen. 

Im Gegenteil: Dieser wäre nötig, um die Widersprüche der europapolitischen Ansprache der Linken zu überformen. Es gibt kein einheitliches Bild, stark die EU abweisende Rhetorik und das, was hierzulande gemeinhin als »proeuropäisch« bezeichnet wird, wechseln lose ab, je nachdem, wer spricht. Dass es einen Kanon an politischer Übereinstimmung gibt, etwa dahingehend, dass die EU in der aktuellen Verfassung veränderungsbedürftig ist, stimmt natürlich. Über die Folgen des deutschen Exportnationalismus, die sozialen Folgen der ökonomischen Asymmetrien, die unterschiedlichen Schutzniveaus der Lohnarbeit usw. würde man kaum einen Streit anzetteln können.

Zwei Sprechweisen herausgebildet

Genauso aber stimmt, dass sich im Grunde bei der Linkspartei zwei Sprechweisen herausgebildet haben, die gegeneinander interpretiert werden können: eine eher auf den nationalstaatlichen Politikraum orientierte Position, die tendenziell EU-skeptisch ist und in deren Umfeld auch »linke« Austrittsszenarien diskutiert werden; und eine Position, die auf Vertiefung der Integration setzt, weil politische Hebel dort erfolgversprechender gegen die Interessen des Kapital angesetzt werden könnten. 

Auch wirkt sich aus, dass ein Teil der Linksparteiprominenz über das Engagement in der Internetbewegung »Aufstehen« Nähe zum europapolitisch andere Wege gehenden französischen Ex-Linksparteipolitiker Jean-Luc Melenchon sucht, der mit der Europäischen Linkspartei gebrochen hat, bei der die deutsche Linke weiterhin eine führende Rolle einnimmt, nicht zuletzt über deren Präsidenten Gregor Gysi. 

Hinzu scheint eine emotional geprägte Haltungsdifferenz zu kommen – die einen betonen nicht ohne Grund die Tatsache, dass zu Zeiten der EU in Europa militärische Konflikte begrenzt werden konnten; die anderen betonen ihrerseits einen ganz anderen, abzulehnenden Charakter der Union. Das dürfte auch mit unterschiedlichem Denken zu Fragen etwa von Staatlichkeit und »bürgerlichen Institutionen« zu tun haben. Daraus ergeben sich dann auch unterschiedliche Erwartungen, etwa, was die EU tatsächlich bietet, was sie bieten könnte und in welche Richtung sich der Laden gegenwärtig bewegt.

Große Mehrheiten für vertiefte Integration

Auch dazu hat Infratest einige Zahlen. Auf die Frage »Wie stark sind Frieden und Sicherheit in Europa derzeit bedroht«, antworten jeweils 38 Prozent der Anhänger von Linkspartei, SPD und Grünen mit stark oder sehr stark. 

Auf die durchaus komplexe Fragestellung »Sollten die europäischen Länder in den nächsten Jahren ihre Zusammenarbeit vertiefen und weitere Zuständigkeiten an die EU abgeben? Oder sollten sie wieder stärker allein handeln und Zuständigkeiten von der EU zurückholen? Oder sollte sich an der Zusammenarbeit der europäischen Länder nichts Wesentliches ändern?« fällt das Antwortbild schon anders aus: Die Parteianhänger der Grünen sind mit 77 Prozent am ehesten für weitere Vertiefung der Integration – nur 4 Prozent von ihnen befürworten einen Rückzug auf nationalstaatliches Alleinhandeln. Diese Gruppe ist bei SPD und Linkspartei mit 18 bzw. 15 Prozent deutlich größer – aber immer noch viel kleiner als bei FDP (26 Prozent) und AfD (65 Prozent).

Weit über zwei Drittel der Anhänger der Linkspartei sprechen sich also für vertiefte Integration aus – das sagt zwar noch nichts über das »Wie« einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit, lässt aber die Frage aufkommen, welchen Effekt eine parteipolitische Rhetorik hat, die eher als generelle Absage an die EU im Alltagsverstand ankommt (man wird zwischen parteiinternen Expertendebatten und dem, wie es bei »den Leuten« ankommt, differenzieren müssen). 

Was ist ein Nachteil und warum ist das so?

Bedenkenswert ist dabei, dass unter den Anhängern der Linkspartei 83 Prozent sagen, die EU habe eher Vorteile bzw. diese halten sich mit den Nachteilen die Waage. Größer ist der Anteil nur bei den Grünen, der vergleichsweise starke Anteil der Anhänger, die meinen, Deutschland habe »insgesamt gesehen von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union« eher Nachteile, lassen sich dabei nicht ohne Weiteres den EU-Skeptikern zurechnen – es könnten auch Kritiker einer zu neoliberalen EU sein, die es als Nachteil ansehen, wenn zum Beispiel über europäisches Recht als neoliberal kritisierte Vorschriften auch in der Bundesrepublik Anwendung finden. 

Die Zahlen von Infratest entsprechen insgesamt auch den Ergebnissen früherer Umfragen. Anfang 2018 etwa wurde eine Studie veröffentlicht, laut der 75 Prozent der Linkspartei-Anhänger mehr Integration oder mindesten die Erhaltung des Status quo fordern. Keine gravierenden Abweichungen gibt es auch bei der Frage, mit wieviel Prozent der Stimmen die Linkspartei bei der Europawahl rechnen kann – die Umfragen seit Spätherbst 2018 lagen auch schon zwischen 10 und 6 Prozent, rechnet man die statistischen Unschärfen mit ein, dürfte die Linkspartei wie schon 2014 mit einigem Abstand unter ihren bundespolitischen Zustimmungswerten liegen. 

Eine Umfrage, die im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt wurde, findet sich in den Übersichten bei wahlrecht.de nicht – danach kam die Linkspartei bei einer onlinebasierten Befragung im Januar auf 9 Prozent, die Grünen auf 17 und die SPD auf 16 Prozent. Allerdings hatten zu dem Zeitpunkt nur 65 Prozent der Wahlberechtigten ihre Absicht bekundet, an der Europawahl Ende Mai überhaupt teilzunehmen – 35 Prozent waren Anfang Januar 2019 noch unentschieden.

Aussagen zu Europa und politische Milieutypen

Hier dürfte das Potenzial liegen, an den aktuellen Umfragewerten noch etwas zu ändern. Aber wie? Die Ergebnisse der Umfrage, die vom Berliner Forschungsinstitut policy matters gemacht wurde, sind auf dem Neujahrsempfang der Böckler-Stiftung vorgestellt worden. Sie gehen über bloße Wahlabsichten hinaus, Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich das Datenmaterial genauer angesehen. Auch wenn angesichts methodischer Fragen vor allzu eindeutigen Interpretationen abzuraten ist, ließen sich doch politische Schlüsse daraus ziehen.

Denn die Studie differenziert die Aussagen zur Europäischen Union mit politischen Milieutypen, die größere Gruppen auch anhand ihrer sozialen Lage und ihrer Werte unterscheidet. Haltungen zur EU werden nach »emotionaler Perspektive« (gute oder schlechte Sache) und »rationaler Perspektive« (Vor- oder Nachteile für die Bundesrepublik) unterschieden, auch wird nach Altersgruppen differenziert. Heraus kommt ein etwas genaueres, wenn gleich auch vielschichtigeres Bild davon, wie unterschiedliche soziale Milieus zur EU stehen. 

Aus der Auswertung von Kahrs: »Auf die Frage, welche Partei sich besonders ›für die Interessen Deutschlands in der EU‹ einsetze, antworten 47 Prozent ›keine Partei/weiß nicht‹, 24 Prozent CDU/CSU, 8 Prozent SPD, 7 Prozent AfD, 5 Prozent Grüne und je 4 Prozent FDP und Linke. Auf die Frage, welche Partei sich am ehesten ›für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung‹ einsetzt, ergibt sich ein ganz anderes Bild: 17 Prozent votieren für die SPD, 12 Prozent für die Linke und 8 Prozent für die AfD, aber nur noch 13 Prozent für die CDU/CSU und 3 Prozent für die Grünen… Die relative Stärke von SPD und Linken liegt damit nicht bei den ›Interessen Deutschlands‹ in der EU oder der Souveränität des Nationalstaates gegenüber der EU, sondern quer zu dieser der Union nützlichen Konfliktlinie bei den Interessen der Arbeit (gegenüber dem Kapital) bzw. der ›arbeitenden Bevölkerung‹. Bei Themen, die zu dieser Konfliktlinie gehören, gibt es zudem die größten Unterschiede zwischen Erwartungen an die EU und Realität. Für die AfD scheint zu gelten, dass sie in den Augen ihrer Anhängerschaft die Interessen Deutschlands mit den Belangen der arbeitenden Bevölkerung in eins gesetzt hat.«

Weniger Europa keine Option

Und weiter: »In den politischen Typen, die der unteren Mitte und dem gesellschaftlichen unten zugerechnet werden, gibt es eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der Wahlabsicht und dem Urteil, dass sich die Linke am ehesten für Arbeitnehmerinteressen einsetzt (z.B. die Typen ›desillusionierte Arbeitnehmermitte‹ und ›missachtete Leistungsträger‹). Wer die Interessen der Arbeit in einem (stärkeren) Einsatz für nationale Belange gut aufgehoben sieht, dürfte sich eher nicht der Linken zuwenden. Umgekehrt scheint der ›Einsatz für die arbeitende Bevölkerung‹ auch in dem Milieutyp ›Kritische Bildungselite‹ honoriert zu werden.« 

Mit anderen Worten: Trotz unterschiedlicher sozialer Lage gibt es ein bei der Linkspartei überdurchschnittliches Wählerpotenzial sowohl im urban-akademischen Bereich als auch in Sektoren des »gesellschaftlichen Unten«, die die Partei vor allem wegen ihrer – wenn so sagen will: »klassenpolitischen« Eigenschaft bevorzugt, und die Erreichung von damit verbundenen politischen Zielen sich eher von einer veränderten EU verspricht, an der Gerechtigkeitsmängel kritisiert werden.

Noch einmal Kahrs: »Im Lichte dieser Umfrage scheint ›Weniger Europa‹ keine Option für Parteien im linken Spektrum zu sein. Es sind auch eher von links zu besetzende Gerechtigkeitsthemen, bei denen die größte Lücke – auch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – in Europa gesehen wird. Das verbreitete positive Votum gegenüber einer politischen Vertiefung der EU – es soll mit der Integration weitergehen und wenn es zu langsam geht, auch in einem ›Kerneuropa‹ – lässt sich im weitesten Sinne mit Arbeitnehmerinteressen füllen (Steuern, gleicher Lohn, Arbeitnehmerrechte, aber auch Umweltschutz). Gleichzeitig zeigt die Befragung, dass gerade die Linke ihre Stärken in unterschiedlichen politischen Milieutypen bzw. sozialen Schichten hat, die möglicherweise im Alltag wenig Berührungspunkte haben.«

Und hier wären wir dann bei der Frage, wie die aktuelle Performance der Linkspartei sich auf ihre europapolitische Zustimmung auswirkt. Kahrs dazu: »Diese Milieus in Konfrontation zueinander zu stellen, wie in den Auseinandersetzungen des letzten Jahres vielfach geschehen, verspricht keinen Gewinn, sondern Verlust. Die (verbliebene) Basis der (parteiförmigen wie gesellschaftlichen) Linken in den alten, an Bedeutung verlierenden Arbeitnehmerschichten und dem neuen Dienstleistungsproletariat zeichnet sich offensichtlich dadurch aus, dass sie ›sozialen Fragen‹ nicht im Rahmen nationaler Fragen betrachtet. Diese Sichtweise, die Rechte der Arbeit, gegen die Drinnen-Draußen-Logik zu stärken könnte die zentrale Achse sein, die Angehörige unterschiedlicher politischer Milieutypen gegen ein weniger, für ein mehr Europa verbindet.«

Die EU aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger. Erwartungen der deutschen Bevölkerung an die EU nach dem Brexit – Studie der FES (2017)

Was ist »links« in Europa? Umfrageergebnisse zur Selbstverortung der Linken – Auswertung des Transform Netzwerkes (2017) 

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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