Wirtschaft
anders denken.

Mehr Fortschritt, mehr Zukunft?

19.02.2022
Foto: Lindsay HenwoodAuf der Stelle zu treten, bringt keinen Fortschritt

»Mehr Fortschritt wagen«, so haben SPD, Grüne und FDP ihren Koalitionsvertrag überschrieben. Ein Titel, der in alle Richtungen funktioniert und frei von Zumutungen ist. Gegen Fortschritt kann schließlich niemand ernsthaft sein – zumindest: solange offenbleibt, was mit Fortschritt jeweils gemeint ist.

Fortschritt und Zukunft sind zwei Konzepte, die eng beisammen hängen. Fortschritt bezeichnet den Weg zu einer besseren Zukunft. Wenn also mit »Mehr Fortschritt wagen« gemeint ist, mehr bessere Zukünfte möglich zu machen, dann scheint die neue Ampel-Koalition am Puls der Zeit zu operieren. Schließlich gehen viele Millionen Fridays for Future hierzulande und weltweit auf die Straße und fordern ihre Zukunft zurück: »Wir sind hier! Wir sind laut! Weil ihr uns die Zukunft klaut!«

Was damit gemeint ist, liegt auf der Hand: Eine Welt mit eskalierender Klimakrise wird weniger Freiheiten und weniger Verwirklichungschancen bereitstellen. Es wird rauer, gefährlicher, leidvoller und kriegerischer zugehen – ob der Koalitionsvertrag daran etwas wird ändern können (und wollen), das sei an dieser Stelle dahingestellt. Über diese offensichtliche Bedeutung hinaus, ist die Anklage einer geklauten Zukunft jedoch auch noch in einer weiteren Hinsicht aufschlussreich: nämlich in Bezug darauf, dass die Ursache des Problems heute mehrheitlich als Lösung behauptet wird.

Klauen, was nicht beginnen kann

Diesen Schildbürgerstreich können wir aufklären, sobald wir verstehen, dass Zukunft ein ontisches Unding ist. Das heißt, es kann sie nicht geben. Mit der Zukunft verhält es sich ähnlich wie mit dem Horizont, der sich in dem Maße verschiebt, wie man sich ihm annähert. Was mir in einem Augenblick als Horizont erscheint, verliert, einmal angekommen, im nächsten diesen Anschein. Auf einmal ist der Horizont ganz woanders. Das gilt auch für die Zukunft: Realisierte sie sich, wäre sie Gegenwart – und damit nicht länger Zukunft. Oder wie Niklas Luhmann einst getitelt hat: The future cannot begin.

In ihrem aktuellen Buch »Wir wollen unsere Zukunft zurück! Streitschrift für mehr Phantasie in der Politik« geben Walter Ötsch, Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung[1], und Nina Horaczek, Chefreporterin bei der Wiener Wochenzeitung Falter, auf die Frage, wie man klauen kann, was es nicht gibt, eine interessante Antwort. Sie begreifen Zukunft als das, was wir uns heute vorstellen können. Aus dieser Perspektive gibt es nicht die eine Zukunft, sondern viele mögliche Zukünfte – je nach Standpunkt und Blickrichtung. Zukunft ist damit ein imaginäres Ereignis, das von dem zu unterscheiden ist, wie sich die Dinge tatsächlich entwickeln. Ähnlich hatte auch Luhmann zwischen der gegenwärtigen Zukunft und der zukünftigen Gegenwart unterschieden.

In diesem Verständnis ergibt die Anklage einer geklauten Zukunft Sinn. Der Diebstahl der Zukunft kann als ein Diebstahl an Vorstellungskraft verstanden werden, das heißt als ein absichtsvoller Vorgang, der den kulturellen Horizont des Denkmöglichen enger und enger zieht. Leidenschaften und Sehnsüchte werden unterdrückt, das Träumen verlernt und Utopien verschwinden von der politischen Bühne ins Reich der Märchen und Science-Fiction. »Zukunft« wird zum alltäglichen Trott des nahezu Gleichen.

Auf der Stelle zu treten, bringt keinen Fortschritt

Zwar steigen das Tempo und der Takt, dass die Welt zu flackern beginnt und uns der Kopf brummt. Innovation hier und Disruption da; alles im Wandel, aber irgendwie auch nicht. »Rasender Stillstand« nannte der Philosoph Paul Virilio diesen Zustand bereits vor drei Jahrzehnten. Was fehlt, ist der Sinn, eine Antwort auf die Frage: Warum und wozu das alles? Dieser Mangel an positiven Zukunftsbildern ist ein Mangel an Orientierung für unser gesellschaftspolitisches Handeln. Und so treten wir eben auf der Stelle und kommen nicht voran – Fortschritt hin, Transformation her.

Eine zentrale These von Ötsch und Horaczek lautet: Diese geklaute Zukunft, die nun zurückgefordert wird, hängt mit einer gesellschaftlichen Fantasielosigkeit zusammen. Sie reflektiert sich als Glaube an ›den Markt‹, der fortan die beste aller Welten schaffen werde. Jedes Bild einer gesellschaftlichen Zukunft nimmt die Form eines Marktes an und bleibt in dieser Form gefangen. Menschliche Gestaltung gilt ihr als eine ›Anmaßung von Wissen‹, wie es der Ökonom Friedrich August von Hayek einst formulierte.

Dies alles, so die zwei Autor:innen, ist weder Naturgesetz noch gottgegeben. Ein neues Verständnis von Politik, das auf Solidarität, Vorstellungskraft und Demokratisierung beruht, kann diese Not noch wenden. Dieser Wandel kommt nicht von oben. Er kommt von unten.

Die »Streitschrift für mehr Phantasie in der Politik« ist ein Sachbuch. Es richtet sich an ein breites Publikum, dem jedoch eine aufmerksame und sorgfältige Lektüre abverlangt wird. Seicht ist das Buch nicht – und kann es wohl angesichts des Themas auch nicht sein, will es doch schließlich die Ursprünge der politischen Fantasielosigkeit einerseits rekonstruieren, andererseits überwinden helfen. Der Spagat zwischen wissenschaftlicher Fachkenntnis und außer-wissenschaftlicher Zugänglichkeit, der sich daraus ergibt, ist über weite Strecken gut gelungen. Die Beschäftigungen mit Hayek und Co werden die Eine oder den Anderen wohl abhängen, doch in Summe bleibt der Band zugänglich auch für fachfremde Leser:innen. Insbesondere die an das Ende des Buches gestellten Anmerkungen mit Erläuterungen und Belegen wie Vertiefungen sorgen für eine flüssige Lesbarkeit, da der Text nicht in akademischer Manier mit Zitationen fragmentiert wird.

Sechs Kapitel für mehr Fantasie im Fortschritt

Im ersten Kapitel zeichnen die Autor:innen den zunehmenden Verlust der Vorstellungskraft historisch nach. Als treibende Kraft identifizieren sie die Durchsetzung der sogenannten neoliberalen Politik seit den 1970er-Jahren, also einer Politik der Deregulierung und Privatisierung, durch welche Logiken von Konkurrenz und Wettbewerb auf immer neue Teile der Gesellschaft übertragen wurden. Diese Kulturgeschichte bringen sie im zweiten Kapitel in Zusammenhang mit einer ökonomischen Ideengeschichte. Ein Strang ökonomischen Denkens, so Ötsch und Horaczek, lieferte den entscheidenden Begründungszusammenhang, indem die sogenannte ›spontane Ordnung‹ marktlicher Koordination an die Stelle einer politisch durch Menschen gestalteten Gesellschaft trat. War der Raum des Politischen zuvor orientiert gewesen an Sehnsüchten, Hoffnungen und Wünschen, an Utopien und Zukunftsbildern, übernahmen fortan Sachzwänge das Steuer. Die Politik des Unpolitischen griff Platz, in welcher die Behauptung der Alternativlosigkeit zur Universalbegründung dafür wurde, die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten von Partikularinteressen nicht zu ergreifen.

»Alternativlosigkeit und politische Phantasielosigkeit sind zwei Momente des Marktfundamentalismus, die einander bedingen und ergänzen. Im Neoliberalismus besitzt die Politik keinen Freiraum, aus dem sie eigenständig handeln kann. Sie bleibt auf ›den Markt‹ fixiert, ihr Denken kreist um ›den Markt‹.« (S. 57)

Diese Idee ist vom Inhalt auf die Struktur der Gesellschaft gewandert, wie die Autor:innen im unverbunden wirkenden dritten Kapitel darlegen. Dies führe zu einem katastrophalen Kurzschluss: weil ökonomische Organisationen, insbesondere global agierende Konzerne, als ökonomisch kompetent angesehen werden und Wirtschaftskompetenz wiederum als politische Schlüsselkompetenz zur Gestaltung der Zukunft gilt, werden institutionelle Vertreter:innen politisch mächtig, die jedoch kaum willens und selten in der Lage sind, über den nächsten Quartalsbericht hinauszudenken:

»Konzerne sind gut darin, ein Getöse um ihre innovative Kraft zu veranstalten und zu verbergen, wie kurzfristig sie denken, wie beschränkt ihr Horizont ist und wie wenig sie wissen. Große Fragen der Gesellschaft, längerfristige Trends und strukturelle Brüche werden schlichtweg nicht erkannt, hier wird kaum ein systematisches Wissen aufgebaut.« (S. 84)

An Stellen wie diesen hätte das Argument gewiss nuancierter ausfallen können, um nicht selbst die neoklassische Homogenitätsannahme – alle Unternehmen wollen nur das eine: Gmax – bewusst oder unbesehen zu reproduzieren. Erst über die Vielfalt und Verschiedenheit der Unternehmenslandschaft, damals wie heute, kann schließlich ein Verständnis einer gestaltbaren Wirtschaft entstehen.

Mit den Kapiteln vier und fünf bekommt das Argument einen neuen Griff. Nach getaner Rekonstruktion und Begründung der Problemlagen wenden die beiden Autor:innen sich der Frage zu, wie der Karren doch noch aus dem Dreck gezogen werden kann. Dafür entwerfen und begründen sie philosophisch und soziologisch informiert eine Anthropologie, die Menschen als imaginative Wesen begreift (Kapitel 4), die Bilder einer solidarischen Zukunft (Kapitel 5) entwerfen können. Dieser Zweischritt erlaubt es ihnen, diesseits von Kalkül und Ratio eine methodologische Grundlegung vorzunehmen, die beides zugleich ist, sodass für alle Leser:innen etwas dabei ist: praktische Lebenshilfe und theoretisches Programm.
Diese Verbindung einer Kritik des Neoliberalismus mit einer dezidierten Auseinandersetzung mit Imagination als Mangel und Möglichkeit markiert einen neuartigen Zugang im noch jungen Forschungsfeld zu Fantasie und Bildlichkeit innerhalb der Ökonomie.

Im sechsten und letzten Kapitel tragen Walter Ötsch und Nina Horaczek hundertelf Zukunftsbilder, die Mut machen, mosaikartig zusammen. Sie zeigen: Der Aufbruch für eine bessere Welt findet längst statt; wir müssen nur hinschauen, uns begeistern und loslegen. Die kleinen Geschichten, manche füllen eine halbe Seite, andere bloß wenige Zeilen, reichen von 15-stöckiger vertikaler Landwirtschaft mit 95 Prozent weniger Wasserverbrauch (#11) über die französische Abwrackprämie, die für den Wechsel auf ein e-Bike gezahlt wird (#17), bis hin zum Schulfach Klimakrise in Italien (#35). Es sind mal größere, mal kleinere, mal technische, mal soziale Projekte, die unverbunden und in hoher Taktung aufeinander folgen. Da ist die Bio-Brauerei aus Deutschland, die nur so viel Bier braut, wie es regionalen Hopfen gibt (#39). Und das Fahrrad-Parkhaus in Utrecht mit 12.500 Stellplätzen (#51) sowie das IT-Unternehmen, das eine vier-Tage-Woche einführte – und damit die Produktivität nahezu verdoppelte und die Profite verdreifachte (#90).

Ein Feuerwerk der Fantasie

Bücher zum Neoliberalismus gibt es mittlerweile zuhauf. Das Gros dieser Zeitanalysen ist jedoch aufgrund einer sperrigen Fachsprache, die häufig noch mit einem kulturpessimistischen Sound des Weltuntergangs vorgetragen wird, wenig zugänglich für ein breites Publikum und verzichtet in der Regel darauf, positive Pointen auch nur anzudeuten. Das vorliegende Buch von Walter Ötsch und Nina Horaczek spricht im deutlichen Wortsinn eine andere Sprache. Den beiden Autor:innen ist ein sich aufdrängendes Buch gelungen, das gekonnt pendelt zwischen literaturgestützter Analyse und gestaltungsorientierter Inspiration. Ihr Argument bauen sie kontinuierlich auf und tragen es in einer klaren und verständlichen Sprache vor. So gelingt ihnen eine wohltuende Leichtigkeit, ohne zu banalisieren. Besonders erfreulich ist, dass die Auseinandersetzungen mit dem Neoliberalismus nicht als Kampf gegen Strohpuppen daherkommen. Die materialreichen Darstellungen zeigen indes, wie durch das Wirken konkreter Personen und Institutionen ein Denkstil etabliert und normalisiert wurde, der uns heute vielerorts gar nicht mehr veränderbar und begründungsbedürftig erscheint.

Darüber schließt sich der Bogen zur neuen Bundesregierung. Wer mehr Fortschritt wagen will, muss auch sagen können, wohin es geht. Das Buch von Walter Ötsch und Nina Horaczek ist eine Goldgrube für alle, die verstehen wollen, warum uns das heute oftmals so schwerfällt – und wie es uns trotzdem wieder gelingen kann. Die Lektüre dieses Buches wird nicht spurlos an Ihnen vorübergehen. Grade deswegen: haben Sie den Mut, es zu lesen!

[1] Transparenzhinweis: Der Autor dieses Textes ist am gleichen Fachbereich wie Walter Ötsch tätig.

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