Mehr Tarifbindung durch weniger Tarifsubstanz?
Rund um das Jubiläum 100 Jahre Sozialpartnerschaft bringen die Unternehmen eine Modularisierung von Tarifverträgen ins Spiel und verkaufen das als Mittel zur Stärkung der Tarifbindung. In Wahrheit würde es das »strukturelle Machtungleichgewicht« zwischen Kapital und Arbeit nur vergrößern. Wie reagieren die Gewerkschaften?
Seit Jahren erodiert die Tarifbindung von Unternehmen, zwar gilt noch für die Mehrzahl der abhängig Beschäftigten in der Bundesrepublik ein Tarifvertrag – aber diese Mehrheit besteht nur noch im Westen und das mit 57 Prozent eher knapp, im Osten arbeiten jetzt schon nur noch 44 Prozent unter kollektiv ausgehandelten Verträgen. In den 1990er Jahren wurden noch vier von fünf Beschäftigte durch einen Tarifvertrag geschützt. Der Wandel ist schleichend aber gravierend.
»Auch wenn dieser Erosionsprozess schleichend verläuft, ist der Trend als solcher eindeutig und hält nach wie vor an. Obwohl Branchentarifverträge für viele Betriebe nach wie vor als Referenzrahmen bei der Aushandlung der Löhne und Arbeitsbedingungen dienen, fehlt in diesen Betrieben die rechtliche Verbindlichkeit und die damit einhergehende Sicherheit für die Beschäftigten«, heißt es beim Institut IAB. »Immer mehr Beschäftigten werden tarifvertraglich abgesicherte Arbeits- und Einkommensbedingungen vorenthalten«, kritisiert das gewerkschaftsnahe WSI in einer jüngeren Untersuchung zur Lage in Bayern. Um die Dimension zu verdeutlichen: »Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist. Der unbereinigte Rückstand beim Entgelt beträgt rund 24 Prozent. Berücksichtigt man die Strukturunterschiede zwischen den Betrieben, bleibt immer noch ein Verdienstunterschied von 9 Prozent.«
Geht man von einer Formulierung des WSI aus, laut der »Tarifverträge als Basisinstitution eines sozial eingebetteten Kapitalismus« gelten können, die »ein wesentliches Instrument zur demokratischen Gestaltung der Arbeitswelt« bieten und einer der wichtigsten Hebel gegen das »strukturelle Machtungleichgewicht« auf dem Arbeitsmarkt (Bundesverfassungsgericht) sind, zeigt der Trend in eine Richtung: in die eines immer mehr »entbetteten« Kapitalismus. Und wenig überraschend ist, dass die Unternehmen auf diesem Weg gern weitergehen wollen.
Dreisatz der Deregulierung
Im Umfeld diverser Feierlichkeiten anlässliche »100 Jahre Sozialpartnerschaft« hat der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände eine »neue Tarifpolitik« gefordert, die dann auch zu mehr Tarifbindung führen könne. In Wahrheit würde sie die Tarifbindung noch weiter unterminieren, und zwar bezogen auf das einzelne Unternehmen selbst. In der »Frankfurter Allgemeinen« schlug Ingo Kramer dazu einen Dreisatz der weiteren Deregulierung des bestehenden Tarifsystems vor: mehr Öffnungsklauseln, die Unternehmen Abweichung von kollektiv vereinbarten Verträgen erlauben, modulare Tarifverträge, bei denen sich Unternehmen die Bedingungen »auswählen« können, die ihnen passen, und schließlich die Möglichkeit, dass auch Betriebsräte diese Modularisierung auf Betriebsebene selbst mit den Unternehmen verabschieden könnten, wodurch dann mit einer Teilgültigkeit von Tarifverträgen bereits eine Tarifbindung erreicht würde.
Kramer verkauft seine Vorschläge mit zwei Argumenten: Es sei besser, wenn wenigstens Teile von Tarifverträgen gelten als gar keine. Und es würden bei solch »flexibleren« Regeln auch wieder mehr Unternehmen in die Tarifbindung zurückkehren. Bei Licht betrachtet wäre die Folge aber, dass zwar der Grad der gebundenen Unternehmen wieder ansteigen könnte, dies aber bei weiter abnehmender »Tarifsubstanz«, um die es aber unter dem Strich geht: Der durch kollektives Vorgehen und verbindliche Regeln erhöhte Solidaritätsoutput in Form von Tarifverträgen über unterschiedliche Betriebsgrößen, wirtschaftliche Lagen einzelner Unternehmen usw. hinweg würde durchlöchert, wenn die einzelnen Unternehmen sich je nach Belieben die Regeln heraussuchen. Der Druck auf Betriebsräte würde zunehmen, einzelbetriebliche Abschwächungen vorzunehmen.
Kramer verpackt das alles in ein alt bekanntes Einwickelpapier: Vor den bisherigen Regelungen wird als »Fortschreibung vergangener Rezepturen« gewarnt, die Modularisierung und Verbetrieblichung der Tarifpolitik als Stärkung der »Tarifautonomie« verkauft. Zudem heißt es, man müsse das »Produkt Tarifvertrag« attraktiver machen. Selbst noch die Momentaufnahme über die jeweilige Stärke von Klasseninteressen gegen die der anderen Seite, die sich in Tarifverträgen ja niederschlägt, kann der BDA_Chef nur als Waren sehen.
Eine »sozialpolitische Erfolgsgeschichte«?
Dass Kramer gemeinsam mit dem DGB-Chef Reiner Hoffmann kurz nach seinem Vorstoß eine gemeinsame Erklärung zu »100 Jahre Sozialpartnerschaft – erfolgreich in die Zukunft« abgegeben hat, könnte vor diesem Hintergrund zu allerlei Nachdenken führen. Angefangen schon bei der symbolischen Wirkung eines solchen Schulterschlusses über Interessengegensätze, tarifpolitische Realität und die sozialen sowie verteilungspolitischen Folgen hinweg. Während die gewerkschaftsnahe Forschung – siehe oben – die Hände ob der Erosion über dem Kopf zusammenschlägt, lobt Hoffmann »die sozialpolitische Erfolgsgeschichte«, die unter Bedingunen von Digitalisierung etc. fortgesetzt gehöre. Immerhin verlangt auch er, »die Tarifbindung vorher deutlich zu erhöhen«.
Ver.di-Chef Frank Bsirske hat nun bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Stinnes-Legien-Abkommens gegen die Baukasten-Vorschläge von Kramer klar Stellung bezogen. Unternehmen, die sich lediglich an Tarifverträgen orientierten oder einzelne Bausteine herauspickten, nutzten das nicht selten, um Lohndumping zu betreiben oder Sozialstandards zu unterlaufen, wird Bsirske im »Handelsblatt« wiedergegeben. Wie auch DGB-Chef Hoffmann habe der Ver.di-Vorsitzende sich für steuerliche Anreize ausgesprochen, welche die Tarifbundung stärken sollen. Die Zeitung: »So warb er für einen zusätzlichen Steuerfreibetrag in Höhe von 1.300 bis 1.700 Euro allein für Gewerkschaftsmitglieder in tarifgebundenen Firmen. Dies würde nicht nur den Anreiz erhöhen, einer Gewerkschaft beizutreten. Tarifgebundene Unternehmen könnten so auch leichter Fachkräfte gewinnen.« Eine Pressemitteilung von ver.di dazu findet sich hier.
Hoffmann erneuerte auf dem Festakt auch noch einmal die Forderung nach gesetzlicher Stärkung der Tarifbindung, etwa einer Ausweitung von Regeln, mit der Betriebe rechtlich zur Anwendung von Tarifverträgen gezwungen werden könnten etwa über ein Bundes-Tariftreuegesetz. Die Unternehmen sind wenig begeistert, und auch hier wird wieder auf die Tarifautonomie verweisen – Motto: Das »strukturelle Machtungleichgewicht« und die Schwäche der Gewerkschaften dadurch ausnützen, dass man nicht auch noch den Staat, der nur im eigenen Krisenfall als »Retter« gern gesehen ist, draußen hält. Kramer in der FAZ: »Noch sind die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften in der Situation, die Weiterentwicklung der Tarifautonomie selbst in die Hand zu nehmen. Das sollten sie auch tun.« Die Gewerkschaften, und nicht nur sie, brauchen eine eigene Antwort darauf.
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