Wirtschaft
anders denken.

Merkel und die »Abweichler«: Über Gefolgschaftssehnsucht und frühere Kanzlerinwahlen

14.03.2018
Times, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Angela Merkel hat bei der Kanzlerinwahl nicht 100 Prozent aus den eigenen Reihen erhalten. Muss deshalb nach »Abweichlern« geforscht und über »Leihstimmen« spekuliert werden? Nein, es gäbe weit bessere Gründe, der Regierung einen schlechten Start zu attestieren. Dass Abgeordnete eine demokratische Wahl nutzen, gehört nicht dazu.

Die vierte Amtszeit der Angela Merkel als Kanzlerin beginnt mit der Wiederaufführung eines merkwürdigen politischen Dramas: Weil die CDU-Politikerin nicht alle Stimmen der Regierungskoalition bekommen hat, wird nun nach »Abweichlern« geforscht und über »Leihstimmen« aus der Opposition spekuliert. Aus dem Wahlergebnis – für Merkel votierten 364 Abgeordnete, die »Große Koalition« hat aber 399 Mandate – wurden auch schon allerlei Schlussfolgerungen gezogen, etwa die, dass dieses Ergebnis eine Klatsche für Merkel sei und die Große Koalition gar nicht so groß.

Potzblitz! Es gäbe weit bessere Gründe, der Merkel-Regierung einen schlechten Start zu attestieren. Zum Beispiel den Koalitionsvertrag und das, was darin fehlt. Oder die aus der demokratiepolitisch fragwürdigen Tradition der Koalitionsdisziplin rührende Peinlichkeit, welche die SPD in Sachen §219 abliefert. Oder man hätte einfach mal ins Archiv geschaut, denn dann relativierte sich schon manche Erregtheit.

Merkel ist bisher stets von weniger Abgeordneten zur Kanzlerin gewählt worden, als die regierenden Koalitionen an Mandaten vorzuweisen hatten. 2005 fehlten ihr 51 Stimmen, aus den Reihen von Union und SPD stimmten also über 11 Prozent nicht für Merkel. 2009 fehlten ihr neun Stimmen, aus den Reihen von Union und FDP stimmten also fast 3 Prozent nicht für »ihre« Kanzlerin. 2013 wurde Merkel mit 42 Stimmen weniger ins Amt gewählt, als die »Große Koalition« Mandate hatte, aus den Reihen der Regierungsparteien votierten also über 8 Prozent nicht für Merkel. An diesem Mittwoch waren es erneut über 8 Prozent, allerdings etwas deutlicher »darüber«.

Was kann man daraus lernen? Erstens womöglich, dass es zu Beginn von Regierungsperioden Gründe gibt, die Abgeordnete dazu bringen, nicht die Kanzlerin zu wählen, die sich aus der parteipolitischen Aufstellung »naturgemäß« ergibt. Zweitens könnte man erwägen, dass diese Gründe gar nicht notwendig etwas mit dem politischen Gehalt der Regierungsbildung, sondern zum Beispiel mit privaten Interessen zu tun haben – irgendwer hat immer irgendeine Rechnung offen. Drittens wäre es durchaus denkbar, dass Abgeordnete politische, inhaltliche, strategische Gründe ins Feld führen würden, ob derer sie Merkel nicht wählten – Unionsvertreter, weil ihnen Merkel vielleicht zu links ist, SPD-Leute, weil sie gegen die GroKo waren und so fort.

Man könnte das Demokratie nennen. Eine Regierung wird eben nicht allein durch ein paar Führungszirkel und deren kompliziert in einer machtpolitischen Tektonik miteinander verbundenen Verabredungen gebildet. Sondern es steht mindestens noch eine Abstimmung im Parlament an, bei der die Abgeordneten einigermaßen frei sein sollten. Die Bezeichnung »Abweichler« will von solchen Grundregeln schon nichts mehr wissen. Das Wort meint schließlich nicht nur die bloß empirische Abweichung von einem Mehrheitsergebnis, sondern ist auch negativ konnotiert: Hier hat sich jemand nicht gefügt.

Die obige Statistik der bisherigen Kanzlerinnenwahlergebnisse in Rechnung gestellt, könnte man an diesem Tag eins der vierten Kanzlerschaft Merkels also eigentlich sogar sagen, dass Merkel eine der prozentual bisher höchsten Zustimmungen aus den eigenen Reihen erhielt. Würde das irgendwas erklären, reflektieren, aussagen? Kaum. Dass sich nun auch aus den Ecken Politiker über die fehlenden Koalitionsstimmen echauffieren, die zuvor darauf gesetzt hatten, dass mutige Sozialdemokraten Merkel nicht wählen würden, ist auch noch so eine Pointe bei dem Ganzen. Und wer in Zeiten wie diesen von Gefolgschaft in einer Weise spricht, die solche zum Maßstab des Parlamentarismus oder der Demokratie macht, geht bitte einmal raus zum Nachdenken.

Der Rest kann einfach zur Kenntnis nehmen, dass Merkel so viele Stimmen erhalten hat, wie für ihre Kanzlerinwahl nötig waren. Punkt. Und nun ist wieder Zeit für inhaltliche Kritik.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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