Wirtschaft
anders denken.

Die Erde als fiktives Kapital

14.01.2023
Baugrundstücke von obenfotografiert in einer LuftaufnahmenFoto: Dan Roizer Eingezäunte Grundstücke von oben: Wer hat hier was produziert?

Schon Marx und Engels wussten: Der Preis für Boden beruht auf Spekulation. Was hat das mit den Mieten zu tun? Aus OXI 1/23.

Herrliche Zeiten für Investor:innen: Weltweit sind die Preise für Immobilien in den vergangenen Jahren immer höher geklettert. Den Erträgen der Eigentümer:innen stehen steigende Ausgaben für jene gegenüber, die bloß ein Zuhause brauchen. Inzwischen aber droht ein globaler Crash bei den Hauspreisen, der die Weltwirtschaft in eine Krise stürzen könnte. Für beides – die Immobilienblasen und die steigenden Mieten – wird die Finanzialisierung des Wohnsektors verantwortlich gemacht: Investmentfonds und -aktiengesellschaften hätten die Preise in die Höhe spekuliert. Das ist einerseits richtig. Andererseits sind es nicht die Finanzinvestor:innen, die Wohnraum zum Spekulationsobjekt machen. Vielmehr ist es umgekehrt – weil der Preis für Grund und Boden auf Spekulation beruht, ist er ein ideales Geschäftsfeld für Anlagekapital.

Nach seiner großen Krise ab 2008 erlebte der globale Immobiliensektor einen langen Aufschwung. Genährt wurde er vor allem durch extrem niedrige Zinsen. Das billige Geld machte Immobilienkredite erschwinglicher, was die Nachfrage erhöhte. Gleichzeitig floss viel Kapital in die Häusermärkte, da Anleger:innen dort in Zeiten niedriger Zinsen höhere Erträge erzielen wollten. Das hat funktioniert: Wer sein Geld in Immobilienfonds (nach der englischen Bezeichnung »Real Estate Investment Trusts« abgekürzt »REITs«) steckte, erzielte im vergangenen Jahrzehnt eine Rendite von 13,5 Prozent pro Jahr, errechnet die US-Investmentbank J.P. Morgan. Dahinter zurück blieben Staatsanleihen (jährliche Rendite 2,3 Prozent), Hedgefonds (6,3 Prozent) oder Schwellenländeraktien (10,9 Prozent).

Dieser Boom macht sich bei den Normalbürger:innen in Form steigender Wohnkosten bemerkbar. Unbezahlbare Mieten und Wohnraummangel sind Dauerthemen, vor allem in deutschen Metropolen. Wesentlicher Grund dafür ist laut dem Politökonomen Sebastian Botzem die Finanzialisierung des Immobiliensektors. »Das bedeutet, Wohnraum wird immer mehr als Investitions- und Spekulationsobjekt angesehen«, schreibt er auf dem Finanzwende-Blog. Die Rendite-Erwartungen der Kapitalanleger:innen könnten nur mit erhöhten Mieten bedient werden. Gefördert wurde die Finanzialisierung durch Abschaffung mietpreisdämpfender Regelungen, Änderungen des Steuerrechts, aber vor allem durch den massenhaften Verkauf von Mehrfamilienhäusern an nationale und internationale Finanzinvestor:innen.

Diese haben in den vergangenen Jahren profitiert. Doch nun geht es abwärts. In Deutschland erkennt das Wirtschaftsforschungsinstitut DIW »für immer mehr Regionen und Marktsegmente spekulative Übertreibungen«. Die Schweizer Bank UBS sieht neun von 25 untersuchten Wohnungsmärkten in der »Blasenrisikozone«, an der Spitze stünden Frankfurt am Main und Toronto. »Nach einem langen Boom am deutschen Markt für Wohnimmobilien fallen seit Juli die Preise«, vermerkt die Commerzbank. »Der wichtigste Grund für diese Vollbremsung dürften die deutlich gestiegenen Zinsen sein.« Die effektiven Zinsen für Hypothekenkredite mit zehnjähriger Laufzeit seien von 1,3 Prozent zu Jahresbeginn auf rund vier Prozent geklettert.

Der britische »Economist« kündigt eine »global housing horror show« an. Ein Problem für die Weltwirtschaft ist das zum einen, weil der Immobilienboom viele Haushalte mit hohen Schulden zurücklässt, deren Bedienung künftig teurer wird. Es drohen Pleiten und damit Belastungen für das globale Bankensystem, das zu einem Großteil auf Hypothekenkrediten basiert. Zum anderen steht mit dem Preisrückgang eine riesige Entwertung an: Schließlich besteht das globale Vermögen laut der britischen Immobilienberatungsgesellschaft Savills Research zu rund 260 Billionen US-Dollar aus Wohnimmobilien, zu denen sich noch Gewerbeimmobilien mit 60 Billionen Dollar addieren. Das ist wesentlich mehr als das globale Vermögen in Aktien (110 Billionen Dollar) und Anleihen (123 Billionen Dollar).

Dass Immobilien keineswegs Stabilität verbürgen und sich ihre Bewertung vielmehr als äußerst mobil nach oben und unten erweist, ist allerdings nicht allein dem Engagement der Finanzinvestor:innen geschuldet. Sie betätigen sich lediglich auf einem Feld, das schon bereitet ist. Was Spekulant:innen sich zunutze machen, ist die Tatsache, dass der Preis eines Hauses sich grundsätzlich anders berechnet als der eines Autos oder anderer Güter im Kapitalismus. Denn in die Bewertung der Immobilie fließen nicht nur Baukosten und Betriebskosten ein, sondern vor allem der Preis des Bodens. Und dieser ist entscheidend. So stieg der Baupreisindex in Deutschland laut Statistischem Bundesamt zwischen 2010 und 2020 nur um knapp 30 Prozent. Der Preisindex für Bauland hingegen verdoppelte sich, in Berlin verdreifachte er sich sogar.

Wie bestimmt sich nun der marktwirtschaftliche Preis einer Sache – des Bodens –, die gar nicht produziert worden ist, die keine Herstellungskosten hat, sondern die schlicht vorhanden ist? Antwort von Karl Marx: Was gezahlt wird, »ist der Kaufpreis nicht des Bodens, sondern der Grundrente, die er abwirft«. Damit sind der Immobilienspekulation Tür und Tor geöffnet, noch bevor der erste Investmentfonds den Markt betreten hat.

Der Reihe nach: Was Grundeigentümer:innen auf dem Markt anbieten, ist ein reines Rechtsverhältnis. Ihnen gehört jeweils ein Stück Erdoberfläche, und das bedeutet, sie können anderen verbieten, es zu betreten und zu nutzen. Zu einer Einkommensquelle wird ein Quadratmeter Erdeigentum, weil andere ihn brauchen, um darauf zu leben oder zu produzieren. Für dieses Recht verlangen Grundeigentümer:innen einen Preis, der ökonomisch gesehen einem reinen Tribut entspricht. »Ein Teil der Gesellschaft verlangt hier von den anderen einen Tribut für das Recht, die Erde bewohnen zu dürfen«, schreibt Marx, »wie überhaupt im Grundeigentum das Recht der Eigentümer eingeschlossen ist, den Erdkörper, die Eingeweide der Erde, die Luft und damit die Erhaltung und Entwicklung des Lebens zu exploitieren.«

Da der Boden nicht produziert worden ist, sind in ihn auch keine Herstellungskosten eingeflossen, die Eigentümer:innen rentabel verwerten. Was ein Quadratmeter wert ist, hängt allein davon ab, was jene, die ihn brauchen, auf ihm vorhaben. Unternehmen brauchen Boden, um auf ihm zu produzieren, und von ihrem Ertrag geben sie einen Teil an den oder die Grundeigentümer:in. Lohnabhängige brauchen Boden, um auf ihm zu wohnen, und müssen daher einen Teil ihres Konsumbudgets abtreten. An Lohn und Umsatz partizipieren die Eigentümer:innen, und von diesen Einkommen ist abhängig, was sie für die Nutzung verlangen können.

Die Eigentümer:innen schmarotzen zwar nur von der Leistung anderer. Für sie selbst stellen sich Pacht und Miete gleichwohl als Früchte ihres Eigentums dar, anhand deren sie den Wert ihrer Grundstücke hochrechnen. Dazu können sie als ersten Schritt die Erträge ihres Grundeigentums mit dem marktüblichen Zins nach folgendem Muster vergleichen: Wenn eine Million Euro derzeit zwei Prozent Zinsen bringt, also 20.000 Euro, und wenn mein Grundstück pro Jahr 40.000 Euro Pachteinnahmen bringt, dann ist mein Grundstück zwei Millionen Euro wert. Grundeigentümer:innen betrachten ihre Mieteinnahmen also als Zins und weisen daraus ihrem Grundstück einen fingierten Kapitalwert zu, weswegen Marx hier von »fiktivem Kapital« spricht – im Gegensatz zu »echtem« Kapital wie einer Fabrik, wo tatsächlich Arbeitskraft zwecks Verwertung ausgebeutet wird.

So funktioniert die Berechnung des Bodenwerts rückwärts – aus den Erträgen, die er bringt, oder eher: die er zu bringen verspricht. Da Grundstücke das Anrecht und die Aussicht auf künftige Einnahmen repräsentieren, zählt hier nur die Zukunft. Und daher fließt in die Berechnung des Bodenwerts alles ein, was seine künftigen Erträge beeinflussen könnte: Der erwartete Zuzug von Menschen und Unternehmen, eine voraussichtlich gute Wirtschaftskonjunktur, geplante Verkehrsanbindungen und anderes können die erwarteten Erträge und damit den Bodenwert steigen lassen. Diese erwarteten Erträge des Bodens wiederum werden mit den erwarteten Erträgen anderer Geldanlagen wie Aktien oder Anleihen verglichen. Und aus diesen Spekulationen ergibt sich schließlich ein Preis. Auf diese Weise wird Wohnraum zum Teil des allgemeinen Marktes für den Handel mit Investments, und auf diesem Markt agieren die Profis: Banken, Fonds, Aktiengesellschaften.

Der Bodenpreis ermittelt sich damit durch Spekulation auf künftige Erträge im Vergleich mit den erwarteten Erträgen anderer Geldanlagen – und ist dementsprechend schwankungsanfällig. Steht der Preis aber erst einmal fest, bestimmt er auch, wie viel Miete verlangt werden muss, damit sich das fiktive Kapital angemessen verzinst. »Die Mietpreise sind in München nicht höher als in Chemnitz, weil die Grundstücke dort viel teurer sind«, schreibt der Stadtsoziologe Andrej Holm, »sondern vielmehr gilt umgekehrt: Die Grundstückspreise in München sind so hoch, weil dort höhere Mieten erwartet werden können.«

Für Mieter:innen bedeutet das: Als Lohnabhängige müssen sie mit ihrer Arbeit und ihrem möglichst geringen Lohn nicht nur das Kapital ihrer Arbeitgeber:innen verwerten. Sie werden auch noch dafür in Haftung genommen, dass sich das spekulative Vermögen der Grundeigentümer:innen als fiktives Kapital bewährt, indem es die erwarteten Zinsen abwirft. Daraus folgt notwendigerweise, dass sich große Teile der Menschheit guten Wohnraum kaum oder gar nicht leisten können – und dies, obwohl der Staat mit zahlreichen Gesetzen die Freiheit der Grundeigentümer:innen einschränkt. Auch »Bauen, bauen, bauen« hilft nicht, da jeder Neubau lediglich Wohnraum produziert, der die Renditeansprüche der Grundeigentümer:innen befriedigen muss. Gleichzeitig bleibt die andere Seite der Armut erhalten, der Geldmangel der Mieter:innen, der aus der Lohnarbeit resultiert.

Daraus schloss Friedrich Engels seinerzeit: »Die Wohnungsnot der Arbeiter und eines Teils der Kleinbürger unserer modernen großen Städte ist einer der zahllosen kleineren sekundären Übelstände, die aus der heutigen kapitalistischen Produktionsweise hervorgehen. Sie ist durchaus nicht eine direkte Folge der Ausbeutung des Arbeiters als Arbeiter, durch den Kapitalisten. Diese Ausbeutung ist das Grundübel, das die soziale Revolution abschaffen will, indem sie die kapitalistische Produktionsweise abschafft.« Nicht die Lösung der Wohnungsfrage löse zugleich die soziale Frage, so Engels, »sondern erst durch die Lösung der sozialen Frage, d. h. durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht«.

Geschrieben von:

Stephan Kaufmann

Journalist

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