Wirtschaft
anders denken.

Migration: Kein »Plan« des Kapitals

29.07.2020
Migration

Offene Grenzen und die Konkurrenz auf Arbeitsmärkten: Anmerkungen zur globalen Ökonomie und zur Solidarität. Ein Beitrag aus dem Schwerpunkt Migration der OXI 07/2020.

In der Debatte über die Folgen von Flucht und Migration für die aufnehmenden Zielländer wird bisweilen darauf hingewiesen, dass Zuwanderung von Arbeitskräften den Interessen des Kapitals bzw. der Unternehmen entspricht. Diese Aussage ist trivial, weil Kapital Arbeitskräfte benötigt. Sie ist aber kein Argument dafür, dass Migration eingeschränkt oder gar verhindert werden sollte.

Auch die gelegentlich vertretene Behauptung, die Migration werde von Kapital und Politik geplant, beruht auf der Fehlannahme, dass der potenzielle Nutzen der Zuwanderung von allen Akteuren intendiert sei. Dahinter steht die neoklassische Konstruktion der Akteure als nutzenmaximierende Individuen auf der Basis von vollständiger Information.

Flucht und Migration gehen in der Regel zunächst von den Flüchtlingen und Migranten und den hinter ihren Handlungen stehenden verschiedenen Migrationsursachen aus, die zu Vertreibung, Flucht und Migration führen oder zwingen.

Dass verschiedene Fraktionen der Unternehmen Zuwanderung politisch und ideologisch unterstützen, weil sie bei gegebener Qualifikation billigere Arbeitskräfte suchen, ist evident. Trotzdem entspringt die Migration nicht einem strategischen »Plan« des Kapitals.

Kapitalisten entscheiden nach einzelwirtschaftlichen Motiven, aber sie werden bei ihren Entscheidungen auch von politischen Einstellungen und Wertorientierungen geprägt, die man überwiegend als weltoffen bezeichnen kann. Aufseiten der Linken heißen diese Wertorientierungen dann internationalistisch oder es wird von einem sozialistischen Internationalismus gesprochen.

Vor dem Kapitalismus und der Herstellung des Weltmarkts waren Flucht, Vertreibung und Zuwanderung Folgen politischer und religiöser Unterdrückung beziehungsweise von Hungersnöten. Erst mit dem Kolonialismus begannen eine systematische Erschließung der Weltwirtschaft und die gewaltsame Unterwerfung von zusätzlichen Arbeitskräften durch den Sklavenhandel. Das waren gewaltsame Formen von Arbeitskräftemigration durch europäische und arabische Gesellschaften. Auch heute noch sind häufig Elend und ethnische, religiöse oder politische Verfolgung Flucht- oder Migrationsursachen.

Die historische Entwicklung und Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse hat die Armutsmigration deutlich verstärkt. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert vollzieht sich die »Expropriation des Landvolks von seinem Grund und Boden«, also die von Marx analysierte Trennung und Enteignung der Kleinbauern von ihren Produktionsmitteln. Diese »ursprüngliche Akkumulation« führt zu einer gewaltigen Migration in die Städte, in denen bereits kapitalistisch produziert wird.

Mit der Erschließung des Weltmarkts für die kapitalistische Produktionsweise wächst die Arbeitskräftemigration durch Zuwanderung formal freier Menschen und einen weiter anhaltenden Sklavenhandel. Zugleich kommt es zu großen Migrationsprozessen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften, durch die schrittweise Erosion landwirtschaftlicher und nichtkapitalistischer Produktionsweisen. Die Durchsetzung des »doppelt freien Lohnarbeiters« (Marx) markiert die ökonomischen wie rechtlichen Voraussetzungen für die Ausweitung und Internationalisierung der kapitalistischen Gesellschaften. Die Mobilität von Arbeitskräften ist eine notwendige »Bewegungsform« des Verhältnisses und des Gegensatzes von Kapital und Arbeit.

Fakt ist, dass dadurch die bereits bestehende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verstärkt wird. Erst mit dem Aufbau nationaler Systeme der sozialen Sicherung und dem Beginn der Regulierung von Arbeitsmärkten (in Deutschland zu Beginn der 1880er Jahre) stellt sich die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland als nationales politisches Problem – und zwar als Suche nach dem Geltungsbereich nationaler Systeme der sozialen Sicherung, die später zu verschiedenen nationalen Varianten des Sozialstaates ausgebaut werden.

Die Vorstellung, der Nationalstaat könnte die einheimischen Arbeitskräfte vor der Zuwanderung innerhalb eines prinzipiell grenzenlosen internationalen kapitalistischen Systems schützen, ist naiv. Der gleiche Nationalstaat ist bemüht, die Verwertungschancen des nationalen Kapitals durch das Überwinden von nationalen Handelsschranken, also durch Freihandelsabkommen, zu verbessern. Bereits im Zeitalter des Merkantilismus, also im 18. Jahrhundert, wurde versucht, den Export nationaler Unternehmen zu unterstützen.

Das zeigt die Ambivalenz der Migration: Exportgetriebene Gesellschaften schaffen und verstärken Migrationsprozesse, weil sie Arbeitslosigkeit »exportieren« und dadurch Deindustrialisierung in den importierenden Ländern verstärken. Die relative Beschäftigungssicherheit der Kernbelegschaften der deutschen Exportindustrie basiert auch auf der Unsicherheit der Beschäftigten in anderen Regionen Europas und der Welt. Die relativ niedrigen Löhne in Deutschland führen zu Druck auf den Binnenmarkt und dort wiederum auf die niedrigen Dienstleistungslöhne, weil die effektive Nachfrage gering ist.

Allerdings hängt der starke Lohndruck auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Wesentlichen von anderen Faktoren ab als von der Zuwanderung von Arbeitskräften, nämlich von der politisch gewollten Schwächung der Schutzfunktion des Arbeitsrechts und der rechtlichen Deregulierung der Arbeitsmärkte.

Andererseits wird von Teilen der Beschäftigten – die an den ökonomischen Erfolgen des deutschen Handelsmerkantilismus partizipieren – erwartet, dass der Nationalstaat die durch die Deindustrialisierung ausgelöste Migration verhindert, um die einheimischen Arbeitskräfte vor den nationalen Folgen einer verfehlten Exportorientierung oder Beggar-thy-Neighbour-Politik zu schützen. Doch das deutsche Modell eines Handelsmerkantilismus kann nur mit offenen Grenzen für Waren und Arbeitskräfte funktionieren. Dass sich daraus politische und ökonomische Verpflichtungen zu einer sozial geordneten Zuwanderung ergeben, wird von der herrschenden Politik allerdings weitgehend ignoriert.

Entgegen der These eines internationalen, quasi einheitlichen Kapitalismus haben wir noch eine nationale Wertschöpfung. Sie findet in den durch Nationalstaaten definierten Räumen statt, ist aber in die Weltwirtschaft durch weitgehend freien, politisch nicht oder nur wenig regulierten Handel und internationale Wertschöpfungsketten eingebunden.

Vorstellungen, die inneren Arbeitsmärkte quasi zu umzäunen, greifen in einer internationalen Ökonomie systematisch zu kurz. Migration kann auch nicht als wichtige Ursache des Lohndrucks, der Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Dekommodifizierung der Arbeitskräfte gesehen werden. Sie spielt bei der Entwicklung auf den verschiedenen Teilarbeitsmärkten auch unterschiedliche Rollen.

Empirische Untersuchungen über die Wirkungen der Arbeitsmigration auf die Segmente des Arbeitsmarktes zeigen, dass diese auf den Teilarbeitsmärkten für wenig qualifizierte Arbeitskräfte (bei den unteren zwei Einkommensdezilen) wirken und dort zusätzlichen Lohndruck und Verdrängung in die Arbeitslosigkeit erzeugen, auch wenn diese Effekte relativ gering sind. Sie sind umso geringer, je stärker der Arbeitsmarkt reguliert ist. Beispielhaft kann das in einem Schwerpunkt der Zeitschrift »Wirtschaftsdienst« aus dem Jahr 2014 zur Frage der Arbeitsmarktintegration von Migranten sowie in einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu den Chancen von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt nachgelesen werden.

Die Akzeptanz offener Grenzen ist daher auf Voraussetzungen wie eine politische Regulierung der Arbeitsmärkte angewiesen, damit es nicht zu einem Unterlaufen der vereinbarten Normen des Arbeitsrechts und der Tarifverträge kommen kann.

Dass es den deutschen Gewerkschaften ab 2012 wieder gelungen ist, auf den Weg einer produktivitätsorientierten Tarifpolitik zurückzufinden, zum Teil sogar den Verteilungsspielraum der Summe von Produktivität und Inflation zu überschreiten, zeigt, dass es trotz zunehmender Arbeitskräftemigration zu einem Kurswechsel in der Tarifpolitik gekommen ist, der die Lohnzurückhaltung vor der Krise 2008/09 überwunden hat.

Das zeigt auch, dass die richtige Strategie auf einen höheren gesetzlichen Mindestlohn und die Aufhebung beziehungsweise Einschränkung der verschiedenen Formen von prekärer Arbeit setzen sollte. Im Prinzip gilt die Notwendigkeit einer stärkeren politischen Regulierung auch für die Wohnungsmärkte und für den Bau neuer Wohnungen.

Es ist ein Trugschluss, anzunehmen, dass Vertreibung und Migration nur dem Kapital nützen. Zum einen ist wegen der demografischen Entwicklung alternder Gesellschaften die Zuwanderung notwendig. Zum anderen geht es aus einer linken Perspektive auch um die Entwicklung von Solidarität gegenüber Menschen, die zu Flucht und Migration gezwungen werden, nicht zuletzt durch die deutsche Außenwirtschaftspolitik eines rücksichtslosen Merkantilismus auf Kosten anderer Gesellschaften.

Für sich internationalisierende Gesellschaften kommt es auf Werteorientierungen an, die eine kulturelle Bereicherung durch Zuwanderung erkennen und die Gesellschaften vielfältiger und damit lebenswerter machen. Empathie für die Schwachen und gegenseitige Solidarität halten Gesellschaften nicht nur zusammen, sondern machen sie menschlicher.

Der Text erschien im April 2020 auch in der »Maldekstra International 2020«-Ausgabe »Globale Solidarität«, herausgegeben von der common Verlagsgenossenschaft e.G. in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Geschrieben von:

Michael Wendl
Michael Wendl

Mitherausgeber von »Sozialismus«

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