Wirtschaft
anders denken.

Mehr als nur mehr Geld

25.07.2022

Bisher konnte der Mindestlohn das Phänomen Armut trotz Erwerbsarbeit noch nicht deutlich reduzieren. 

Im Januar dieses Jahres schaute Deutschland auf sieben Jahre gesetzlichen Mindestlohn zurück. Er trat nach endlosen und kontroversen Debatten am 1. Januar 2015 in Kraft. Die damals festgelegten 8,50 Euro pro Stunde galten damit als Lohnuntergrenze. Mehr ging und geht immer. Denn der Lohn – spürbar für alle Erwerbstätigen am Monatsende im Portemonnaie – ist eine nicht unerhebliche Form von Wertschätzung geleisteter Arbeit. Die kann so oder so ausfallen: Beschämend niedrig oder respektabel und existenzsichernd.

Die gesetzliche Einigung auf den Mindestlohn fiel allerdings nicht vom Himmel. Sie war eine parlamentarische und politisch längst überfällige Reaktion auf den marktwirtschaftlichen Wildwuchs. Denn mit den 2000er Jahren erodierte zunehmend das Tarifvertragssystem. Immer mehr Branchen und Regionen stiegen aus der Tarifbindung aus. Dazu breitete sich rasant die Beschäftigung im Niedriglohnsektor aus, ebenso die durch Leiharbeit. Arbeitnehmer:innen sollten, so liest es sich in der Gesetzesbegründung, durch eine »gesetzliche Lohnuntergrenze« vor »unangemessenen, nicht existenzsichernden« Löhnen geschützt werden. Auch ein ethisches Prinzip kam zum Tragen. Es galt, solche Arbeitsentgelte zu verhindern, die den »elementaren Gerechtigkeitsanforderungen« widersprechen. Die damalige Bundesregierung rechtfertigte ihre erste Mindestlohnentscheidung unter anderem auch damit, dass es mit diesen 8,50 Euro bei einer Vollzeitstelle immerhin möglich sei, »bei durchschnittlicher Wochenarbeitszeit ein Monatseinkommen oberhalb der Pfändungsfreigrenze zu erzielen«.

Aber es gab neben dem Anliegen, Arbeitnehmer:innen durch diese Lohnuntergrenze etwas fairer an der Wertschöpfung der Unternehmen zu beteiligen, auch ganz handfeste staatliche Interessen. Denn mit dem Lohnunterbietungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt gerieten auch die sozialen Sicherungssysteme ins Wanken. Wer seine Betriebsangehörigen untertariflich entlohnt, baut darauf, dass der Staat schon irgendwie einspringen wird. Macht er ja auch. Mit Aufstocken der kleinen Löhne, später mit Zuschüssen bei den schmalen Renten. Das jedoch sind Ersatzzahlungen, die aus dem Steuersäckel fließen. Somit haften wir alle für die von den Unternehmen zuvor eingesparten Lohnkosten. Ungerecht ist das allemal, sittenwidrig auch.

Im europäischen Vergleich führte die Bundesrepublik den Mindestlohn relativ spät ein. Mittlerweile existiert er in 21 von 27 Mitgliedsstaaten. Die skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Schweden und Österreich schlossen tarifvertragliche Mindestlöhne ab, die einer ähnlichen Abdeckung entsprechen. Offen und offiziell wird auch nicht mehr am Sinn des Mindestlohns gerüttelt. Die deutsche Mindestlohnkommission ist aufgefordert, bei ihrer Entscheidungsfindung über die jeweilige Höhe eine Art »Gesamtabwägung« im Blick zu haben. Der Mindestlohn darf die »Beschäftigung nicht gefährden«. Das tat er bislang auch nicht. Die vorher viel beschriebenen Szenarien vom wirtschaftlichen Untergang trafen nicht ein. Auch nicht der prophezeite katastrophale Anstieg der Arbeitslosigkeit. Vom Mindestlohn profitiert haben vor allem Beschäftigte im unteren Lohnsegment. Deren Stundenlöhne stiegen deutlich. Da Niedriglöhne auffällig oft im Dienstleistungsbereich zu finden sind, dort wiederum besonders viele Frauen arbeiten, trug die Einführung des Mindestlohns auch dazu bei, den Gender Pay Gap zu reduzieren.

Und doch, eins konnte er bislang nicht: Das Phänomen Armut trotz Erwerbsarbeit wirklich lindern oder deutlich reduzieren. Weder für Beschäftigte, noch für die Menschen, die mit Mindestlöhnen oder darunter in den Ruhestand gegangen sind. Eine Anfrage an die Bundesregierung des linken Abgeordneten Sören Pellmann ergab, dass Menschen, die 45 Jahre lang in Vollzeit gearbeitet und ein jährliches Einkommen von 23.800 Euro haben, keine Nettorente oberhalb der Grundsicherung beziehen. Ende 2020 betraf das hierzulande über 2,5 Millionen Rentner:innen. Laut Auskunft des Bundesarbeitsministeriums lag die Höhe der Grundsicherung (ebenfalls Stand Jahresende 2020) im bundesweiten Durchschnitt bei 833 Euro brutto monatlich. Im Osten fällt die Summe noch niedriger aus. In Brandenburg liegt sie durchschnittlich bei 784 Euro, in Mecklenburg-Vorpommern bei 772 Euro, in Sachsen bei 747 Euro.

Solche bescheidenen Renten gründen in der Regel auf zuvor bescheidene Verdienste. Und obwohl gesetzlich verankert, versuchen etliche Branchen den Mindestlohn mit Tricks immer wieder zu umgehen. Die industrialisierte Schlacht- und Fleischindustrie steht beispiellos dafür, auch der Logistik- oder Reinigungsbereich. Im Juni 2022 gab es eine Großrazzia bei einer Gebäudereinigungs- und Dienstleistungsfirma mit Hauptsitz in Magdeburg. Das Firmengeflecht erstreckte sich über insgesamt zwölf Bundesländer. Der Verdacht: Verstoß gegen das Mindestlohngesetz und nicht gezahlte Sozialversicherungsabgaben. Es geht um Summen in Millionenhöhe. Lohndumping und Tarifflucht schaden aber nicht nur dem Einzelnen, sondern auch dem Bund, den Ländern und den Kommunen. Werden Löhne gedrückt, belastet das die Sozialversicherungen in Milliardenhöhe. Laut einer aktuellen Untersuchung des Deutsche Gewerkschaftsbunds sind es jährlich 30 Milliarden Euro. Geld, das für den sozialen Ausgleich und für Investitionen in Bildung und Infrastruktur fehlt. In den neuen Bundesländern sind gerade einmal 43 Prozent der Jobs tarifgebunden, im Westen 53 Prozent. Gäbe es eine flächendeckende Tarifbindung, hätten die Beschäftigten laut DGB-Recherche rund 42 Milliarden Euro mehr im Portemonnaie. Im Jahr 2019, noch vor der Corona-Pandemie, kündigte Ursula von der Leyen eine Initiative für Mindestlöhne an. Mindestlöhne, die allen Beschäftigten in Vollzeit einen angemessenen Lebensstandard garantieren sollen. Das verkündete Ziel lautete, bis 2024 »gerechte Mindestlöhne« in allen Mitgliedsländern einzuführen. In einem ersten Bericht der europäischen Kommission von Januar 2020 heißt es: »Zu den Ländern, in denen der Mindestlohn nicht ausreicht, um eine Armutsgefährdung zu verhindern, gehören Länder mit vergleichsweise niedrigem Mindestlohn in Relation zum Medianlohn (wie Tschechien, Estland, Malta, Deutschland), aber auch Lettland und Luxemburg.«

Eine wenig schmeichelhafte Einschätzung. Inzwischen, mit dem 1. Juli 2022, kletterte der Mindestlohn auf 10,43 Euro pro Stunde. Das war turnusmäßig über die Mindestlohnkommission so verabredet. Neu sind die von der Ampelkoalition beschlossenen 12 Euro Mindestlohn. Ab 1. Oktober 2022 sollen sie gezahlt werden. Das ist der bisher größte Lohnsprung in der Geschichte des Mindestlohns. Wenn alle Branchen ihn einhalten, wäre das nicht nur ein Plus für geschätzte sechs Millionen Beschäftigte, besonders für die Mini- und Teilzeitjobber:innen, sondern stabilisierte auch das soziale Sicherungssystem. Außerdem macht es ökonomisch Sinn. Wer mehr in der eigenen Haushaltskasse hat, kann auch mehr ausgeben.

Geschrieben von:

Gisela Zimmer

Journalistin

Hinweis

Guter Journalismus ist nicht umsonst…

Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.

Zahlungsmethode

Betrag