Wirtschaft
anders denken.

Mit den Schulden vermehren sich die Schuldenbremsen

15.12.2023
Shutterstock/chewhow

In Deutschland läuft der Streit innerhalb und außerhalb der Regierungskoalition um die Schuldenbremse, die der Bundesregierung einen Haushaltsnotstand beschert hat.

Zahlreiche Medien berichten von Häme im Ausland, wo man schadenfroh die Nöte der Bundesregierung mit dem von ihr selbst geschaffenen Mechanismus registriert. Allerdings ist die grundgesetzliche Schuldenregel im Grunde keine speziell deutsche Dummheit. Die gesamte Eurozone hat sich Verschuldungsregeln gegeben, um deren Reform derzeit gerungen wird. Die US-Regierung ist durch eine Schuldenobergrenze gebunden, die periodisch die Schließung von Regierungsstellen nötig macht. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Länder, die sich Fiskalregeln verordnet haben – diese Regeln haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten vervielfacht. Offensichtlich existiert neben dem Bedarf an immer mehr Staatsschulden das politische Bedürfnis, diesen Anstieg der Staatsschuld irgendwie zu verrechtlichen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat nachgezählt:  Mitte der 1980er Jahre gab es weltweit gerade einmal neun Länder, die bei sich eine Fiskalregel oder eine sonstige finanzpolitische Rahmenregelung eingeführt hatten, die dauerhaft numerische Grenzen für breite Haushaltsaggregate festsetzte. In den folgenden drei Jahrzehnten aber explodierte die Zahl der Fiskalregeln, bis zum Jahr 2021 hatten 105 Staaten eine solche eingeführt. Am stärksten verbreitet sind dabei Grenzen für die Gesamtverschuldung in Kombination mit einer Begrenzung der Neuverschuldung, des Haushaltsbudgets – ähnlich wie die Stabilitätskriterien der Eurozone. Derartige rechtliche Arrangements haben laut IWF 70 Prozent der Staaten.

Vorreiter bei der Einführung dieser Schuldenregeln waren die reicheren Industrieländer. Insbesondere ab den späten 2000er Jahren kamen jedoch immer mehr Schwellen- und Entwicklungsländer hinzu. Ziel sei es gewesen, so der IWF, per Schuldenregeln »die Tragfähigkeit der Schulden zu fördern und die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik zu erhöhen«.  Zudem wurden so genannte Fiskalräte gegründet, also unabhängige, nicht parteigebundene Einrichtungen, die die Fiskalpolitik prüften und die Einhaltung der Regeln kontrollieren sollten. »Die Zahl der Finanzräte hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt«, so der IWF. »Viele von ihnen wurden zur Überwachung der neuen Haushaltsregeln oder als Reaktion auf externen Druck nach großen Schocks eingerichtet.« Auch das sollte »die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Haushalte« stärken.

Wie lässt sich dieser Aufwuchs an Schuldenregeln erklären? Bemerkenswert ist, dass er in eine Phase fällt, die als »Neoliberalismus« bezeichnet wird. Zum Neoliberalismus gehört nicht nur das Mantra freier Märkte, inklusive Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung, sondern auch die Idee, dass der Druck der Finanzmärkte die Staaten diszipliniert soll. Der ehemalige Deutsche-Bank-Chef, Rolf E. Breuer, nannte die Finanzmärkte »die fünfte Gewalt«, die über die Drohung mit steigenden Zinsen dafür sorge, dass Regierungen ordentlich haushalten. Die Macht der Märkte in dieser Phase belegt eine Untersuchung der Schweizer Großbank Credit Suisse, die die realen Renditen von Wertpapieren seit dem Jahr 1900 nachzeichnet. Die Untersuchung zeigt: Nie erzielten die Geldgeber mit Staatsschulden höhere Renditen als in der Phase von Anfang der 1980er Jahre bis kurz vor der Coronakrise.

Die Einführung von bindenden Schuldenbegrenzungen lässt sich also interpretieren als Versuch der Politik, den Märkten ein rechtlich abgesichertes Soliditätsversprechen zu geben. Nötig war dieses Versprechen insbesondere deswegen, weil die zunehmende Zahl an Schuldenregeln »nicht verhinderte, dass sich im Laufe der Zeit ein großer und anhaltender Schuldenberg aufgetürmt hat«, so der IWF. Zwischen 1990 und 2019, dem Jahr vor der Coronapandemie, legten die öffentlichen Schulden weltweit von 62 auf 85 Prozent der Wirtschaftsleistung zu. In den Industrieländern war ein Anstieg von 66 auf 105 Prozent zu verzeichnen, bei den Schwellenländern von 41 auf 56 Prozent. Gerade weil die öffentliche Schuld immer stärker anwuchs, wurde versucht, durch rechtliche Garantien die Stabilität der Schuld quasi per Gesetz festzulegen, um so gegenüber den Finanzmärkten an »Glaubwürdigkeit« (IWF) zu gewinnen.

Mehr Schulden, mehr Bremsen

Kurz gesagt: Die Schuldenbremsen haben weniger die Schulden gebremst. Eher führte die Vermehrung der Schulden zu einer Vermehrung der Schuldenbremsen. Da die Schuldenbegrenzungen dabei immer häufiger mit den realen Finanzierungsnotwendigkeiten kollidierten, wurden die Begrenzungen immer stärker aufgeweicht. »Ein wichtiger Trend ist die größere Flexibilität der Regeln, auch durch die Ausweichklauseln«, schreibt der IWF.

Eine Gegenbewegung zur Flexibilisierung wiederum war, dass pro Land immer mehr Schuldenregeln eingeführt wurden. »Die durchschnittliche Anzahl der Fiskalregeln pro Land hat in den letzten zwei Jahrzehnten stetig zugenommen«, so der IWF. »Die Länder haben jetzt im Durchschnitt etwa drei Fiskalregeln, während es Anfang der 2000er Jahre noch etwa zwei waren. Der Anstieg war in Europa stärker ausgeprägt, wo viele Länder neben den supranationalen Vorschriften auch eigene nationale Vorschriften erlassen haben. Die Anwendung mehrerer Regeln kann damit begründet werden, dass sie eine größere Haushaltsdisziplin erreichen sollen.«

Immer mehr Schuldenregeln, die immer häufiger gebrochen und im Anschluss flexibilisiert und dann wieder neu formuliert werden – bis zur nächsten Runde. So macht sich bemerkbar, dass Regierungen die Entwicklungen ihrer Finanzen auf Grund zahlreicher Krisen und Konjunkturschwankungen nur begrenzt kontrollieren können, den Finanzmärkten aber gleichzeitig die Illusion der Kontrolle vermitteln wollen.

Offen bleibt, wie glaubhaft dieses staatliche Versprechen ist. Denn laut IWF haben »mit der Coronapandemie die Staatsschulden ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht«. Bereits über den gesamten Zeitraum von 2004 bis 2021 hinweg hätten die Länder im Durchschnitt ihre Defizit- und Schuldengrenzen in rund 50 Prozent der Fälle überschritten. Im Jahr 2020 dann überschritten fast alle Länder ihre Defizitgrenzen, im Durchschnitt um vier Prozent der Wirtschaftsleistung. Auch die Schuldenabweichungen erreichten ein noch nie dagewesenes Niveau. Der Median der Abweichung erreichte 50 Prozent des BIP in den fortgeschrittenen und 26 Prozent des BIP in den Schwellen- und Entwicklungsländern, was zum Teil auf die hohen Schuldenstände vor der Pandemie zurückzuführen ist. »Die Erfahrung zeigt«, so der IWF, »dass es schwierig sein wird, zu den Schuldengrenzen zurückzukehren.« Als logische Konsequenz steht eine weitere Flexibilisierung der Regeln an. Und damit wäre man wieder bei der Reform von Schuldenbremse und Euro-Stabilitätspakt.

Geschrieben von:

Stephan Kaufmann

Journalist

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