Wirtschaft
anders denken.

»Nur auf den ersten Blick etwas altbacken«

Der Mittelstand ist genauso innovativ wie das Silicon Valley, sagt Friederike Welter.

01.03.2022
Porträt Friederike WelterFoto:
Prof. Dr. Friederike Welter ist Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn und Lehrstuhlinhaberin an der Universität Siegen. Die gefragte Wissenschaftlerin wurde für ihre Forschung über kleine und mittlere Unternehmen bereits mehrfach international ausgezeichnet.

Frau Welter, Sie leiten das Bonner Institut für Mittelstandsforschung. Was sind Ihre Kriterien für die Zugehörigkeit zum Mittelstand?

In einem mittelständischen Unternehmen halten bis zu zwei natürliche Personen oder ihre Familienangehörigen mindestens 50 Prozent der Anteile. Zugleich sind sie in der Geschäftsführung aktiv. Um zum Mittelstand zu gehören, ist also nicht die Mitarbeiterzahl oder der Umsatz entscheidend, sondern die Einheit von Eigentum und Leitung – und damit auch die Unabhängigkeit des Unternehmens. Der Mittelstand positioniert sich zwischen den Großkonzernen und den abhängig Beschäftigten. Es gibt natürlich auch Unternehmen, die dem Mittelstand entwachsen sind, sich ihm aber noch zugehörig fühlen.

Können Sie mir ein paar Zahlen für die Bundesrepublik nennen?

Da die prägenden qualitativen Merkmale des Mittelstands – also die Leitung der Geschäftsführung, die Eigentumsverhältnisse und die wirtschaftliche Unabhängigkeit – nur unzureichend aus den amtlichen Statistiken ablesbar sind, werden die Zahlen zum Mittelstand in der Regel auf der Basis der KMU-Definition der Europäischen Kommission berechnet. Damit fehlt jedoch ein Teil des Mittelstands in Deutschland: die großen Familienunternehmen. Diese zählen auch dazu, wenn sie nicht rein familienkontrolliert sind, sondern nur noch familiengeführt. Aber um ein paar Zahlen zu nennen: In Deutschland zählten im Jahr 2019 rund 3,536 Millionen Unternehmen zu den kleinsten, kleinen und mittleren Unternehmen (KMU, Anm. d. Red.). Hinzu kommen noch rund 3.700 große Familienunternehmen.

Was macht den Mittelstand ökonomisch aus?

Allein die kleinen und mittleren Unternehmen beschäftigen fast 55 Prozent aller abhängigen Erwerbstätigen und mehr als 71 Prozent aller Auszubildenden. Insgesamt tragen die Unternehmen dieser Größen mehr als 60 Prozent der gesamten Netto-Wertschöpfung. Um den ökonomischen Beitrag des Mittelstands umfassend darstellen zu können, müssen aber auch noch jeweils der Beschäftigungs-, Auszubildenden- und Netto-Wertschöpfungsanteil der großen Familienunternehmen hinzugerechnet werden.

Oft wird der Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft bezeichnet.

Stimmt, der Mittelstand ist für Deutschland sehr wichtig, schließlich sind die mittelständischen Unternehmen über ganz Deutschland verteilt und häufig stark in ihren Heimatregionen verankert. Entsprechend fühlen sich viele von ihnen ihrem lokalen Umfeld verbunden. Hinzu kommt, dass sie aufgrund ihrer langfristigen Strategieorientierung verlässlich für ihre Stakeholder – Belegschaft, Lieferanten, Kunden – sind. Insgesamt leisten sie einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, Entwicklung der Regionen und zur Teilhabe der Erwerbstätigen und ihrer Angehörigen.

In einem Working Paper haben Sie den deutschen Mittelstand mit dem Silicon Valley verglichen. Was haben Sie herausgefunden?

Der fokussierte Blick auf die hochtechnologischen Unternehmen und ihre Geschäftsmodelle im Silicon Valley wirkt sich klar zulasten des »Alltags-Unternehmertums« aus. Dieses gibt es aber nicht nur überall auf der Welt, sondern es macht auch den Großteil des Unternehmertums aus.

Der Mittelstand mag auf den ersten Blick etwas altbacken wirken. Was sowohl die mittelständischen Unternehmer:innen als auch die Unternehmen in Kalifornien auszeichnet, sind die Kreativität und die Bereitschaft, Neues zu gestalten, sowie die eigenen Fähigkeiten bestmöglich zu nutzen und den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. In diesem Zusammenhang darf man nicht außer Acht lassen, dass nur jene Unternehmen in Kalifornien weltweit bekannt werden, denen es gelingt, ihre Gründungsidee und ihr Geschäftskonzept erfolgreich umzusetzen. Gleichwohl gibt es auch im Silicon Valley genügend Gründer:innen, denen dies nicht gelingt.

Aber kommen wir zu den Unterschieden: Meist konzentrieren sich die besonders erfolgreichen Unternehmen in Kalifornien auf skalierbare Geschäftsmodelle im Business-to-Consumer-Bereich und auf globale Märkte. Viele erfolgreiche mittelständische Industrieunternehmen in Deutschland produzieren hingegen nur für das Business-to-Business-Geschäft. Daher sind die hochinnovativen Produkte und Technologien beispielsweise der sogenannten Hidden Champions in der breiten Öffentlichkeit meist wenig bekannt.

Und um noch einen weiteren wichtigen Aspekt zu nennen: Aufgrund seiner geschichtlichen Entwicklung – denken Sie beispielsweise an das Zunftwesen –, seiner Langfristorientierung und seiner regionalen Verankerung hat der Mittelstand in Deutschland einen ganz anderen gesellschaftlichen Stellenwert als die Silicon-Valley-Unternehmen für Kalifornien oder die USA.

Hat der Mittelstand Zukunft?

Auf jeden Fall! Er ist keine starre Wirtschaftseinheit. Im Gegenteil: Technologischer Fortschritt, Globalisierung und Veränderungen im Nachfrageverhalten führen permanent zu strukturellen Veränderungen, die wiederum die Zusammensetzung und Merkmale der Unternehmenslandschaft beeinflussen. So beobachten wir seit Jahrzehnten eine Tertiarisierung der Wirtschaft. Im Zuge dieser Entwicklung und mit dem Aufkommen der modernen Kommunikationsmittel haben sich die sogenannten Start-ups entwickelt. Diese zählen übrigens auch zum Mittelstand, da die Gründer:innen meist zugleich die Leitung innehaben.

Die strukturellen Veränderungen lassen sich auch anhand der vergangenen Pandemiemonate beobachten: Während der Krise haben viele Unternehmen ihre Prozesse und Geschäftsmodelle umfassend digitalisiert. Viele stationäre Händler und Gaststätten haben ihr Angebot ins Internet gestellt sowie Bringdienste eingeführt, um angesichts der zeitweisen Lockdowns überleben zu können. Einige dieser Angebote werden auch nach der Pandemie bestehen bleiben – nicht zuletzt, weil sich in den vergangenen Monaten auch das Kaufverhalten hin zu mehr Onlinebestellungen verändert hat.

Wie kann der Mittelstand zu einer »nachhaltigen Zukunft« beitragen?

Eine aktuelle Studie des IfM Bonn belegt, dass die Unternehmen über alle Größenklassen hinweg bereits für die Risiken sensibilisiert sind, die sich aus dem Klimawandel ergeben. So gab mehr als die Hälfte der 900 Unternehmen bei einer Befragung an, dass sie bereits umweltrelevante Innovationen umgesetzt hätten.

Zu einer nachhaltigen Zukunft können mittelständische Unternehmen aber vor allem auch beitragen, wenn sie erkennen, dass Nachhaltigkeit eine Chance für sie ist. Dafür benötigen sie jedoch seitens der Politik eine verbindliche ordnungspolitische Rahmensetzung, innerhalb derer sie innovativ agieren und wettbewerbsfähig bleiben können.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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