Wirtschaft
anders denken.

Neue Facetten, ungelöstes Rätsel: »Mittelweg 36« und der Kapitalismus

11.03.2018
João Abel Mantaaus: Rebell. Jugendzeitung des Kommunistischen Bundes, Heft 9, August 1975

Der Begriff Kapitalismus setzt »eine Denkvorstellung von nichtkapitalistischen Alternativen voraus«, schreibt Jürgen Kocka in »Mittelweg36«. Blick in ein Heft über »Theorien des Kapitalismus«, das uns erinnert, dass man erst begreifen muss, was man dann greifen will – reformistisch, revolutionär oder wie auch immer. Ein Text aus der OXI-Printausgabe Februar 2018.

»Der Kapitalismus hat insbesondere auf die Theoretiker der Linken seit jeher eine geradezu magische Anziehungskraft ausgeübt«, so startet die Zeitschrift »Mittelweg 36« in ihren Schwerpunkt »Theorien des Kapitalismus«. Sie tut dies mit einer Illustration von João Abel Manta – man sieht die echten und die selbst ernannten »Klassiker« von Marx bis Mao wie in einem Hörsaal aufgruppiert, die Apologeten und manche Kritiker, auch einige Köpfe der Weiterentwicklung sitzen da, wie sie ernst, grübelnd, mitschreibend auf den unsichtbaren Lehrer blicken. Man sieht fast ausschließlich Männer.

Was würden Rebellen ohne Kapitalismus machen?

Die Illustration ist einer Ausgabe der Jugendzeitung des Kommunistischen Bundes aus dem Jahr 1975 entnommen, das Blatt hieß »Rebell«. Und in gewisser Weise kann das als ein verbindender Begriff für jene Linke gelten, die die Zeitschrift »Mittelweg 36« da im Kopf hatte bei der Auswahl der Illustration. Anders als beim Schwerpunkt lautet die Überschrift hierzu: »Im Bann des Kapitalismus«. Was eine interessante Frage eröffnet: Was hätten jene, die den Kapitalismus zu überwinden trachteten (Rebellen), eigentlich ohne Kapitalismus gemacht?

Aber es trifft nicht nur die, die politisch gegen den, sondern auch jene, die sich wissenschaftlich am Kapitalismus abarbeiteten. Jürgen Kocka hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass von Anbeginn an »zur Geschichte des Kapitalismus die Geschichte seiner Kritik« gehöre; mithin setze der Begriff Kapitalismus »eine wenn auch noch so vage Denkvorstellung von nichtkapitalistischen Alternativen voraus«.

Um solche geht es in den Texten über die »Theorien des Kapitalismus« weniger, was aber schon deshalb kein Nachteil ist, weil immer noch gilt, dass man erst einmal begreifen muss, was man dann greifen will – reformistisch, revolutionär oder wie auch immer. Zu den Anstrengungen des Begreifens findet man einleitend den schönen Satz: Generationen linker Intellektueller hätten »entgegen ihrer Absicht« das Rätsel des Kapitalismus »dabei jedoch nicht gelöst, sondern ihm vielmehr immer neue Facetten hinzugefügt«.

Das muss kein Nachteil sein, wie das Heft beweist, auch wenn sich die Autoren wohl nicht durchweg als linke Intellektuelle bezeichnen lassen würden. Jürgen Kocka verweist darauf, dass das Substantiv »Kapitalismus« erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geläufig wurde. Marx benutzte es als Substantiv kaum. Mit Werner Sombarts »Modernem Sozialismus« von 1902 machte das Wort dann erst richtig Karriere, als Joseph Schumpeter 1912 seine »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« vorlegte, war er schon hinreichend politisch ausgebeult.

Mit Smith, Marx und Luxemburg, Weber oder Schumpeter

Um Schumpeters »Betonung von ›schöpferischer Zerstörung‹, Kredit, Investition und Zukunftsorientierung als zentralen Merkmalen der kapitalistischen Wirtschaftsweise« geht es Kocka dann vor allem. Wolfgang Knöbl blickt auf »zwei Leerstellen der neueren Kapitalismustheorie« – und wartet mit der Beobachtungen auf, dass, wer heutzutage erwäge, sich in die »Thematik von Mehrwert und Profit einzuarbeiten«, kaum auf Literatur dazu stoße. Knöbl sieht das »mit erheblichen Konsequenzen für eine angemessene Analyse des Kapitalismus« verbunden, gesteht aber ein, nicht zu wissen, wie das unter Marxologen hoch hängende Thema wieder etwas prägnanter in die sozialwissenschaftliche Debatte zurückgeholt werden könnte. Knöbl liefert immerhin eine spannende »wissenschaftshistorische Skizze«, die der Frage nachgeht, »warum eine solche Verdrängung erfolgte«. Thomas Welskopp zeichnet Rosa Luxemburgs Analyse des Akkumulationsprozesses »als eine sehr zeitgebundene Erscheinung« nach und interpretiert sie als gescheiterten Versuch, »ihre zuvor doch eher voluntaristischen Revolutionsvorstellungen… an ökonomische Strukturbedingungen rückzubinden«. Friedrich Wilhelm Graf geht der Frage nach, warum ausgerechnet im deutschsprachigen Raum nach einer religiösen »Genese des Geistes des Kapitalismus« gesucht wurde – etwa bei Max Weber. Und von Friedrich Lenger bekommt man einen Vorabdruck zu lesen, der sich mit Rezeption und Fehlrezeption von Adam Smiths’ »Wohlstand der Nationen« auseinandersetzt.

»Mit nur fünf Beiträgen lässt sich das weite Feld einer Theoriegeschichte des Kapitalismus nicht einmal eingrenzen«, schreiben Graf und Lenger in ihrer Einleitung zu den hier schriftlich gefassten Vorträgen einer Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte. (Die kommende Frühjahrstagung des Arbeitskreises im April steht übrigens unter der Überschrift »Demokratie, Diktatur und Kapitalismus«).

Mit Smith, Marx und Luxemburg, Weber oder Schumpeter geht es freilich um Autoren, die »die Diskussion um den Kapitalismus bis in die Gegenwart prägen und zu seinem Verständnis auch weiterhin vieles beizutragen haben«. Und wenn manche Rätsel in der »Mittelweg 36« weiter ungelöst bleiben, hat man zumindest wieder neue Facetten kennengelernt.

Theorien des Kapitalismus, Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 26. Jahrgang Heft 6 Dezember 2017 / Januar 2018, 9,50 Euro. Die Papierausgabe ist leider vergriffen, als E-Journal für 7,99 Euro ist das empfehlenswerte Heft aber weiterhin erhältlich.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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