Wirtschaft
anders denken.

Per Kraftanstrengung in eine neue Ordnung?

20.04.2022
Auf Schotter liegen Eisenbahn-WeichenFoto: Michael Gaida Die »Mobilisierung« soll die Weichen stellen.

Die russländische Gesellschaft hat schon zwei Mal eine »Mobilisierung« erlebt. Steht der Volkswirtschaft nun die nächste bevor?

Auf den Krieg gegen die Ukraine reagiert der Westen mit einer systematischen Verschärfung des seit Jahren praktizierten Sanktionssystems gegen russische staatliche und private wirtschaftliche Akteure. Zahlreiche westliche Unternehmen haben sich bereits aus dem russischen Markt zurückgezogen, Wertschöpfungs- und Lieferketten sind unterbrochen und Zahlungs- und Logistiksystemen blockiert. Die in die globale Weltwirtschaft hoch integrierte Wirtschaft Russlands zu isolieren, ist bisher nicht gelungen, die Sanktionsmaßnahmen haben die russische Führung aber gezwungen, umfangreiche wirtschafts- und sozialpolitische Weichenstellungen einzuleiten, mit denen das Wirtschaftsleben stabilisiert und an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden soll.

Die konkreten Maßnahmen (siehe auch den Beitrag von Lutz Brangsch) werden in den russländischen Eliten auch öffentlich diskutiert, in der Sache besteht aber offensichtlich eine hohe Interessenkongruenz zwischen der politischen Führung und den oligarchischen Wirtschaftseliten des Landes. Auch unmittelbare Eingriffe der Regierung in wirtschaftliche Prozesse scheinen mehr oder weniger im Einvernehmen abzulaufen. Da die russische Führung immer wieder konstatiert, man gehen von langfristig veränderten Rahmenbedingungen aus, sind die entsprechenden Weichenstellungen nicht nur als akut erforderlich, sondern zugleich als für die zukünftige Entwicklung Russlands vor allem richtungsweisend zu betrachten. Teile von ihnen stehen aber eher für Erfordernisse, die seit Jahren in den politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes immer wieder diskutiert werden, für deren Umsetzung es aber unverändert keine und kurzfristig auch kaum zu schaffende gesellschaftlichen Voraussetzungen gibt. Sie laufen somit Gefahr auch aktuell erneut einfach ins Leere zu laufen. Ein Fazit drängt sich auf: damit bleibt es, was und wie es ist, nur ein »bisschen« anders. Hier einige Beobachtungen oder Kontextualisierungen.

Auf den ersten Blick fällt ins Auge, dass der von der russischen Führung eingeleitete Anpassungsprozess unter das Motto »Mobilisierung« gestellt wurde. Dabei handelt es sich ganz offensichtlich nicht um einen zufällig gewählten Begriff. Die lange russische Geschichte kennt zwei große Modernisierungsphasen, die im Wege sogenannter »Mobilisierungen« umgesetzt wurden und sich im Bewusstsein der russländischen Bevölkerung sowohl mit großen Umbrüchen als auch Errungenschaften verbinden. Als erste Mobilisierung gelten die sogenannten Petrinischen Reformen, mit denen Peter I. angesichts äußerer Bedrohungen einen tiefgreifende Umbau der Gesellschaft anschob. Als zweite Mobilisierung gilt die unter Stalin eingeleitete forcierte Industrialisierung, die es der UdSSR später ermöglichte, sich im Krieg mit Nazideutschland zu behaupten. Für beide Mobilisierungen war kennzeichnend, dass sie der Umsetzung jeweils zeitgenössischer Vorstellungen von moderner Entwicklung dienten, aber ausschließlich zentralistisch eingeleitet und gesteuert wurden. Die Umsetzung der Veränderungen war in beiden Fällen mit einem hohen (opferreichen) Einsatz an materiellen, natürlichen und vor allem menschlichen Ressourcen verbunden, die unter Verwendung von Zwangssystemen mobilisiert (!) und rigoros der Erreichung des jeweiligen Zieles zugeführt wurden. Beide Mobilisierungen führten in der Konsequenz zu einer jeweils grundlegend veränderten Positionierung des Russischen Reiches bzw. der UdSSR in der Weltarena. Peter I. konnte gestützt auf die Reformergebnisse einer Unterwerfung durch Schweden entgehen und machte Russland erstmalig zu einer europäischen Großmacht. Die gleiche Wirkung erzielte letztlich auch Stalin im Ergebnis des Sieges über den Faschismus.

Ein vorerst letztes Mal spielten Mobilisierungserwägungen in den Nuller Jahren eine Rolle, als unter Präsident Medwedew eine Debatte um die zukünftige Entwicklung des Landes stattfand. Es ging um eine Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die im Wege einer Mobilisierung, also quasi durch eine erneute kollektive Kraftanstrengung stattfinden sollte. Den hierbei vorhandenen Volontarismus der damaligen Führung einmal dahingestellt, im Kern ging es um die bekannte Frage der Ablösung des auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (Öl, Gas, Kohle u.a.) basierenden Akkumulationsmodells durch eine Entwicklung, welche auf den neuen Technologien und Innovation fußen sollte. Dieser Übergang wurde in Abgrenzung zur Politik der Jelzin-Ära im Kontext der Frage nach einer national souveränen Entwicklungsperspektive diskutiert und fand eine ebensolche Übersetzung in außenpolitische Konzepte (in einem gewissen Sinne auch mit Entsprechungen z.B. seitens der EU). Ob eine Modernisierung im Wege einer Mobilisierung zeitgemäß und vor allem, ob sie überhaupt zielführend ist, wurde damals stark diskutiert. Teile der Eliten beantworteten diese Fragen klar mit „nein“ und verwiesen in diesem Kontext auf die vielfältigen mit einem solchen Umbruch verbundenen gesellschaftlichen Problemstellungen. Schon damals wurde auf nachteilige demographische Entwicklungen, auf das Fehlen eines Innovation fördernden Ökosystems, auf fehlende Anreizsysteme und eine hierfür erforderliche, aber fehlende gesellschaftliche Atmosphäre, auf die Nichtexistenz einer politischen Vision, wie ein modernes Russland aussehen, wofür es stehen soll, auf die Rolle des Staates und die der Führung des Landes usw. verwiesen. Die praktischen Ergebnisse dieser durchaus scharf geführten Debatten sind bekannt: Entwicklungskonzepte verschwanden in Versenkungen, ein Umbruch wurde nicht durchgesetzt, konnte politisch auch nicht, und das bisherige Entwicklungsmodell konsolidierte sich unter Einbindung westlicher Konzerne.

Die sich aktuell abzeichnenden Weichenstellungen ändern an dieser Grundausrichtung nichts. Das bestehende  Elitebündnis steht erkennbar ebenso nicht zur Disposition. Der Begriff der »Mobilisierung« steht damit eher für eine Verpflichtung betroffener und beteiligter Oligarchengruppen, sich im Gegenzug für ein Festhalten an einer marktwirtschaftlichen Entwicklungsrichtung Russlands, gewissen staatlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen. Inwieweit dies mit einem »temporären Verzicht« auf eigene »Spielräume« einhergeht, wird sich erst in der Praxis zeigen.

Die letztmalig in den Nuller Jahren benannten Voraussetzungen für einen Übergang zu einem anderen Entwicklungsmodell sind unverändert im Inland nicht geschaffen worden. Daran ändern auch einzelne Projekte, wie z.B. das Experimentieren mit Innovationsparks wie dem Zentrum in Skolkowo nichts. Ausgeschlossen ist allerdings nicht, dass es Lösungen für einzelnen Branchen oder dringende Problemstellungen wie z.B. hinsichtlich von zu ersetzender westlicher Software geben wird.

Für einen größeren Umbruch gibt es aktuell ebenso keine äußeren Rahmenbedingungen. Die Eurasische Wirtschaftsunion, an der Stärkung ihrer Integrationsprozesse man aktuell verstärkt arbeitet (siehe die Aktivitäten u.a. mit Belarus) ist gegenwärtig strukturell nicht geeignet eine solche volkswirtschaftlich grundsätzliche Neuausrichtung (quasi kollektiv) zu gestalten. Wie die jüngsten Entwicklungen in Belarus selbst aber auch in Kasachstan verdeutlicht haben, sind die einzelnen Länder wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch in keiner besseren Situation als die Russische Föderation selbst. Auch China, mit dem ein breites und vor allem tiefes System von Beziehungen entwickelt wurde, hat bisher nicht erkennen lassen, an einer solchen Rolle interessiert zu sein. Die Seidenstraßen-Strategie als eine zentrale Politik der Gestaltung von Außenwirtschaftsbeziehungen ist dem Charakter nach eine von Unternehmen vorangetriebene Strategie der Entwicklungskooperation und primär nicht auf volkswirtschaftliche Integrationsprozesse ausgerichtet. Damit werden wir es wohl wirklich in der Konsequenz mit einer Fortführung des aktuellen Entwicklungsmodells Russland zu tun haben, mit einem Unterschied, einer anderen geographischen Ausrichtung vor allem auf asiatische Märkte. Bisher macht man in Russland allerdings die Tür gegenüber den abgewanderten westlichen Partner nicht definitiv zu. Man läßt sich offensichtlich von der Überlegung leiten, die Gesetze des Marktes werden das Handeln westlicher Unternehmen schon wieder bestimmen.

Norbert Hagemann ist Politikwissenschaftler und Senior Research Fellow am WeltTrends Institut für Internationale Politik Potsdam.

Geschrieben von:

Norbert Hagemann

Politikwissenschaftler

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