Wirtschaft
anders denken.

Das Unzuständigkeit-Prinzip

20.03.2021

Warum Entrechtung keine humanitäre Katastrophe in Moria ist, Ausgrenzung auch innen schädlich, und wie die Kanguru-Methode Leben retten kann. Teil 19 des Corona-Tagebuchs.

Gibt es eigentlich schon einen Algorithmus, der die Verlautbarungen und Veröffentlichungen der Woche durchforstet, auf der Suche nach neuen Wortschöpfungen? „Kontaktloser Urlaub“ könnte dann ein Fundstück sein. Mit diesem Begriff bezeichnet Manuela Scheswig im Deutschlandradio-Interview das, was sie und viele andere angesichts vollgestopfter Mallorca-Flieger nun irgendwie ermöglichen wollen, nämlich für diejenigen, die sowieso zusammenleben, „Urlaub im eigenen Land in der Ferienwohnung oder im Ferienhaus“. Eigenes Land meint hier wohlgemerkt das Bundesland, in dem die Urlaubsbedürftigen beheimatet sind. Wenn sich diese Idee durchsetzt, haben Einwohner:innen von Stadtstaaten Pech. Oder, es könnte an den Landesgrenzen von Mecklenburg, Brandenburg und Schleswig-Holstein ein neues Gewerbe erblühen: „Drive Local“. Autos mit verräterischen Fremd-Kennzeichen werden an der Grenze zurückgelassen, und geschäftstüchtige Einheimische bieten einen Transportservice bis zur Ferienimmobilie an. Ob sowas dann „tourismusnahe Dienstleistung“ genannt würde oder Schlepperbande, ist eine rhetorische Frage.

Wahrscheinlich wird sie sowieso nicht nötig werden, weil es, wie sich schon in den Herbstferien gezeigt hat, genügend BesitzerInnen von zweit, dritt,- und anderen Immobilien gibt, die sich den unbeschränkten Zugang zu eben jenen vor Gericht erstreiten werden.

Diese Art der Rechtssicherheit hängt, daran muss von Zeit zu Zeit erinnert werden, keineswegs immer am Besitz. Es gibt, unter anderem in Artikel 18 der europäischen Grundrechtecharta festgeschrieben, ein individuelles Recht auf Asyl. „Aber faktisch sollen Geflüchtete keinen Zugang zu einen vollwertigen Asylverfahren erhalten.“ So bringt es die extrem lesenswerte Studie „Der Moria-Komplex“ auf den Punkt. Veröffentlicht hat sie medico international anlässlich des fünften Jahrestages der Unterzeichnung des „EU-Türkei-Abkommens“, jenes vorläufigen Tiefpunkts einer schon seit beinahe 30 Jahren praktizierten Aushöhlung des Asylrechts. Vorsätzlich und mit Milliarden von Steuergeldern werden außerhalb und mittlerweile auch innerhalb Europas mit Lagern für Geflüchtete rechtsfreie Räume geschaffen, die dann als „humanitäre Katastrophe“ bezeichnet für Schlagzeilen, Spendengelder und teilweise höchst einträgliche Geschäfte sorgen. Die begriffliche Einordnung zwischen Vulkanausbruch und Pandemie lässt nach höheren Mächten klingen, was ganz und gar politisch, also selbstgemacht und überwiegend beabsichtigt ist.

Die medico-Analyse macht erschütternd deutlich, wie mit der Auslagerung zuerst der Migrationskontrollen und dann immer weiterer eigentlich staatlichen Aufgaben – von den Asylanhörungen, über die Unterbringung bis zur medizinischen Versorgung – „Unzuständigkeitsstrukturen“ geschaffen wurden, aus denen es für Geflüchtete kaum ein Entrinnen gibt. Kostspielige wohlgemerkt: „Der finanzielle Aufwand, der betrieben wird um die Lebensbedingungen im Moria-Komplex auf dem denkbar niedrigsten Niveau zu stabilisieren, übersteigt bei Weitem das, was nötig wäre, um allen Geflüchteten auf den Inseln Zugang zu Gesundheit, Bildung und Arbeit in den EU-Mitgliedstaaten zu ermöglichen.“ Wer ganz praktisch gegen dieses Entrechtungssystem vorgehen möchte, auch das legt die Studie nahe, sollte gut überlegen wohin sie oder er spendet. So wie die Dinge liegen, wäre Rechtsberatung für Geflüchtete vordringlich.

Allen die bei „Unzuständigkeitsstrukturen“ aktuell vielleicht eher an Politiker der CDU/CSU denken, an Gutachten der katholischen Kirche, die tägliche Beschulung ihrer Kinder oder auch nur die Unklarheit, wohin irgendeine Reise gehen kann, sei die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown ans Herz gelegt. Sie schreibt in ihrem 2018 erschienenen Buch „Mauern – die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität“: „Mauern, die um politische Gebilde herum errichtet werden, können nicht schützen, ohne Versicherheitlichung zur Lebensform zu machen, können kein äußeres „sie“ definieren ohne ein reaktionäres „wir“ zu produzieren.“

Damit das jetzt hier aber nicht so miesepetrig zu Ende geht – schließlich ist das Wetter ja schon schlimm genug – sei ausdrücklich noch auf zwei positive Meldungen der vergangen Woche hingewiesen: Erstens: Unter Federführung der Uni Greifswald haben Forschende ein Gegenmittel gegen die seltene aber nicht auszuschließende Hirnvenen Thrombose gefunden, die im Zusammenhang mit dem Astraszeneca Impfstoffes beobachtet worden war. Zweitens: Hautkontakt ist für die Gesundheit Neugeborener so wichtig, dass selbst eine Covid-19 Erkrankung Mütter davon nicht abhalten sollte, ganz besonders dann nicht, wenn die Babys untergewichtig oder zu früh zur Welt kamen. Intensiver Hautkontakt mit einem Elternteil und Ernährung ausschließlich mit Muttermilch – auch als Känguruh-Methode bekannt – senken das Risiko von Säuglingssterblichkeit um 40%, von Untertemperatur um 70% und von schweren Infektionskrankheiten um 65%. Auf diese Ergebnisse einer aktuellen Studie hat die WHO auch deshalb in der vergangen Woche hingewiesen, weil genau dieser Körperkontakt im Zuge der Pandemiebekämpfung offenbar immer öfter verhindert wird. Kontaktlose Geburt als fürsorgliche Versicherheitlichung.

Geschrieben von:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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