Stetes Hin- und Herschalten kostet Kraft und überfordert
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Wie schädlich Multitasking ist, hängt unter anderem mit der innerbetrieblichen Lastenverteilung zusammen
Arbeit und Überarbeit sind heute beinahe synonym. Der Tag hat nur 24 Stunden, 16 davon sind wir höchstens wach und tagein, tagaus versuchen wir nach jedem Aufstehen, Arbeit, Haushalt, Hobbys und Beziehungspflege immer wieder in das knappe Zeitbudget hineinzustopfen. Mal klappt es besser, mal schlechter, aber das Gefühl, irgendwas, irgendwo, irgendwie noch hinzukriegen, lässt nie wirklich nach. Im 21. Jahrhundert, das uns Menschen mit schwarzen, klimpernden Multimedia-Rechtecken gesegnet hat, wächst der Zugzwang. Der Umstand, dass wir immer erreichbar sind, bringt auch die Erwartungshaltung unseres Umfelds mit sich, immer und jederzeit zu antworten.
Die schiere Fülle an Dingen, die wir machen müssen, machen können und machen wollen, verleitet Menschen zu dem Versuch, möglichst alles auch noch gleichzeitig zu erledigen. Multitasking ist längst schon kein kecker Anglizismus mehr, der die Überperformance junger Möchtegern-Eliten skizziert, sondern ein normaler Bestandteil unseres alltäglichen Lebens. Beim Putzen einen Podcast hören oder eine Radioshow auf dem Weg zum Dienst oder die dringende Nachricht lesen, auf die man während des Meetings schnell antwortet, sind normale Bestandteile in unser aller Leben.
Aber was passiert, wenn wir versuchen, alles gleichzeitig zu machen? Können wir das überhaupt?
Trotz des modernen Anklangs ist Multitasking eines der älteren Forschungsobjekte der Psychologie. Bereits 1927 etablierte der Psychologe Arthur Jersild den Begriff der »Task-switch«-Kosten. Um die Effizienz der damals neuartigen Fließbandarbeit hervorzuheben, versuchte Jersild nachzuweisen, dass der Aufwand, von einer Aufgabe zur anderen zu wechseln, Arbeitseffizienz senkt.
Dieser Begriff des Task-Switchings und der dazugehörigen Kosten bilden das Fundament der modernen psychologischen Theorie des Multitaskings. Natürlich muss das zentrale Nervensystem am laufenden Band simultan Aufgaben koordinieren – schließlich vergessen wir ja nicht zu atmen, während wir einen Text schreiben.
Wenn wir jedoch versuchen, zwei oder mehrere komplexe Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen, schaltet unser Gehirn zwischen der einen und der anderen Aufgabe hin und her. Insofern besteht in der neurologischen Literatur der Konsens, dass Multitasking als solches – also simultane Ausführung unterschiedlicher Aufgaben zur selben Zeit – gar nicht existiert. Wie die Kosten im Begriff der Task-Switching-Kosten bereits vermuten lassen, kommt diese Fähigkeit nicht ohne Schattenseite aus: Das Hin- und Herschalten kostet das Hirn mehr als das konzentrierte Erfüllen einer einzelnen Aufgabe. Das Resultat? Wir brauchen mehr Zeit zum Erfüllen der einzelnen Aufgaben, wenn wir versuchen, sie gleichzeitig zu erledigen, und werden schneller müde.
Schlimmer noch: Konstantes Multitasking birgt die Gefahr ernsthafter neurologischer Schäden. Ein Team aus Neurologen um Jean-Claude Dreher und Jordan Grafman stellt in einer experimentellen Studie fest, dass mit zunehmenden simultanen Aufgaben nicht nur mehr Fehler im Bearbeiten der einzelnen Aufgaben entstehen. Die Task-Switching-Kosten werden anhand neurologischer Messungen rationalisiert. Die Bearbeitung der Aufgaben passiert in dem Teil des Gehirns, den man den Präfrontalen Kortex, oder auch das Großhirn nennt. Es ist die Schaltzentrale des Gehirns, die dafür verantwortlich ist, komplexe Probleme zu lösen. Die wissenschaftliche Literatur suggeriert, dass langfristiges »Switchen« in hoher Frequenz – was das Multitasking ausmacht – die Kapazitäten des Großhirns abbauen und in Mitleidenschaft ziehen kann.
Diese Schäden können radikale Ausmaße annehmen. Beeinträchtigungen des Präfrontalen Kortex gehen mit vielen psychischen, aber auch physischen Krankheiten einher. Depressionen, Angststörungen und Konzentrationsschwächen gehören hier zu den prominentesten Symptomen. Aber auch verfrühte Demenz und erhöhter Blutdruck können durch die Beschädigung des Großhirns ausgelöst werden.
Sicherlich sollte man vorsichtig mit simplen Diagnosen sein, aber einhergehend mit der Epidemie von Depressionen und Angststörungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeichnet sich doch ein besorgniserregender Trend ab.
Der Anstieg der psychischen Krankheiten bei jüngeren Menschen ist vielen Faktoren zuzuschreiben. Der Planet wird heißer, die politische Landschaft düsterer, der Arbeitsmarkt zunehmend prekärer und die Auswirkungen der Pandemie auf junge Menschen werden Forscher:innen noch langfristig beschäftigen. Es ist also schwierig zu sagen, wie stark der Multitasking-Druck diese Kakofonie an Angst-Treibern vergrößert und verstärkt.
Eltern und Lehrpersonen registrieren jedoch schon länger abnehmende Konzentrationsfähigkeit und Antriebslosigkeit unter den oft vernachlässigten jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft. Soziale Medien sind ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Neben Messenger-Apps, die uns arhythmisch aus der Arbeitsroutine ziehen, wird auch Unterhaltung zunehmend schädlicher. Der Reflex, neumodische Medien-Erscheinungen zu verteufeln und den Untergang der Gesellschaft heraufzubeschwören, ist nichts Neues. Nicht nur das Fernsehen sollte damals zur Verdummung führen, selbst bei der Einführung des Buchs wurde der Untergang an die Wand gemalt. Nichtsdestotrotz sollte man die Neuerscheinung von »Short-Form-Content«, die sich in Gestalt von Tiktoks, Instagram-Reels und Youtube-Shorts zunehmend popularisiert, nicht unkritisch abtun. Neben dem ohnehin schon bekannten negativen Einfluss, den Instagram auf die Psyche junger Menschen hat und sich sogar intern selber eingesteht, gibt es wachsende Sorgen unter Forscher:innen, dass der Konsum von kurzen Clips die Aufmerksamkeitsspanne junger Menschen ernsthaft beeinträchtigt und ähnliche Schäden wie das Task-Switching auslöst.
In China mussten die Hersteller bereits reagieren: Die chinesische Version der App Tiktok, Douyin, enthält eine Version für Kinder unter 14, die längere, lehrreiche und moderierte Inhalte enthält. Der Forschung zufolge scheint also mehr hinter den Sorgen von Eltern und Lehrpersonen zu stecken als mangelnde Medienkompetenz und gute alte deutsche »Fortschrittsangst«.
Die Literatur gibt diesem Phänomen seinen eigenen Namen. Media-Multitasking oder auch MMT (nicht mit der Modern Monetary Theory zu verwechseln) ist jedoch nur eine Facette des modernen Multitaskings. Unter dem Label »Interruption Sciences« haben sich insbesondere im angloamerikanischen Raum Neurolog:innen sowie Organisations-und Kommunikationswissenschaftler:innen des Themas angenommen. Schließlich nimmt insbesondere in der Arbeitswelt das Multitasking zu. Die Art und Weise, in der die Arbeit sich selbst entwickelt, zwingt Arbeitnehmende beinahe schon zum hochfrequentierten Task-Switching. Die Aufgaben, die wir bearbeiten, werden komplexer, vielfältiger und anspruchsvoller. Eine Mail hier, ein Anruf da, Neues erlernen und gleichzeitig dem Tagesgeschäft nachgehen. Oft ist es schier unmöglich, jeden einzelnen Punkt für sich abzuarbeiten. Darin liegt aber auch die Krux der Thematik, die Frage nach der »Schädlichkeit« des Multitaskings hängt auch mit der innerbetrieblichen Lastenverteilung zusammen. Diwas Singh von der Emory University in Atlanta schaute sich hierzu Fehldiagnostiken in Notaufnahmen an. Überraschenderweise kam er zu dem Ergebnis, dass leichtes Multitasking zu den besten Diagnosen führte. Wurde die Menge an Aufgaben zu hoch, gab es jedoch einen Leistungsabfall, der zu schlechteren Diagnosen führte als das gänzliche Verzichten auf Multitasking.
Mit einem Switch zurück ins Media-Multitasking, sieht die Literatur auch hier nicht nur Grund zur Sorge. Der frühe Kontakt von Kindern und jungen Erwachsenen mit Medien, die Multitasking ermöglichen, hat auch einen Lerneffekt. Die erhöhte Aktivität im Großhirn in der wichtigsten Entwicklungsphase gewöhnt sie langsam an die Reizüberflutungen. Das macht sie nicht nur zu besseren Multitasker:innen, es macht sie auch gedankenschneller und zu besseren Problemlöser:innen. Aber oft auch zu hochfunktionalen Depressiven, mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs.
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