Wirtschaft
anders denken.

»Die neoliberale Generation wird schon wieder abgelöst«

Der Soziologe Klaus Dörre erkennt in den heute 30- bis 40-Jährigen eine große Ich-Zentriertheit. Doch wächst eine Jugend nach, die Solidarität und Sozialstaat neu für sich entdeckt. Aus OXI 5/22.

14.05.2022
Foto: Anne Günther, FSU
Klaus Dörre, Jahrgang 1957, ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie in Jena und enger Begleiter der Klimabewegung sowie der Gewerkschaften. Zuletzt erschienen sein Buch »Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution«.

Wer nach der Wende geboren wurde, ist jetzt über 30 Jahre alt. Wie tickt diese Generation, die ausschließlich mit dem Neoliberalismus aufgewachsen ist?

Diese Generation ist hineingewachsen in eine Gesellschaft, in der prekäre Arbeit durch die Agenda 2010 hoffähig gemacht worden war. Sie ist geprägt von der Botschaft: Du bist deines Glückes Schmied! Was aus dir wird, hast du selbst in der Hand.

Ein Freiheitsversprechen?

Ein neoliberales Freiheitsversprechen: Hilf dir selbst – denn nur dann wird dir geholfen. Pack die Ellenbogen aus. Viele von denen können sich gar nicht mehr vorstellen, wie es gewesen ist im regulierten Sozialkapitalismus: Dass die Post mal eine Behörde war. Und vor allem: Dass man sich ausrechnen konnte, wann man im Leben wie und wohin befördert wird.

Diese Generation ist ja teils mit Eltern aufgewachsen, die 1968 für solch ein Freiheitsversprechen gekämpft haben: Eben nicht mehr ein programmiertes Büroleben vor sich zu haben, sondern sich selbst zu verwirklichen. Die neoliberale Generation lebt also das Freiheitsversprechen ihrer Eltern?

Ja, genau. Doch eine politische Generation – ein Begriff, den der Wissenssoziologe Karl Mannheim geprägt hat – ist niemals homogen, sondern sozial ausdifferenziert: nach Klasse, nach Geschlecht, nach politischen Haltungen. Auch unter den 1968ern gab es Rechte, die dann rechte Eltern wurden. Ich bin nicht so ganz zufrieden damit, die Epoche Neoliberalismus zu nennen: Ich bezeichne die Phase nach 1973/1974 lieber als finanzkapitalistische Landnahme. Die Krise von 2007 bis 2009 hat sie erschüttert – die Coronakrise und der Ukraine-Krieg torpedieren sie.

Wir könnten also an ein Ende dieser ökonomischen Phase kommen. Dennoch hat sie tiefe Spuren zwischen den Generationen hinterlassen: Die durchschnittlichen Einkommen der Jüngeren und der Älteren driften seit 1990 immer weiter auseinander. Die Jüngeren verdienen also deutlich weniger als ihre Eltern. Gilt das milieuübergreifend? Sind Kraftfahrerinnen genauso ökonomisch abgestiegen wie Akademiker, gegenüber ihrer Elterngeneration?

Genauso viel nicht. Es gibt bis 2013 eine klare Zunahme sozialer Ungleichheit, von der die untere Hälfte der Einkommensbezieher besonders betroffen ist. Der Abstand zu sozial besser gestellten Milieus ist für die untere Hälfte auch danach immer größer geworden.

Aber Akademikerinnen verdienen auch weniger als ihre Vorgängerinnen?

Ja, mehr als die Hälfte eines Jahrgangs geht heutzutage nach dem Studium durch sehr prekäre Anstellungen. Aber: Die meisten sind bereits nach ein, zwei Jahren schon in besseren Verhältnissen. Und wir können sehen, dass sich der Arbeitsmarkt insgesamt gegenüber der Ausgangssituation der neoliberalen Generation dramatisch verbessert.

Die Generation stieg also in sehr prekären Verhältnissen in den Arbeitsmarkt ein, aber erlebt eine Erleichterung?

Ja. Die in den 1990er Jahren Aufgewachsenen hatten mit den Babyboomern gemein, dass sie immer als »zu viele« erschienen: zu viele Bewerber auf viel zu wenige Jobs. Das ist heute anders. Trotz nach wie vor vorhandener Prekarität ist der Arbeitsmarkt vor allem durch Fach- und Arbeitskräftemangel geprägt. Vom Pflegesektor bis zur Zuliefererindustrie wird nach Arbeitskräften gesucht. Selbst die Batteriefabrik in Thüringen findet keine Leute. Das bedeutet für viele Fachkräfte, dass sie höchstwahrscheinlich etwas finden werden.

Dann war die prekarisierte neoliberale Generation eine Art Zwischen-Generation, die schon wieder abgelöst wird?

Ja, das ist ein guter Begriff, eine Zwischengeneration. Aber ohnehin ist es nicht so, dass politische Generationen sich in scharfen Brüchen auseinanderentwickeln. Pierre Bourdieu spricht von Hysterese: Die Verinnerlichung von generationenerzeugenden äußeren Bedingungen wirkt auch dann weiter, wenn die Erzeugungsbedingungen nicht mehr gegeben sind.

Etwa das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus?

Genau. Ein Beispiel: Ihre Generation – also um die 40 Jahre alt – hat gerne aus feministischer Perspektive argumentiert, dass in der Prekarisierung der Arbeitswelt auch etwas Befreiendes stecke. Die Kritik an der Lohnarbeit etwa, das Lob der selbstbestimmten Projektarbeit. Dieses Freiheitsversprechen wirkt fort, und trotzdem kämpfen junge Menschen im akademischen Bereich mit Zähnen und Klauen um unbefristete Verträge!

Wie wirkt der Neoliberalismus fort?

Diese Generation argumentiert sehr ich-zentriert. Ich halte Hartmut Rosas Begriff der Selbstwirksamkeit hier für sehr passend. Man will nicht Objekt von Verhältnissen sein, sondern Subjekt. Man will immer gleich sehen, dass man selbst vorkommt.

Sie beschreiben das jetzt sehr negativ, aber wenn man nie erlebt hat, dass einen ein kollektives Netz auffängt – dann ist man ja gezwungen, zuzusehen, dass man vorkommt!

Ja, ich meine das auch nicht nur negativ. In meiner politischen Generation waren wir alle politisch organisiert, da hieß es: Man stellt das Ich zurück, im Dienste der Sache – oder »der Organisation«. Das war natürlich auch problematisch, ich erinnere nur an die K-Gruppen, und wie sie ihre Leute behandelt haben. Es steckt also sehr wohl etwas Befreiendes in der Haltung der neoliberalen Generation.

Zumal die Ich-Zentriertheit ja auch viel von Gruppen kommt, die tatsächlich lange nicht gesehen wurden: von Migrant:innen etwa. Diese Leute fordern die Gesellschaft dazu auf, ihre Perspektive zu sehen und ernst zu nehmen.

Klar, diese intersektionale Perspektive auf Gesellschaft ist eine Errungenschaft! Das ist die positive Seite.

Und die Kehrseite?

Besteht darin – das sprach ich vorhin an –, dass man sich nicht mehr vorstellen kann, Dinge zu tun, ohne dass sie einem unmittelbar nützen. Das ist natürlich eine sehr pauschalisierende Aussage.

Die nicht immer zutrifft, wie man in der breiten Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine sehen kann.

Genau, pauschalisierende Aussagen über Generationen stimmen ja nie für alle und immer. Aber es ist eine Grunderfahrung der im Neoliberalismus aufgewachsenen Generation, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass einen die Mitmenschen unterstützen, ohne dass diese selbst einen Nutzen davon haben. In meiner politischen Generation haben wir diese Grunderfahrung praktizierter Solidarität durchaus gemacht!

Muss man Solidarität erfahren, um sie selbst zu geben?

Vielleicht. Aber auch in der neoliberalen Generation blitzt diese Erfahrung immer mal wieder auf, bei den Streiks der IG Metall für die 28-Stunden-Woche etwa, wo große Solidarität mit den Leiharbeitern und der Forderung nach ihrer Übernahme entstand. Oder auch bei den Fridays for Future, die ich in Leipzig erlebt habe, da entstand eine kollektive Stimmung wie in den 1970er Jahren! Hier erleben wir möglicherweise schon eine Generation, die nicht mehr so neoliberal geprägt ist.

Sie sprechen von Leipzig. Wie ist die neoliberale Generation im Osten denn aufgewachsen?

Diese Generation wuchs mit dem Erlebnis der Zertrümmerung des Weltbildes ihrer Eltern auf. Aber dort gibt es auch diese Zwischengeneration, die nach der Wende die zwei Jahre der Anarchie erlebte: Alles schien möglich! Freie Radios sind entstanden, kreative Orte …

Klingt fast nach dem neoliberalen Versprechen der Freiheit: Sei deines Glückes Schmied!

Wobei diese Leute nicht neoliberal orientiert waren, sondern meist der Minderheit angehörten, die einen dritten Weg gesucht hat, jenseits des Westkapitalismus und der DDR. Aber es stimmt, was das Freiheitsverständnis angeht, gibt es eine Gemeinsamkeit: Freiheit wird negativ definiert, als Abwesenheit von Zwang.

Sie sprechen jetzt über die, die die Wende jung miterlebt haben. Wie aber erging es der politischen Generation im Osten, die erst nach der Wende aufwuchs?

Ihre Jugendkultur war extrem polarisiert – und zwar vorpolitisch polarisiert. Man war links, oder man war rechts, aber ohne dass man das groß begründen konnte, das teilte sich eher subkulturell unter Gruppen von Altersgleichen auf. In der extremen Rechten entwickelte sich eine unglaubliche Gewaltbereitschaft. In diese Gesellschaft wurden die nach 1990 Geborenen hineinsozialisiert.

Wie erlebt diese Generation ihr Ost-Sein?

Sie erlebte vor allem eine Peripherisierung des Ostens: Alles ist ein bisschen schlechter als im Westen, die Löhne, die Arbeitsbedingungen. Aber diese Erfahrung ist klar sozial gespalten: Bei den betriebsaktiven jungen Arbeitern ist die AfD die stärkste Partei, unter akademisch Gebildeten sieht es ganz anders aus – hier spielt die Ost-West-Differenzierung kaum mehr eine Rolle.

Laut Studien ist die Einkommensungleichheit zwischen den Generationen im Osten recht groß. Ich hätte eigentlich erwartet, dass die Jungen gegenüber ihrer Elterngeneration besser aufgestellt sind …

Ein Grund könnte hier sein, dass die heute ältere Generation im Osten teils noch Besitzstände verteidigen konnte. Was wir außerdem beobachten: Die Generation nach der Wende entwickelt andere Ansprüche. Sie kämpfen nicht mehr um den Betrieb, agieren nach dem Motto: Wenn der Betrieb pleitegeht, gehe ich eben ins nächste seelenlose Arbeitshaus. Sie wollen jetzt mehr Geld und ein gutes Leben, nicht in der Zukunft. Wenn ihnen eine Gewerkschaft dafür hilft, treten sie ein; wenn nicht, treten sie wieder aus.

Werden die Eltern wütend über so viel Individualismus? Gibt es da Generationenkonflikte?

Den Eindruck habe ich nicht, im Gegenteil: Familie wird im Osten sehr hoch gewichtet. Die Vorstellung vom »guten Leben« im Arbeitermilieu besteht aus einem Häuschen, einem Auto, einem gesicherten Einkommen – und einem Sonntag, an dem man sich als Familie trifft. In der Lausitz fühlen sich die Leute teils als Migrantenfamilien, weil ihre Kinder zum Arbeiten weggezogen sind. Familie wird eher als Refugium wahrgenommen, das sich dem neoliberalen Geist widersetzt hat.

Sie sprachen vorhin von einem möglichen Ende der neoliberalen Epoche. Wie wird die Generation aufwachsen, die auf die neoliberale Zwischengeneration folgt?

Was jetzt kommt, ist eine Form von staatsinterventionistischem Kapitalismus, der ganz andere Erfahrungen ermöglichen wird. Wie verhalten sich Leute, die eigentlich ein negatives Freiheitskonzept entwickelt haben, zur Rückkehr des Staates? Das Befreiende an der Prekarität, das die Zwischengeneration teils noch vertrat, scheint unter ihnen nicht mehr verteidigt zu werden.

Gut so? Ist das eine Befreiung vom neoliberalen Zeitgeist?

Ich finde es gut, dass junge Leute wieder mehr auf soziale Sicherheit setzen. Und in dieser neuen Generation mehr Solidarität zu spüren ist.

Das Interview führte:

Elsa Koester

Journalistin

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