Nicht ohne eine Reform des Systems
Die Zeitschrift »Sozialismus« startet mit einem Schwerpunkt zur Überwindung des Hartz-Systems ins neue Jahr. Über die Schwierigkeiten einer Sozialstaatsreform, ausgelagerte Widersprüche und den Umbau des »gemeinsamen Hauses«.
Zu den Eigenarten der technisch beschleunigten Aufmerksamkeitsökonomie gehört es, dass selbst wichtige Themen meist nur kurz eine größere Rolle in der Öffentlichkeit spielen – und dann vom nächsten »Aufreger« abgelöst werden. Wer erinnert sich noch daran, dass SPD und Grüne eine – lange Zeit vehement von links eingeforderte – Diskussion über Korrekturen am Hartz-System begonnen, ja: mit Vorschlägen zu einer großen Sozialstaatsreform antraten?
Die Januar-Ausgabe der Zeitschrift »Sozialismus« nimmt sich die bisher kursierenden Forderungen noch einmal sehr ausführlich vor. Der Sozialstaatsforscher Christoph Butterwegge, sieht in den Vorschlägen der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles »bei genauerem Hinsehen« lediglich Forderungen zur »Schaffung eines Sozialen Arbeitsmarktes, einer eigenständigen Kindergrundsicherung und eines Rechtsanspruchs auf berufliche Weiterbildung« sowie das Ziel, »großzügigere Regelungen beim Schonvermögen« zu etablieren, »Beihilfen für einmalige Anschaffungen« wieder einzuführen sowie die »das Existenzminimum infrage stellende(n) Sanktionen« zu beschränken.
Für Butterwegge ist das zu wenig, für die Betroffenen wäre es immerhin eine deutliche Entlastung. Aber hier wirkt offenbar der parteipolitische Stellungskrieg zwischen der Linkspartei und Rot-Grün nach, der beim Thema Sozialpolitik eine hohe Symbolwirkung hat. Butterwegge kritisiert Nahles unter anderem dafür, »für ihr Konzept den von der FDP geprägten Terminus ›Bürgergeld‹ zu benutzten«, was man für wichtig halten kann oder eben auch nicht. Zudem wird bemängelt, dass die Sozialdemokraten »die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe zwar« inzwischen »als den ›Urfehler von Hartz IV‹« ansehen, aber zur Lösung »nur das ›Arbeitslosengeld Q‹ als Leistungsverlängerung im Falle einer beruflichen Weiterbildung oder Umschulung«, eine weniger restriktive Vermögensanrechnung und die Verschonung von Wohneigentum« anböten.
Butterwegge plädiert für eine »soziale Grundsicherung«, die »den Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient, weil sie armutsfest, bedarfsdeckend und repressionsfrei ist«. Dies wären unter Einbeziehung nicht pauschalierter Miet- und Heizkosten »für einen Alleinstehenden 1.000 Euro«.
Materielles Mehr, qualitatives Wie
Was bei Butterwegge als ein auf die Quantität bezogener Ruf nach Umverteilung daherkommt – das linke »materielle Mehr« -, erhält im Text von Joachim Bischoff und Bernhard Müller den Hinweis darauf, dass es nicht zuletzt »das Wie« sozialstaatlicher Absicherung ist, das auf Ablehnung stößt. Hinzu kommt eine politökonomische Ergänzung, denn auch Linke müssen sagen können, wie ihre sozialpolitischen Kataloge erwirtschaftet werden sollen. Hier wird dann meist auf die höhere Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und Profiten verwiesen. Bischoff und Müller gehen weiter: »Man könne mit einiger Berechtigung sagen, dass das bestehende System, das ja eigentlich jeder und jedem das Existenzminimum garantieren soll, äußerst kompliziert und in vielen Fällen erniedrigend ist. Echte Existenzsicherung bedeutet aber auch Veränderung der Produktions- und Verteilungsverhältnisse.«
Ihr Text umreißt sehr ausführlich die ökonomischen Fakten des deutschen Sozialsystems und stellt das dafür gewährte Budget in einen internationalen Kontext. Im europäischen Vergleich stehe die BRD »keineswegs unterdurchschnittlich da«, allerdings sei auch wahr: »Trotz des relativ großen finanziellen Volumens der Sozialleistungen würden sich aber viele Bürger*innen vom Sozialstaat im Stich gelassen fühlen.« Ein Grund dafür: »Die Leistungen sind nicht nur mit einer aufwendigen Kontrolle der ›Bedürftigkeit‹ verknüpft, sondern zugleich in ein Sanktionsregime eingebunden.«
Denkt man dies weiter, kommt die Frage auf, inwieweit in Erfahrung und Bewusstsein der unteren Einkommensbereiche eben nicht nur die Höhe von Transfers oder Lohn eine Rolle spielen, sondern die Überzeugung, dass es eine gesellschaftlich tragfähige, institutionalisierte Sicherung vor Lebensrisiken und Gewährung öffentlicher Leistungen gibt, die allgemein akzeptiert ist und in deren Genuss man auch ohne entwürdigende Entblößung von Lebenslagen kommt. Dann kann es nicht nur um die Höhe von Regelsätzen und die Sanktionsfreiheit gehen, sondern muss die Sicherungsnetze einbetten in eine größere Idee solidarischer Integration.
Umbau des gesamten »gemeinsamen Hauses«
Bischof und Müller schreiben, es seien »eine Reihe von gesellschaftspolitischen Maßnahmen erforderlich, die auf eine Neujustierung des Systems der sozialen Sicherheit hinauslaufen. Dies müsste verbunden sein mit Initiativen zur Umstrukturierung der Verteilungsverhältnisse (Mindestlohn und Rentenniveau) sowie einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Wertschöpfung gegenüber der Konjunktur und Strukturbrüchen«, auch gehörten »umfangreiche staatliche Investitionen in die öffentliche Infrastruktur« dazu.
Dies wäre dann keine »große Sozialstaatsreform« (Nahles) mehr, sondern eine neue Ordnung für das gesamte »gemeinsame Haus«, in dem das Sozialeigentum gegenüber dem Privateigentum Vorrang hat, in dem gesellschaftliche Interessen jenen aus Marktfunktionen entspringenden Interessen übergeordnet sind und so weiter. Es kommen dann auch Fragen der transnationalen Einbettung eines solchen »gemeinsamen Hauses« auf den Tisch, ebenso solche, die die ökologische Dimension der Reichtumsproduktion und generell Fragen der Reproduktion von Gesellschaftlichkeit in den Vordergrund stellen. »Wir brauchen eine Reform des Systems«, so Bischof und Müller. »Diese Aufgabe ist unter den gegenwärtigen Bedingungen der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht zu haben.«
Hier nun liegen ein paar der berühmten roten Spaltungslinien der gesellschaftlichen Linken – unter anderem die, welche das progressive Lager in einen reformorientierten und einen systemoppositionellen teilt. Mitunter werden die darin liegenden durchaus komplizierten Fragen und Widersprüche auf andere »ausgelagert«. Ein Beispiel dafür findet sich ebenfalls in der neuen »Sozialismus«, wo die Linkspartei-Mitarbeiter Marian Krüger und Helge Meves die Umfragehöhenflüge der Grünen zum Anlass nehmen, diesen vorzuwerfen, sie würden nicht systemkritisch oder -transzendierend genug vorgehen.
Wenn Linke sagen, die Grünen springen zu kurz
Das kann man so sehen, und sicher ist es richtig, der Linkspartei anzuempfehlen, »eine strategische Differenz zu den Grünen deutlich machen«. Wenn hierbei aber vor allem angemahnt wird, »den sozialen Preis nicht nur der ökologischen, sondern der gesamten Transformation des Kapitalismus einzufordern« und behauptet wird, »die Grünen werden das nicht tun«, darf man leise zurückfragen, ob denn die Linkspartei diesem Ratschlag schon folgt, oder besser: welcher Teil von ihr und welcher nicht und warum? Schaut man sich zum Beispiel die Regierungsbeteiligungen der Linkspartei an, wird man nicht eben mit dem Kopf auf Beispiele gestoßen, wo der oben genannte »soziale Preis« wirklich eingefordert wird. In der Linkspartei findet ja nicht einmal eine größere Debatte über wirtschaftspolitische Grundlagen einer »gesamten Transformation des Kapitalismus« statt.
In der Linkspartei sieht übrigens die Debatte über Grundfragen sozialstaatlicher Absicherung auch nicht gerade nach Ringelpietz mit anfassen aus. Die Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen ist dafür nur ein Beispiel. Auf der Website von »Sozialismus« hat jetzt Ralf Krämer, der für die wirtschaftspolitische Abteilung von ver.di arbeitet und der in der sich als sozialistisch-gewerkschaftlich verstehenden Strömung der Linkspartei engagiert ist, den Vorschlag des Grünen-Chefs Robert Habeck für ein soziales Garantiesystem auseinander genommen.
Orientierung auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit
Kritik wird an vielem laut, unter anderem am grünen »Vorschlag einer weitgehenden Pauschalierung von Mehrbedarfen und gegebenfalls auch der Koste der Unterkunft. Personen mit tatsächlich hohen Kosten würden benachteiligt, Personen mit tatsächlich geringeren Ausgaben unnötig begünstigt, mit entsprechenden fiskalischen Kosten.« Zu hoch sei auch der Vorschlag eines Schonvermögens von 100.000 Euro pro Person, dies sei »übertrieben großzügig und den meisten Beschäftigten kaum vermittelbar, die mit ihren Steuerzahlungen ja schließlich die Garantiesicherung (mit)finanzieren müssten«.
Und generell: »Politisch erscheint der Vorschlag insgesamt wenig realistisch, vor allem wegen der damit verbundenen Abkehr von der Orientierung auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit und damit der möglichsten Vermeidung von Hilfebedürftigkeit, zum anderen wegen der sehr hohen fiskalischen Mehrkosten.« Krämer pocht auf »ein ergänzendes Konzept zur Gegenfinanzierung und Reform des Einkommensteuertarifs«, sieht aber zugleich erhebliche Probleme einer Umsetzungsperspektive: es fehle an parlamentarischen Mehrheiten. Wie Krüger und Meves stellt auch Krämer heraus, es seien die Grünen, die Rot-Rot-Grün gegenwärtig nicht anstreben würden.
Die Januar-Ausgabe von »Sozialismus« hat 72 Seiten und kostet 7 Euro plus Porto. Bezugsmöglichkeiten und Informationen zum Abo gibt es hier.
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