Nixon in China, Gauck in Erfurt
Nach den Wahlen in Thüringen war viel davon die Rede, ob und wie in dem Bundesland neue politische Modelle des Regierens möglich werden. Drei Monate später klart sich langsam die Sicht: ein kurzer Labor-Bericht zum Stand der rot-rot-grünen Minderheitsregierungen und möglicher Kooperationspunkte mit CDU und FDP.
Zugegeben: Dass ausgerechnet Joachim Gauck zu einer Figur werden musste, die in Thüringen ein paar Mosaiksteine für die Fortsetzung von Rot-Rot-Grün als Minderheitsregierung beiträgt, darauf hätten viele sicher gern verzichtet. Nicht nur, weil der Ex-Bundespräsident vor fünf Jahren zu denen gehörtem, die Zweifel an Bodo Ramelows Eignung herumerzählten, um ihn als Ministerpräsident zu verhindern. Nein, Gauck steht auch für eine politische Denke ziemlich weit rechts, die sich in Offenheitsgesten nach noch weiter rechts gefällt, begleitet vom Singsang der »Freiheit«, die bei Gauck nie sozial oder global gerecht ausbuchstabiert wird.
Aber wir wissen ja auch: Only Nixon could go to China. Übersetzt für Thüringen läge die Rolle von Gauck also darin, dass nur ein früherer Hardliner, ein lautstarker Linken-Fresser und Rot-Rot-Grün-Gegner nun glaubhaft eine Korrektur der CDU-Selbstblockade im Freistaat anstoßen kann: Wie könnte man den Bundesbeschluss von 2018, der auf Ablehnung von »Koalitionen und ähnliche(r) Formen der Zusammenarbeit« mit der Linkspartei pocht, umgehen?
Darum ging es, als in den vergangenen Tagen über eine »Projektregierung« diskutiert wurde: Der frühere Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus hatte den Begriff in die Runde geworfen und Gauck ins Spiel gebracht. Die Diskussion mag auch als Hebel in den noch laufenden Verhandlungen über den Zukunftsvertrag von Rot-Rot-Grün, sozusagen die Basis für eine Fortsetzung der Koalition als Minderheitsregierung, eine Funktion gehabt haben, Ansprüche der kleineren Kooperationspartner Grüne und SPD etwas kleiner zu halten. Dies aber ging nur deshalb, weil unter »Projektregierung« eine rot-schwarze Veranstaltung begriffen wurde.
Man kann nun lange darüber reden, ob die Linkspartei nicht früher deutlicher hätte sagen sollen, dass man ohne Hintergedanken weiter den rot-rot-grünen Minderheitspfad beschreiten will. Jedenfalls ist seit vergangener Woche unter anderem von Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow mehr als klargestellt worden: Wir wollen Rot-Rot-Grün sonst nichts. Der Minderheitskoalition fehlt es aber bekanntermaßen an Stimmen zu gesetzesfähiger Mehrheit, diese können nur von CDU und FDP kommen (AfD-Voten für eigene Anträge will Rot-Rot-Grün um jeden Preis verhindern) – und die Tür für solche Stimmen offenzuhalten, geht man dann eben auch mit Joachim Gauck zum Essen.
Ein Essen und eine mögliche Basis
So geschehen am Sonntagabend, und Bodo Ramelow twitterte: »Joachim Gauck hat heute zu einem offenen Gedankenaustausch über Demokratiefragen eingeladen. Dabei habe ich erläutert, warum ich mit Herrn Mohring über eine Projektorientierte Regierungsarbeit intensiv weiter reden möchte. Es muss um neue Wege und Ideen in der Politik gehen.« Die Deutsche Presse-Agentur hat dann noch einmal nachgefragt, und meldet so den hier entscheidenden Satz: »Basis für eine projektorientierte Regierungsarbeit sei dann dennoch eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung.« Dennoch. Das ist das Wort.
Der »offene Gedankenaustausch über Demokratiefragen« kam trotz allerlei Widerständen vor allem aus der CDU zustande – und zwar rechtzeitig, denn an diesem Montag wollen erstmals erstmals Spitzenpolitiker von Linke, CDU, SPD, Grüne und FDP zu Gesprächen in Erfurt zusammenkommen, um darüber zu reden, wie künftig Mehrheiten im Parlament gefunden werden können. Eine positive Antwort auf diese Frage hat Nixon in China, also Gauck in Erfurt zumindest nicht unwahrscheinlicher gemacht. Ramelow wörtlich: »Dafür haben wir am Freitag erfolgreich die Grundlagen gelegt.« Dass auch die FDP zuletzt signalisiert hatte, zwar keine »institutionalisierte« Zusammenarbeit mit der Linkspartei zu wollen, aber doch auf »echte, ergebnisoffene« Debatten und die Wiederaufwertung des Parlaments als Ort der politischen Konsensfindung setzt, lässt sich als weiterer Mosaikstein verstehen. Dass sich die FDP hier auch für Fragen der Geschäftsordnung im Landtag interessiert, entspricht der besonderen Lage – die komplizierte Mehrheitsfindung in Thüringen verlangt an dieser oder jenen Stelle eben auch neue Regeln.
Offenbar geht es auch bei den Freidemokraten nicht ohne blöde »Argumente«, laut denen die Thüringer Linkspartei »Rand der Gesellschaft« und damit genauso wenig satisfaktionsfähig sei wie die rechtsradikale AfD. Dazu, vor allem zu der inakzeptablen Gleichsetzung solchen »Hufeisen«-Denkens, ist schon alles gesagt. Man wird es immer wieder tun müssen, denn angesichts der Stärke der AfD-Fraktion werden sich CDU und FDP wohl auch künftig darauf einlassen, diese als Hebel in Gesprächen mit Rot-Rot-Grün einzusetzen. Aber es hat auch niemand gesagt, dass das »Labor Thüringen« ein Streichelzoo wird.
CDU-Fraktionschef Mike Mohring hat nach dem Essen mit Gauck und Ramelow erklärt, man habe »über die Herausforderungen in unserem Land gesprochen. Ich fände es richtig, wenn der Ministerpräsident zu Gesprächen über wichtige Projekte einlädt, die für Thüringen wichtig sind«. Da ist wieder der Begriff »Projekte«, und über die könnte etwas mehr gesprochen werden, denn es reicht ja nicht, immerzu nur nach »mehr Inhalt« zu rufen, und dann doch ewig »nur« über die politischen Formen zu diskutieren.
Rot-Rot-Grün hat hier vorgelegt, der bisherige Stand des »Zukunftsvertrages« ist als vage bisweilen mehr gescholten als bloß beschrieben worden – aber wer keine eigene Mehrheit hat, sich als treibende Kraft aber nicht nehmen lassen möchte, wohin die Reise geht und was als »Projekte« gelten könnte, muss beides können: ein Ziel formulieren und zugleich den Weg dahin etwas offen lassen. Der Katalog der bisher aus dem Zukunftsvertrag bekannten Punkte ist gar nicht so kurz, hat typisch landespolitischen Charakter und muss beides können: Kompromisse zwischen den rot-rot-grünen Partnern schmieden und Kompromissmöglichkeiten nach Außen bewahren.
Was steht im »Zukunftsvertrag«?
Rot-Rot-Grün hat sich zum Beispiel auf ein Investitionsprogramm für Kommunen verständigt. Ähnliches hatten die Landtagsfraktionen von CDU und FDP schon im Dezember vorgeschlagen – einem gemeinsamen Gesetzentwurf zufolge sollen im Jahr 2020 zusätzliche Investitionshilfen des Landes für die Kommunen in Höhe von 168 Millionen Euroaus der Rücklage des Landes bereitgestellt werden. Auch die von Rot-Rot-Grün im »Zukunftsvertrag« vereinbarte Verbesserung der Förderung von Handwerksmeistern dürfte bei Schwarz-Gelb auf offene Ohren stoßen. Hier geht es um eine Prämie, die Handwerkern nach bestandener Meisterprüfung gezahlt werden kann, wenn sie einen Betrieb gründen oder übernehmen.
Linkspartei, SPD und Grüne haben sich auch auf Versuche mit einer »Mobilitätsgarantie für den ländlichen Raum« verständigt, die in zwei Thüringer Landkreisen erprobt werden soll – unter anderem mit vergünstigten Tickets, einer politischen Garantie, in Zukunft von jedem Ort aus zu einem Verkehrsknotenpunkt im Land kommen, und einem engeren Takt. Dies ist auf die Situation in vielen ländlichen Regionen ausgerichtet, deren infrastrukturelles »Abgehängtsein« auch von CDU und FDP beklagt wird.
Weitere Punkte aus dem »Zukunftsvertrag« lauten: Schulen und Schulleitungen in Thüringen sollen mehr Eigenständigkeit erhalten, so könnten Schulleiter bei Einstellungen von Referendaren oder neuen Lehrern mitreden dürfen. Die freie Schulen sollen besser gestellt werden, traditionell eine Herzensangelegenheit der Grünen. Die Einführung eines dritten beitragsfreien Kitajahres könnte eine vor allem von der Linkspartei gewünschte Reform weiterbringen, die »Bildung grundsätzlich beitragsfrei gestalten« will. In Thüringen ist bereits das letzte Jahr vor der Einschulung kostenlos, die Abschaffung der Gebühren für das vorletzte Kita-Jahr ist bereits beschlossen.
Rot-Rot-Grün will zudem den Stellenabbau bei der Landespolizei dauerhaft beenden, die Automobilzulieferer im Land beim längst schon laufenden Strukturwandel hin zur Elektromobilität unterstützen. Auch die Thüringer Landwirte sollen auf Hilfe setzen können. Es gibt ein paar demokratiepolitische rot-rot-grüne Forderungen, dazu gehört unter anderem das Absenken das Wahlalters auf 16 Jahre und mehr Bürgerbeteiligung. Hier allerdings könnten verfassungsändernde Mehrheiten nötig sein, also nich mehr Zustimmungsbereitschaft aus den Reihen von CDU und FDP.
Strittig waren zunächst unter anderem das Thema Migrationspolitik und die Frage des Umgangs mit dem Verfassungsschutz – so wie schon vor fünf Jahren unter den Koalitionspartnern. Nun hat offenbar eine Formulierung in den »Zukunftsvertrag« Eingang gefunden, laut der das Landesamt keine »eigene Tätigkeit« in einem Fall mehr entfalten dürfe, wenn für diesen die Polizei oder eine Staatsanwaltschaft zuständig ist. Die »personelle und sachliche Ausstattung« des Verfassungsschutzes solle jeweils der »gegenwärtigen Gefährdungslage angepasst« werden. Im Gegenzug soll erreicht werden, dass die finanzielle Absicherung von zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Projekte, die sich gegen Demokratie- und Menschenfeindlichkeit richten, garantiert und teilweise sogar ausgebaut werden soll.
Ministerpräsident Ramelow beschreibt seine Linie mit den Worten: »Über Projekte zusammen offen reden und neue Wege in der Politik ausloten. So geht Thüringen. Mehr Demokratie und weniger Parteibuch wagen«. Das mag man etwas pathetisch empfinden, und für die jeweiligen Parteien ist es tatsächlich eine Herausforderung, die über bisherige Kompromiss-Modelle wie feste Koalitionen mit ihren Verträgen hinausgeht. Aber es ist auch eine Frage der mangelnden Alternativen. Eine Rechtsregierung unter Einbeziehung der AfD will hoffentlich auch weiterhin niemand außer ein paar von den Medien laut geschriebenen Hinterbänklern. Mögliche Neuwahlen würden das Risiko nur erhöhen. Wer das nicht will, muss »neue Wege in der Politik« gehen.
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