Wirtschaft
anders denken.

Nur mal kurz die Welt retten …

18.08.2022
Ein Mann mit leuchtenden Kopfhörern sitzt vor einem Bildschirm und spielt Computerspiele.Foto: Fredrick TendongMännlich, fett und in einer anderen Welt versunken: Das ist das Klischee über Gamer.

… und danach noch zehn andere. »Zeitfresserspiele« haben seit der Pandemie noch mehr Konjunktur. Aus OXI 8/22.

Langsam senkt sich Dunkelheit über die weite, verlassen daliegende Ebene. Ein paar Bäume und verblühte Pflanzen säumen die grasbewachsene Landschaft, die sich Richtung Osten einem Gebirge annähert, an dessen Fuß sich ein kleiner Wald beinahe furchtsam anschmiegt. Das Heulen von Wölfen ist neben dem unheimlichen Klappern mehrerer Hufe das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht.

Eine Frau flieht barfuß und mit wehendem Haar den Hügel hinab, eine Gruppe Reiter, angeführt von einem in eine schwarze Rüstung gehüllten, Sense schwingenden Hünen, verfolgt sie. In einiger Entfernung ist eine Gestalt in Ritterrüstung auszumachen, die ruhig und anscheinend teilnahmslos auf einem Stein sitzt und die Szene beobachtet. Die deutlich schnelleren Reiter holen auf und haben die Frau beinahe erreicht, als …

Aus vielen tausend Kilometern Entfernung kommt ein Online-Call an: »God damn it, Ben, help me! The Night Lord is still after me!«, sagt eine weibliche Stimme am anderen Ende.

Kurz darauf erhebt sich der Ritter von seinem Stein, zieht einen Pfeil aus seinem Köcher und spannt den Bogen. »No worries I got you!«

Mal ist Ben ein tapferer Ritter, der für das Gute kämpft, an keiner Jungfrau in Not vorbei kann und dem Bettler sein letztes Hemd gibt, mal der diebische Schurke, der nachts um die Häuser schleicht und hinterrücks die reichen Adligen meuchelt. Mal der Barbar, der gegen die Wildnis und andere Widrigkeiten ums Überleben kämpft, mal der goldgierige, weltfremde Zwerg. Mal Mann, mal Frau, mal Tier, mal Fabelwesen – mal einfach nur ein Haufen Pixel. Ben ist Ende zwanzig und Gamer.

Freitagabend hat er ein Date zum Clubben mit Freunden aus Texas, Samstag ein Strategiemeeting mit Nordamerika, München und Québec. Sonntag eine Verabredung mit Südafrika, um Gebäude einzureißen, neu zu planen und eine ganze Stadt aufzubauen. Dienstag trifft er sich mit vier Freunden in Berlin, um gemeinsam auf Schatzsuche zu gehen und fremde Welten zu erkunden. Dazwischen löst er gemeinsam mit den Niederlanden und Spanien rätselhafte Mordfälle und geht in bester Sherlock-Holmes-Manier Hinweisen nach. Und all das, ohne das Land, die Stadt oder auch nur sein Zimmer zu verlassen.

Gamer sind ein Völkchen für sich, mit einer eigenen Sprache, die sie für Außenstehende zwar sofort als Spezies »Gamer« enttarnt, von der diese Außenstehenden aber dennoch zumeist kein Wort verstehen. Vorurteile gegenüber dieser Spezies gibt es zuhauf: Alle Gamer sind fett, ernähren sich nur von Nutellabrot, Chips, Pizza, Bier und Redbull, kennen die Anatomie von Orks, aber nicht die Namen ihrer Nachbarn. Außerdem sind sie aggressive Soziopathen und können Realität nicht mehr von Fiktion unterscheiden – was sie natürlich automatisch zu Amokläufern macht.

Wäre dem so, existierte ein weltweites Netzwerk, das mindestens drei Milliarden potenzielle Amokläufer umfasst, die teils in täglichem, mehrstündigem Kontakt stehen.

Sich global zu vernetzen ist für Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst mit dem Internet immer selbstverständlicher geworden, für Spielerinnen und Spieler auch. Begünstigt wird der Netzwerkcharakter der Spielereignisse auch dadurch, dass viele Multiplayer-Online-Games immer schon im Gang sind. Man braucht sich nur einzuloggen – und muss dann selbst entscheiden aufzuhören, denn das Spiel geht weiter. Anders als bei den meisten Singleplayer- und analogen Spielen, die natürlich beliebig oft wiederholbar, aber nicht auf ausufernde Dauer angelegt sind, haben die sogenannten MMOG (Massively Multiplayer Online Games) eine Tendenz zu Endlosigkeit. Ohne Zweifel ein suchtauslösender Faktor.

Schon bald nach dem Beginn der Corona-Pandemie wurden »Zeitfresserspiele« offensiv angeboten. »Ihr sucht die besten Spiele mit extrem hohen Spielzeiten, die euch nach unzähligen Stunden immer noch in den Bann ziehen? Kein Problem! Passend zum Lockdown stellen wir euch die 5 besten Zeitfresserspiele 2020 aus verschiedenen Genres und für verschiedene Plattformen vor.« Eine Spielzeit von tausend Stunden plus werden für das Sandbox-Spiel »Minecraft« und für das Open-World-Game »Grand Theft Auto V« (GT5) angekündigt: »Für die Hauptgeschichte braucht ihr rund 30 Stunden, die aufgrund der einzigartigen Atmosphäre wie im Flug vergehen. Plant für Nebenquests und sonstige Aktivitäten in Los Santos weitere 60 Stunden ein. Doch selbst danach bleibt GTA 5 ein Open-World-Spiel, das ihr unendlich lange weiterzocken könnt.« Die Spielbezeichnungen »Sandbox« und »Open World« weisen darauf hin, dass die Spielenden besonders viele eigene Gestaltungsmöglichkeiten haben.

Die weltweite Vernetzung von Spieler:innen, die mit der Digitalisierung und Globalisierung des Gaming-Marktes möglich wurde, zieht nicht nur Ben in seinen Bann. Laut dem Newzoo Global Games Market Report wurden im Jahr 2020 weltweit 2,7 Milliarden Gamer:innen gezählt. Andere Quellen berichten von über drei Milliarden – also fast 40 Prozent der Weltbevölkerung. 386 Millionen davon in Europa. In Deutschlandweit spielt mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung Videospiele, fast 48 Prozent sind Frauen, das Durchschnittsalter der Spielenden ist 37,4 Jahre, sagt die Statistik.

Der Begriff des Netzwerks gehört zu den wichtigsten Kategorien, um die gesellschaftliche Entwicklung seit der Jahrtausendwende zu beschreiben. Er trifft auch auf die Spielkultur zu, die sich im Kontext und auf Basis der Digitalisierung herausgebildet hat. Unternehmen und auch Nonprofit-Organisationen weichen ihre traditionellen Strukturen auf, was feste, dauerhafte Mitgliedschaften und streng geordnete Hierarchien betrifft. Sie bewegen sich in die Richtung von mehr Flexibilität und projektförmigen Arbeiten. Das Spielen hingegen entwickelt mehr Bindungskraft. Das immer schon absehbare Ende analoger Spiele und die Auflösung der Kontakte der Spielenden, die in ihre Normalitäten zurückkehren, hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Von der Ereigniswelt groß angelegter, fortlaufender Online-Spiele geht ein Erwartungsdruck an die Spielenden aus, im Spiel zu bleiben oder zumindest möglichst schnell wieder zurückzukommen, um nichts zu versäumen und die Mitspieler:innen nicht »im Stich zu lassen«. In der Konsequenz bedeutet es, dass sich der normale Organisationsalltag und das Spielerlebnis aufeinander zu bewegen, Erwartungs-, Termin- und Leistungsdruck sich auch in der Spielwelt breitmachen. E-Sports, die professionellen Wettkämpfe in Computer- und Videospielen, haben Konjunktur.

Baue, zerstöre, versklave, herrsche.

Geschrieben von:

Fabian Arlt

Doktorand

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