Wirtschaft
anders denken.

ÖBS reloaded: Müller und das »solidarische Grundeinkommen«. Der OXI-Überblick

30.10.2017

Berlins SPD-Bürgermeister Müller prescht mit der Idee für ein »solidarisches Grundeinkommen« vor. Es geht um soziale Sicherheit in Zeiten großer Umbrüche. Die Sache klingt sehr nach dem linken ÖBS – über den der Sozialdemokrat allerdings kein Wort verliert.

Die SPD diskutiert über ihren Kurs, man liest viel darüber, was Olaf Scholz nun vielleicht in Richtung Martin Schulz an Kritik geäußert hat und was Ralf Stegner dazu sagt. Und es gibt Experten, die bei der Suche nach dem sozialdemokratischen Selbst am Rand stehen und Kommentare abgeben. Soweit, so normal nach Wahlen.

Nun hat sich auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller im »Tagesspiegel« zu Wort gemeldet – nicht vordergründig zur Debatte um den SPD-Kurs, sondern weil er eine »Diskussion für eine soziale, sichere und moderne Zukunft für alle« für nötig hält. Wie man auf diesem Weg vorankommt und welche Instrumente man dafür hat, ist freilich genau das: Teil der Suche nach einer Politik des sozialen Ausgleichs und der sozialen Integration unter gesellschaftlichen Bedingungen, die sich verändert haben.

Müller hat seine Wortmeldung auf »ein solidarisches Grundeinkommen« zugespitzt – womit er erstens einen Begriff aufnimmt, der in vielen politischen Kreisen recht populär ist, und zweitens eine Idee äußert, die den Anspruch hat, auf eines der gegenwärtigen Hauptprobleme eine Antwort zu sein: grassierende soziale Unsicherheit in einem reichen, sozial sehr ungleichen Land. Wobei das Gefühlt des Abgehängtseins nicht nur eine Frage des Einkommens oder der Höhe von Sozialtransfers ist, sondern auch eine der Anerkennung von Berufsrollen und Lebensmodellen, der Kultur, des Sich-Wahrgenommen-Fühlens.

Soziale Sicherheit in der vierten industriellen Revolution

Worum geht es in Müllers Vorstoß? In einem sehr langatmigen Text »zur Übernahme der Bundesratspräsidentschaft« durch Berlins Regierenden schreitet Müller zunächst einen großen Halbkreis ab, in dem die Herausforderungen der Digitalisierung, die Veränderungen in der Arbeitswelt, die damit möglich werdenden Probleme sozialer Absicherung, Fragen der ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Zukunft angesprochen werden. Müller deutet etwas sozialdemokratische Selbstkritik an, was das für einige gebrochene Versprechen des Aufstiegs durch Bildungschancen und die soziale Integration angeht. Und er versucht, einen Sicherheitsbegriff zu prägen, der eben nicht der klassische ist und also nur mit Kriminalität, Polizei, starker Staat zusammengebracht wird, sondern auch mit »sozialer Unsicherheit einer vierten industriellen Revolution«.

Es gehe »in Zeiten großer Umbrüche und der damit verbundenen Ängste darum …, einen Weg aufzuzeigen, wie alle mitkommen, wie Wohlstand und Sicherheit gerecht verteilt werden«, schreibt Müller. »Es geht um Wohlstand für alle in Zeiten der Digitalisierung. Es geht darum, Digitalisierung und soziale Demokratie miteinander in Einklang zu bringen.«

Das Thema ist nicht ganz neu, es wird seit längerem auch als Debatte über die Zukunft sozialer Sicherungssysteme unter neuen technologischen Realitäten geführt – und dabei wurde von verschiedener Seite auf ein Bedingungsloses Grundeinkommen gedrängt. Wobei, das ist in der Grundeinkommensdebatte schon immer so, es vor allem darauf ankommt, welches Modell die jeweiligen Befürworter bevorzugen. Dass auch führende Manager von Digitalunternehmen inzwischen gern einmal laut über so ein Grundeinkommen nachdenken, hat der Debatte neuen Wind verschafft.

Abgrenzung vom Bedingungslosen Grundeinkommen

Müller grenzt sich von einem Bedingungsloses Grundeinkommen aber strikt ab – unter anderem mit dem Hinweis, dass »Diskussionen um soziale Hängematten, Hartz-IV-Adel und die Vorstellung, dass sich Arbeiten nicht lohnt, wenn man es doch gut mit Stütze aushalten könne, den gesellschaftlichen und politischen Diskurs noch viel zu sehr in diesem Kontext prägen«. Außerdem denkt der Sozialdemokrat Müller von der Arbeit her – diese sei »Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe«. Deshalb könne er sich »sehr wohl« ein solidarisches Grundeinkommen vorstellen.

Dieses soll Beschäftigung in einem öffentlichen Bereich ermöglichen, der heute geschwächt ist. Müller sagt, »wegen klammer staatlicher Kassen«, wobei diese ja nicht vom Himmel fielen, sondern zum Beispiel Folge von vergangener Umverteilung in die falsche Richtung und von Austeritätsregeln sind. Müller jedenfalls »fällt einiges ein, was wegen klammer staatlicher Kassen heute nicht möglich ist: Sperrmüllbeseitigung, Säubern von Parks, Bepflanzen von Grünstreifen, Begleit- und Einkaufsdienste für Menschen mit Behinderung, Babysitting für Alleinerziehende, deren Arbeitszeiten nicht durch Kita-Öffnungszeiten abgedeckt werden, vielfältige ehrenamtliche Tätigkeiten wie in der Flüchtlingshilfe, als Lesepatin oder im Sportverein als Übungsleiter und und und.«

Warum kein Wort über den rot-roten ÖBS?

Das »solidarische Grundeinkommen« läuft also auf einen öffentlichen Beschäftigungssektor hinaus, den Müller vor allem als Chance betrachtet für Menschen, »die aus den verschiedensten Gründen nicht fit sind für den Arbeitsmarkt«. Es gehe um Tätigkeiten, die »nicht Opfer der Digitalisierung werden«, »gut vermittelter Grundkenntnisse« bedürfen und »so für viele erfüllbar« wären, »für die die immer komplizierter werdende Arbeitswelt keinen geeigneten Arbeitsplatz mehr bereithält«.

Über konkrete Rahmenbedingungen liest man bei Müller erst einmal nichts, weder die Zahl der so ermöglichten Tätigkeiten noch deren Bezahlung wird angesprochen. Das Papier versteht der SPD-Politiker als »Aufschlag«, verweist aber darauf, dass seine Ideen »bereits mindestens andiskutiert« wurden – und weiter: »Aber bisher fehlt der Politik die Kraft, sie breit gesellschaftlich auszudiskutieren und daraus eine politische, wirtschaftliche und soziale Vision zu entwickeln.«

Das verwundert deshalb ein wenig, weil es den Öffentlichen Beschäftigungssektor ÖBS  ja in Berlin als rot-rotes Projekt bereits gab. Die Idee, »existenzsichernde und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für Erwerbslose zu schaffen und andererseits, gesellschaftlich notwendige Arbeit zu organisieren«, hat also durchaus schon zumindest in bestimmten Formen Praxiserfahrungen sammeln können.

Die Linkspartei hat die Idee auch noch in ihrem aktuellen Wahlprogramm: Man wolle  »neue Perspektiven für Menschen, die derzeit keiner regulären Beschäftigung nachgehen können … Dafür schaffen wir einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor mit zusätzlichen existenzsichernden und tariflich abgesicherten Arbeitsplätzen. Sie sollen Stadtteilzentren, Initiativen und kulturelle Projekte stärken. Sie müssen sich an den regionalen Gegebenheiten und den Bedürfnissen der Erwerbslosen ausrichten. Die Entlohnung darf den Mindestlohn und einen Bruttolohn von monatlich mindestens  1.500 Euro (Vollzeit) nicht unterschreiten.«

Dass Müller diesen ÖBS gar nicht anspricht, fällt zumindest auf. Im Berliner ÖBS waren, um einen zahlenmäßigen Eindruck zu vermitteln, zwischen 2006 und 2011 etwa 7.500 frühere Langzeiterwerbslose in sozialversicherungspflichtige Jobs gekommen, die ortsüblich aber mindestens mit 1.300 Euro bezahlt wurden. Die Stellen waren auf eine Reihe von Handlungsfeldern konzentriert, darunter »Verbesserung der Perspektiven einer älter werdenden Gesellschaft«, dabei ging es unter anderem um Serviceangeboten für Senioren; die »Stärkung des sozialen Zusammenhalts«, also Nachbarschaftsarbeit und Kiezprojekte; die »Unterstützung der Integration« und die »Stärkung der kulturellen Bildung«. Insgesamt profitierten bis zu 1.000 soziale und stadtpolitische Projekten vom Berliner ÖBS. Dieser wurde allerdings 2011 vom rot-schwarzen Senat gestoppt. Die Linkspartei kommentierte das damals mit den Worten: »Der SPD war er zu teuer, die CDU wollte ihn nie.«

Arbeit für die Gesellschaft als Solidarbeitrag

Nun also kommt eine ganz ähnliche Idee aus der sozialdemokratischen Ecke – und die SPD regiert in der Hauptstadt wieder mit der Linkspartei, diesmal im Bündnis mit den Grünen. Müller hat Skepsis was die Finanzierbarkeit angeht bereits zurückgewiesen: »Wieso finanzieren wir den Ausschluss aus der Gesellschaft, anstatt uns um die Teilhabe zu bemühen?«, schreibt er mit Blick auf die prekäre Lage vieler Menschen – und fragt: »Wieso machen wir mit dem vielen in Sozialetats veranschlagten Geld aus den verwaltenden Arbeitsagenturen nicht endlich Arbeit-für-alle-Agenturen?« Das läuft ähnlich wie beim ÖBS darauf hinaus, öffentliche Mittel statt für die »bürokratische Verwaltung von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe« anders einzusetzen – hier eben für ein solidarisches Grundeinkommen, »das fair bezahlte Arbeit für das Individuum und für die Gemeinschaft schafft«.

Zur Stärkung der Finanzierung deutet Müller an, dass es »in einer sozialen Marktwirtschaft auch selbstverständlich sein« müsse, »dass sich Unternehmen stärker als bisher an den sozialen Folgekosten beteiligen«. Hier geht es unter anderem um die  Ausbildungs- und vor allem Weiterbildungskosten. Als »eine weitere Finanzierungssäule für die Arbeitsförderung durch das solidarische Grundeinkommen« nennt der SPD-Mann »eine angemessene Besteuerung von Kapitaleinkünften, Erbschaften und Finanztransaktionen«. Zudem müsse »in diesem Konzept auch die Einführung der Bürgerversicherung unabdinglich« sein. So entstehe »eine solidarische Gemeinschaft, in der jeder nach seinen Möglichkeiten etwas einzahlt – mittels Steuern und der Bürgerabgabe oder eben durch seine Solidar-Arbeit, für die er ein Solidar-Grundeinkommen erhält«.

Noch ist praktisch alles offen, wie bereits angesprochen fehlt es an Konkretisierungen Müllers, etwa was die Höhe angeht und, vielleicht sogar wichtiger, die Voraussetzungen und Bedingungen zur Annahme solcher »Solidar-Arbeit«. Einerseits meint der SPD-Mann in seinem Aufschlag nämlich, es sei nun angebracht, »wieder über eine sinnvolle Politik des ›Förderns und Forderns‹ nachzudenken«. Andererseits schreibt er, Menschen ohne Arbeit müssen »besser in Arbeit« vermittelt werden, »sofern der Wille dazu vorhanden ist«.

DIW nennt 1.200 Euro als Untergrenze

In ersten Reaktionen signalisierte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW Zustimmung. Er »finde es richtig, dass man so viele Menschen wie möglich mit einem solidarischen Grundeinkommen in Arbeit bringt, die einen Wert für die Gesellschaft hat«, wurde der Chef des Instituts, Marcel Fratzscher, vom »Tagesspiegel« zitiert. Fratzscher machte zugleich klar, dass ein solches Grundeinkommen bei »mindestens 1.200 Euro liegen« müsse.

Auch SPD-Vize Ralf Stegner nannte den Vorstoß Müllers unterstützenswert. Er hatte in einem Papier zur Debatte um den SPD-Kurs vor einigen Tagen bereits formuliert, es gehe nun »auch um die Deutungshoheit bei sozialer Sicherheit und Partizipation«. Auch er forderte ein »Gegenbild zu der ›süßen Droge bedingungsloses Grundeinkommen‹, das zur Zeit bei Konservativen, Liberalen, Grünen, Linken und manchen Sozialdemokraten »en vogue ist«. Es dürfe der Sozialdemokratie aber »nicht um den Wettbewerb um die beste Ausgestaltung neu etikettierter Sozialtransfers gehen, sondern um Teilhabe und Selbstbestimmung«. Deshalb gelte es »also für Emanzipation und ein selbstbestimmtes gutes Leben zu sorgen, das möglichst ohne Sozialtransfers auskommt und gleichzeitig in Solidarität mit denen handelt, die ergänzende Hilfen brauchen«.

Der Präsident der der Europäischen Linken, Gregor Gysi, sagte, »eine solidarische Grundsicherung ohne Sanktionen – nicht eine bedingungslose – ist dringend erforderlich«. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund ist mit im Boot: »Der Denkanstoß eines solidarischen Grundeinkommens geht in die richtige Richtung, wenn damit, wie von Müller angedacht, ein sozialer Arbeitsmarkt gefördert wird.« Aus der Berliner CDU vernahm man hingegen Ablehnung.

Der ÖBS war seinerzeit allerdings auch von links deutlich kritisiert worden, unter anderem, weil damit eine Logik sogar noch gefördert würde, in der Menschen zu Langzeiterwerbslosen gemacht werde. Auch sah man teils darin »ein Wiederaufwärmen von Kombilohn-Ideen« und eine kritikwürdige Sonderbehandlung von Menschen, die als »schwer Vermittelbare« eingeordnet würden. Allerdings nahmen auch Selbstorganisierungen von Hartz-Betroffenen den Berliner ÖBS zum Anlass, um über Verbesserungen des Konzeptes zu diskutieren.

Es gibt eine Reihe von Forschungsprojekten, in denen »Öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland« untersucht wurden. Im August 2011 wurde eine Studie im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht. 2009 untersuchte die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung die Idee eines »neuen öffentlichen Beschäftigungssektors« am Beispiel der Stadt Freiburg. Auch die damalige PDS und spätere Linkspartei in Berlin hat eine Reihe von Erfahrungen dokumentiert – unter anderem von einer groß angelegten Konferenz im Jahr 2002. Zudem gibt es Untersuchungen von Konzepten der »Bürgerarbeit«, etwa 2013 am Beispiel von Dortmund.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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