Wirtschaft
anders denken.

Ökonomie der Echtzeit

24.12.2020

Die große Frage des Kapitalismus in real time lautet: Um wie viel Zeit wird das Ideal der Gleichzeitigkeit verfehlt? Ein Beitrag aus OXI 12/2020.

Wenn Abläufe in technischen Systemen zeitgleich mit Vorgängen in der Realität ablaufen, wird dies als Echtzeit bezeichnet – das ist zugleich die alltagsgebräuchliche Bedeutung: Eine Sonnenuhr zeigt dank des Schattens, den das Sonnenlicht produziert, die Uhrzeit ohne jegliche Zeitverzögerung an. Bei einer analogen Uhr mit Sekundenzeiger oder einer digitalen Uhr mit Sekundenanzeige liegt der Fall dagegen anders, diese zeigen nur jede Sekunde eine neue, die richtige Zeit an.

Es gibt nämlich noch eine zweite, von der ersten wohl zu unterscheidende Bedeutung, die in der Informationsverarbeitung relevant ist: Echtzeit als »vorgegebene Zeit, die bestimmte Prozesse einer elektronischen Rechenanlage in der Realität verbrauchen dürfen«. Rechenmaschinen sind getaktet, d.h. nur zu bestimmten Zeitintervallen werden Operationen ausgeführt, werden Informationen schrittweise, synchronisiert mit dem Prozessortakt der Rechenmaschine verarbeitet. Auch in der analogen Welt gibt es Beispiele für eine solche Verwendung von Echtzeit: Wird etwa im täglichen Rhythmus Fieber gemessen bei einem Patienten, dann ist der gemessene Wert auch nachmittags noch gültig, gilt als tagesaktuell, es handelt sich also um Echtzeitdaten, auch wenn ihre Erhebung schon eine ganze Weile her ist.

Interessant wird es, wenn der Takt immer höher wird, so dass die beiden Definitionen tendenziell zusammenfallen. Dann haben wir es mit Echtzeit im doppelten Wortsinne zu tun, mit »Echtzeitbetrieb«, den der Duden wiederum bezeichnet als »Arbeitsweise einer elektronischen Rechenanlage, bei der das Programm oder die Datenverarbeitung (nahezu) simultan mit den entsprechenden Prozessen in der Realität abläuft«. Je höher der Takt, desto näher kommt die Anlage dem Ideal der Simultaneität, oder wie der australische Politologe Wayne Hope das ausdrückt: Die Zeit beschleunige sich in Richtung Instantaneität (Augenblickhaftigkeit, keine Steigerung mehr möglich).

Heutige Rechner sind im Gigahertz-Bereich getaktet, entsprechend sind Milliarden Rechenoperationen pro Sekunde möglich. Wie weit der Takt der digitalen Maschinen bereits außerhalb menschlicher Vorstellungskraft geschweige denn Bedienbarkeit ist, mag folgendes Beispiel illustrieren: Flinke Tastaturbediener schaffen gut 120 Tastendrücke pro Minute, die aktuelle Weltmeisterin im Maschinenschreiben, Helena Matoušková, schafft 955 Anschläge pro Minute. Der Computer könnte deutlich mehr vertragen, nämlich theoretisch rund eine Milliarde Anschläge pro Sekunde. Anders ausgedrückt: Der menschliche Schreiber mutet dem System eine Wartezeit zwischen Anschlägen zu, die – versetzten wir uns in die Lage der Maschine – dem Erscheinen eines neuen Buchstaben alle 30 Jahre entspricht. Die Langsamkeit menschlicher Bediener muss vom Standpunkt dieser hoch getakteten Maschinen galaktische Ausmaße annehmen.

Im sozialistischen Chile unter Allende war der Versuch unternommen worden, mit einem (!) Computer die gesamte Ökonomie zu koordinieren. Die 400 wichtigsten Betriebe sandten ihre Produktionszahlen in die Zentrale des legendären Projekts mit Namen »Cybersyn«, diese wurden dann in eine Simulation der chilenischen Ökonomie eingespeist. Übermittelt wurden die Daten einmal täglich per Fax an den futuristisch gestalteten »boardroom«, die Kommandozentrale des Projekts. Dessen charismatischer Leiter, der Kybernetiker Stafford Beer, bezeichnete das Projekt seinerzeit als sozio-ökonomische Governance-Steuerung in Echtzeit.

Der Echtzeitcharakter des Systems war auch der entscheidende Unterschied gegenüber dem System, das die Sowjetunion mit ihren Fünfjahresplänen etabliert hatte. Paul Cockshot, britischer Autor und Kenner des »Computer-Sozialismus«, meint denn auch: »Der große Fortschritt bei Stafford Beers Experimenten mit Cybersyn bestand darin, dass es sich eher um ein Echtzeitsystem als um ein System handelte, das, wie die Sowjets versucht hatten, im Wesentlichen ein Batch-System war, bei dem sie alle fünf Jahre Entscheidungen trafen.« Als Batch- oder Stapelverarbeitung gilt das paketweise Abarbeiten von einer ganzen Reihe an Aufgaben, ohne weitere Eingriffe in den Ablauf. So gab es in der klassischen Planwirtschaft kaum Möglichkeiten, in Echtzeit einzugreifen, umzusteuern. Das ist aber gerade ein Postulat der Kybernetik: Feedback, also die Rückkopplung der Ergebnisse auf das System selbst, wird angestrebt, idealerweise in Echtzeit.

Die Fünfjahrespläne der Sowjetunion, die Quartalszahlen aus den traditionellen fordistischen Unternehmen, auch die täglichen Faxe im sozialistischen Chile sind allesamt längst Vergangenheit. Die Echtzeit-Steuerung ist im Kern des gegenwärtigen Kapitalismus angekommen. So wartet etwa SAP, der führende Business-Software-Hersteller der Welt, mit einer Software zum Display sämtlicher Unternehmensprozesse in Echtzeit auf. Auf die Quartalszahlen muss das Management nicht mehr warten, um Entscheidungen zu treffen, es hat jederzeit bis hinunter auf den einzelnen Arbeitsvorgang, die einzelne Transaktion, die Position jeder einzelnen Schraube, jedes einzelnen Dollars, jedes einzelnen Mitarbeiters Zugriff. Durchaus in Anlehnung an Stafford Beers Kommandozentrale im cyber-sozialistischen Chile der 1970er Jahre hat SAP sein panoptisches Premiumprodukt für die Chefetage »Digital Boardroom« genannt. Der Hersteller verkündet stolz: »SAP Digital Boardroom ermöglicht geschäftliche Entscheidungen in Echtzeit.«

Was bedeutet es aber für die Ökonomie, wenn die beiden Definitionen von Echtzeit konvergieren? Wenn Daten in Echtzeit erfasst, prozessiert und dargestellt werden, diese gar Entscheidungen oder Aktionen in Echtzeit triggern? Ein Perspektivwechsel stellt sich ein: Statt die Dauer eines Vorgangs zu messen, z.B. eines Arbeitsvorgangs, also zu fragen: »Wie viel Zeit ist nötig für diesen oder jenen Vorgang, diese oder jene Arbeit, diesen oder jenen Prozess?«, statt eine Zeitmessung in Stunden oder Minuten oder Sekunden vorzunehmen – idealtypisch symbolisiert durch die Stoppuhr im Taylorismus –, statt diese Messung als Ausgangspunkt für Planung und Organisation herzunehmen, stellt sich die Frage nun anders: Um wie viel Zeit wird das Ideal der Gleichzeitigkeit verfehlt?

Bei der Echtzeit ist nicht die Dauer relevant, sondern ex negativo die minimale Abweichung von der Gleichzeitigkeit, die so unterschiedliche Bezeichnungen wie Latenz, Verzögerung, Delay trägt. Noch einmal Wayne: »In Netzwerken wird diese Art von Geschwindigkeit anhand des Standards der Sofortigkeit gemessen. Folglich wird eine effiziente Übertragung nicht innerhalb der Parameter der sequenziellen Taktzeit bewertet. Stattdessen lautet die zentrale Frage: Können Längen oder Zeitverzögerungen reduziert oder beseitigt werden?« Nicht mehr die notwendige Dauer ist das Kriterium in der Ökonomie der Echtzeit, sondern die kleine Lücke zur Instantaneität, die minimale Latenz durch die Übertragung, die zu minimierende Verzögerung gegenüber der maximal möglichen Geschwindigkeit im Universum: der Lichtgeschwindigkeit.

Das Wertgesetz macht hier zunehmend keinen Sinn mehr, wenn die gesellschaftlich notwendige Zeit, abstrakte Arbeit, die ja letztlich in Quanta von Durchschnittsarbeitszeit gemessen wird, gegen null geht. Die Ökonomie der Zeit kennen wir aus der Produktion physischer Güter, hier kann gemessen werden, wie lange es dauert, identische Kopien der immer gleichen Blaupause herzustellen. So auch bei Adam Smiths berühmtem Beispiel aus seinem Hauptwerk »Der Reichtum der Nationen«, in dem er die arbeitsteilige Produktion von 48.000 Nadeln pro Stunde, das sind 13 pro Sekunde, beschreibt.

Vielfach wurde im Zusammenhang mit der Informationsgesellschaft das Phänomen beschrieben, und diese Zeitbestimmung als zusehends obsolet betrachtet. Denn: Wie lange dauert es, ein Suchergebnis bei Google zu erzeugen, was ist also das Quantum Arbeit, das »drinsteckt«? Den Wert einer Information durch die zu ihrer Herstellung und Versendung notwendige gesellschaftliche Durchschnittsechtzeit bestimmen zu wollen, ist sinnlos geworden. Die Dauer hat nichts mit der Produktion zu tun, diese ist idealerweise gleich null. Insofern ist Marx‘ Ökonomie der Zeit hinfällig. Googles Suchalgorithmus ist immer gleich schnell, völlig unabhängig davon, wie viele ihn gerade benutzen. So gesehen ist das Wertgesetz der politischen Ökonomie, der Wert der Waren entspreche der zu ihrer Herstellung notwendigen gesellschaftlichen Durchschnittsarbeitszeit, abgelaufen.

Die Echtzeit korrespondiert mit zwei weiteren, aus der Perspektive der handfesten Ökonomie der Sachen eigentümlich anmutenden Effekten: Big Data, also die in schier unermesslicher Menge zur Verfügung stehende, quasi automatisch anfallende verfügbare Gesamtdatenmenge, und die Möglichkeit, in Losgröße eins zu produzieren. Geschwindigkeit, Volumen, Varianten lauten denn auch die drei Postulate aus der Big-Data-Ökonomie: hohe Entstehungsgeschwindigkeit (Velocity), große Datenvolumina (Volume) sowie eine große Vielfalt in der Datenbeschaffenheit (Variety). So wird auch »Losgröße eins« realisierbar: Alle kriegen eine einmalige persönliche unwiederholbare Information.

In den »boardrooms« des Digitalen Kapitalismus laufen diese Informationen zusammen, und erlauben dort eine Neuerfindung der Planwirtschaft. Der »Financial Times«-Autor John Thornhill beschreibt das folgendermaßen: »All unsere verknüpften Geräte spucken Ozeane von Daten über unsere wirtschaftlichen Aktivitäten, Bedürfnisse und Wünsche in Echtzeit aus. Bei richtiger Nutzung könnten diese Daten den Preismechanismus nachahmen, um Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen.« Und Chinas Oberkapitalist, Alibaba-Gründer Jack Ma, sekundiert: »Wenn wir Zugang zu allen Daten haben, finden wir die unsichtbare Hand des Marktes.« Dies erlaube letztendlich, »die Planwirtschaft zu verwirklichen«.

Herrscht Echtzeit – kein Delay zwischen Sendern und Empfängern, zwischen Fakt und Analyse, zwischen Plan und Ausführung –, ist weder vorausschauender Plan noch Ex-post-Realisierung auf dem Markt nötig. Unternehmensstrategie »bedeutet nicht mehr Analyse und Planung, sondern ein Prozess der Kundenbindung und des Experimentierens in Echtzeit«, sagt Ming Zeng der ehemalige Stabschef und Strategieberater des Gründers der Alibaba Group, Jack Ma. Markt und Plan werden abgelöst durch »Data Intelligence« und »Network Coordination«. Die »neue Planung« – nicht Markt, nicht zentraler Plan, sondern »real time data processing« – führt dazu, dass Planung, Kalkulation, das Vorwegnehmen von Ereignissen mit deren Manifestation zusammenfällt, höchstens noch von einem kleinen Delay begleitet, einer störenden Latenz.

Hier kommt auch der Prädiktionscharakter der digitalen Ökonomie ins Spiel: Shoshana Zuboff schreibt in »Überwachungskapitalismus«: »In diesem Spiel geht es um den Verkauf eines Zugangs zum Echtzeitfluss unseres alltäglichen Lebens mit dem Ziel, unser Verhalten direkt zu beeinflussen, zu verändern und daraus ein Geschäft zu machen.« Die Verringerung der Zeit, die für die Erstellung genauer und zuverlässiger Prognosen benötigt wird, kann nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Fähigkeit eines Unternehmens haben, Ressourcen effektiv zu planen, zu budgetieren und zu verwenden, sondern all diese Faktoren haben für jedes Unternehmen ein beträchtliches finanzielles Potenzial.

Entwicklung, Test und die Nutzung von Produkten fällt schließlich zusammen. Die Apps, die wir benutzen, sind nie fertig, immer nur Betaversionen, ständiges Nutzerfeedback triggert eine endlose Reihe an Updates, gleichzeitig ist es vom ersten Moment an schon obsolet, veraltet, nie ganz fertig, immer schon ein bisschen kaputt: Work-in-progress, continous delivery, ein Kontinuum an Inkrementen, das Ganze natürlich in Echtzeit. Perpetuierte Innovation heißt diese kontinuierliche Verbesserung bereits ausgelieferter Produkte und Dienste: It’s not a bug, it’s a feature!

Geschrieben von:

Timo Daum

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