Neues zu Marx

05.09.2021
Vor hellblauem Hintergrund steht das Cover des Buches "Stummer Zwang - Die ökonomische Macht im Kapitalismus" von Sören Mau

Søren Mau schreibt eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus.

Mit Blick auf die Menge an Literatur über Marx, Marxismus und marxistische Theorie könnte man meinen, die wesentlichen Lücken seien längst geschlossen, und die Debatten würden sowieso nur noch in ‚marxologischen Kreisen‘ geführt werden, ohne dass man als ‚Nicht-Experte‘ davon nachhaltige Wirkung entfaltende Erkenntnisse erlangen würde. Der jüngst im Berliner Dietz Verlag erschienene Band „Stummer Zwang. Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus“ durchbricht diese Erwartungshaltung. Er führt in 13 Kapitel, aufgeteilt in die Abschnitte I. Bedingungen, II. Beziehungen, III. Dynamiken, auf rund 350 Seiten vor Augen, was sich eigentlich hinter dem so leicht daher gesagten Marx‘schen Satz vom „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ verbirgt und wie tiefreichend die kapitalistische Alltagsrealität vom Zwang des Kapitals und seiner permanenten Reproduktion durchdrängt ist.

Bekannte Konzepte wie Klasse, Kapital, Entfremdung und Verdinglichung, Herrschaft und Macht sowie Subsumtion werden dabei durchschritten, entlang des titelgebenden Themas diskutiert und miteinander in Verbindung gesetzt. Auch Sklaverei, Geschlechterverhältnisse und Postkolonial Studies werden in die Betrachtungen einbezogen. Das ganze Unternehmen mündet dann in den konkreten Analysen der Entwicklung der Landwirtschaft, der Logistik sowie der Frage der ‚Überschussbevölkerung‘ im 20. Jahrhundert. Das Buch entpuppt sich dabei auch als Knotenpunkt jahrzehntelanger marxistischer Diskussionen von hohem Wert, samt umfangreichen Literaturverzeichnis.

Es ist selbstverständlich nicht so, als sei das Thema durch Mau neu entdeckt worden, aber dass und wie es ihm gelingt, hieraus eine umfassende Theorie der ökonomischen Macht auszuformulieren, ist ebenso überraschend wie beachtenswert und ein anregendes Lesevergnügen. Der Autor gibt Auskunft über Beiträge von wichtigen Theoretikern wie Michel Foucault, David Harvey, Michael Heinrich und Robert Kurz, gewichtet und bewertet sie, gibt Orientierung in den deutsch- wie englischsprachigen Diskussionen, führt verschiedene Positionen zusammen, benennt ohne Scheu und Zurückhaltung analytische Schwächen und Lücken, regt zu eigenen Lektüren an. Es gelingt Mau in überzeugender Weise darzulegen, dass es tatsächlich einer solchen Ausformulierung einer auf Marx‘ basierenden Theorie der ökonomischen Macht bedarf. Diese setzt sich insbesondere mit dem Kapital auseinander und ergänzt zugleich klassen- und ideologietheoretische Macht-Überlegungen von Klassikern wie bspw. Nicos Poulantzas und Louis Althusser. Das Anliegen des Buches ist also keine weitere akademische Fingerübung, die erzwungenen Maßen versucht, Innovation herbeizuschreiben. Das ganze Gegenteil ist hier zutreffend, die Studie ermöglicht tiefgehende Einsichten in unsere von kapitalistischen Verhältnissen durchdrungene alltäglich Lebensweise. Das ist sicher keine Selbstverständlichkeit, wenn man berücksichtigt, dass das Buch aus einer Doktorarbeit hervorging.

Ohne Schwierigkeit gelingt es Mau, den Bogen zu den akuten Fragen unserer Gegenwart zu spannen. So müssen die zahllosen Krisen und ihre Bedeutungen „in eine breitere Analyse der Strategien […] integrier[t]“ werden, „durch die das Kapital seine Herrschaft über das gesellschaftliche Leben reproduziert“ (S. 303). Krisen seien wohl „das beste Beispiel für den unpersönlichen Charakter der ökonomischen Macht des Kapitals“(S.308).

Hervorzuheben ist zudem die sprachliche Qualität der Argumentation, von der man sich als Autor:in und Leser:in im deutschsprachigen Raum (auch mit neidvollem Blick auf die eigenen Veröffentlichungen) nur mehr wünschen kann. Mau schreib klar, präzise, verständlich, ohne sprachliche Verneblungen, auf den Punkt genau. Die einzelnen Kapitel werden an vorhergehende rückgebunden, ohne in ermüdende Wiederholungen zu enden. Stattdessen stellt Mau sicher, dass man dem inneren Aufbau seiner Argumentation folgen kann, ohne dass man immer wieder zurückblättern muss.

Das Buch ist ein weiterer gewichtiger Beitrag der seit 2018 beim Verlag erscheinenden Reihe »Theorie«, deren bisherigen Bände ausnahmslos zu empfehlen sind und die ebenso originelle wie gehaltvolle und lesenswerte Bücher zum Kosmos Marxistischer Theorie bietet. Und als bibliophil veranlagter Mensch ist das Design der Reihe mit Farbgebung, Buchumschlag, Papier und der verwendeten Schriftart selbst schon Grund genug, zu zugreifen. Rundum also ein Lesevergnügen, trotz des gewichtigen Inhalts. Maus Buch ragt insofern heraus, als dass nun erstmals die deutschsprachige Ausgabe auch die tatsächliche Erstausgabe ist. Die englische und dänische Fassung ist für 2022 angekündigt. Es ist Maus‘ Buch eine schnelle Verbreitung und breite Rezeption zu wünschen. Sobald die anderen Sprachfassungen erschienen sind, können international der Austausch und die Debatte auf Augenhöhe beginnen – dies ist leider selten genug der Fall, wenn man einen Blick auf die internationale Übersetzungspraxis und deren Geschwindigkeit in der marxistischen Literatur schaut.

Das Verständnis für unsere gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse, deren Entstehung und permanente Reproduktion wird hier entscheidend analytisch erleichtert und wirkt Erwartungen an eine Partei wie den Grünen entgegen. Die Antworten auf die Zumutungen kapitalistischer Verhältnisse, vor allem den bis in das Körperliche und Psychische hinwirkenden Zwängen der Lohnarbeit, sind jenseits parteipolitischer Routinen zu suchen.

Søren Mau: Stummer Zwang – Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus, Juli 2021, 360 Seiten, 29,90€.

Geschrieben von:

Sebastian Klauke

Politikwissenschaftler

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