Öl, ein Stoff für Krisen: Sechs Anmerkungen zum Treibstoff des modernen Kapitalismus
Der Kapitalismus braucht künstlich erzeugte Energie. An ihr hängen Produktion und Verteilung sowie der gesamte Lebensprozess der Gesellschaft. Zwar ist die Bedeutung des Öls seit 1973 gesunken. Doch bleibt es wichtigster Energieträger. Ein kurzer Lehrgang über den Treibstoff des modernen Kapitalismus. Ein Text aus dem Schwerpunkt der OXI-Printausgabe vom Juli.
»Stellt euch vor: Ihr setzt euch Sonntagabend vor den Fernseher und schaut die Nachrichten. Statt des gewohnten Bildes von kilometerlangen Staus auf den deutschen Autobahnen seht ihr gähnende Leere auf der Piste. Egal, ob zwei-, vier- oder sechsspurig, alle Autobahnen sind leer. Einfach nix los.«
So beginnt die Kindersachbuch-Reihe »Was ist was?« ihren Internet-Eintrag über die Ölkrise 1973. Erzählt wird von den arabischen Staaten, die den Westen unter Druck setzen wollten und dafür den Ölhahn zudrehten, »bis nicht mehr genug Öl da war, um die Schulen zu heizen oder in den Fabriken normal zu produzieren«.
Es ist die gängige Geschichte, in der die Abnehmerländer zum Opfer der Lieferländer wurden und in eine Wirtschaftskrise stürzten. An dieser Geschichte ist wenig dran. Denn weder kann ein steigender Ölpreis allein eine Krise der Industriestaaten auslösen. Noch sind die Abnehmerstaaten mit ihren Schulen und Fabriken die abhängige Variable des globalen Ölmarkts. Sie sind vielmehr seine Macher und Nutznießer. Sechs Anmerkungen zum Treibstoff und seinen Krisen.
1. Der Stoff
Der Kapitalismus braucht künstlich erzeugte Energie. An ihr hängen Produktion und Verteilung sowie der gesamte Lebensprozess der Gesellschaft. Zwar ist die Bedeutung des Öls seit 1973 gesunken. Doch bleibt es wichtigster Energieträger, aus dem ein Drittel der globalen Primärenergieversorgung geholt wird. Dahinter folgen Kohle (28 Prozent) und Erdgas (22 Prozent). 100 Millionen Fass (159 Liter) Öl werden jeden Tag verbraucht, doppelt so viel wie vor 40 Jahren, zwei Drittel davon im Verkehr.
Dass gerade Öl so wichtig ist, verdankt sich seinem Preis. Förderung und Verbrauch heizen zwar die Atmosphäre auf, vergiften Wälder und Flüsse, Meere und Menschen. Doch ist Öl kostengünstig zu produzieren, es ist leicht verfügbar, man kann es lagern und flexibel einsetzen. »Die fossilen Energien – Kohle, Gas und vor allem Öl – sind der kapitalistischen Produktionsweise höchst angemessen«, schrieb der Ökonom Elmar Altvater, ohne sie »wäre das hohe Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahrhunderte gar nicht denkbar«.
Um das Erdöl hat sich daher eine riesige globale Industrie gruppiert, die es aus dem Boden holt, weiterverarbeitet, transportiert und verkauft. Dafür sind große Kapitalmassen nötig – unter den zehn umsatzstärksten Aktiengesellschaften der Welt finden sich vier Ölkonzerne, wobei der größte Ölförderer der Welt, Saudi Aramco, noch nicht mal mitgezählt ist, da er in Staatsbesitz ist.
2. Öl für die Industriestaaten
Da Öl für die Wirtschaft der Industriestaaten so wichtig ist, nimmt die Politik hier einen speziellen Standpunkt ein: den der Versorgungssicherheit. Ob Öl verfügbar ist, überlässt sie nicht den Launen der Märkte oder den Kalkulationen der Multis. Die Versorgung mit Öl muss immer gewährleistet sein, in ausreichenden Mengen und entsprechender Qualität. Und Öl soll billig sein.
Denn da es überall gebraucht wird, geht sein Preis in alle betriebswirtschaftlichen Kalkulationen mit ein. Energie ist ein wichtiger Ausgabenposten, er beeinflusst für Unternehmen die Kosten für Betriebsmittel und damit die Höhe des nötigen Kapitalvorschusses. Steigt der Ölpreis, kann sich die Produktion verteuern, was Unternehmen zum Gewinnverzicht zwingt oder sie zu Preiserhöhungen animiert, was die Verbraucher als Inflation zu spüren bekommen, also als Erhöhung ihrer Tank-, Heiz- und sonstigen Kosten, an denen sich der Staat per Energiesteuern kräftig bedient.
3. Öl für die Lieferantenländer
Für die meisten Lieferländer ist das Öl die wichtigste Einnahmequelle. Fast die gesamten Güterexporte von Staaten wie Irak, Libyen, Venezuela, Kuwait oder Algerien bestehen aus Treibstoff. Sein Exportanteil in Nigeria und Saudi-Arabien liegt bei 88 Prozent. In Russland, Kolumbien und Iran sind es immer noch über 70 Prozent. Diese Staaten und ihre Gesellschaften sind damit elementar abhängig vom Rohstoff und seinem Preis.
Ihre Ökonomie ist eine sehr spezielle: Denn ihre heimische Wirtschaft hat für das Öl kaum Verwendung. Zu kapitalistischem Reichtum wird es erst durch seinen Export, also durch den Verkauf und seine Verwendung in den Industriestaaten, wo es als Zutat für die Waren- und Güterproduktion, also für das Wirtschaftswachstum dient.
Bei den Ölstaaten handelt es sich daher zumeist um sogenannte Rentierstaaten, die von außen bezahlt werden: Als Grundeigentümer halten sie ihr Öl bereit für die Nachfrage der großen Kapitalstandorte. Dafür erhalten sie einen Anteil am Verkaufspreis, der sich in den Zentren der weltweiten Kapitalakkumulation bildet und von deren Wirtschaftskonjunkturen abhängt. Um den Ölpreis und ihren Anteil – die »Rente« – führen die Ölstaaten einen dauernden Streit mit den Verbraucherländern. Ein Preisrückgang wie zwischen 2014 / 2015, der die Exporterlöse der Opec auf 450 Milliarden Dollar halbierte, verursacht unmittelbar »Druck auf die Staatshaushalte und macht in einigen Fällen schwierige politische Situationen noch schwieriger«, so die Internationale Energie Agentur IEA.
Um eine ruinöse Anbieterkonkurrenz zu verhindern, haben sich viele Lieferstaaten 1960 zur Opec zusammengeschlossen. Deren Macht bleibt aber begrenzt, da jedes Opec-Mitglied einen Anreiz hat, gegen gemeinsame Beschlüsse zu verstoßen, um sich Extra-Vorteile zu sichern.
Insgesamt ist die Opec nicht gegen die Interessen der Industriestaaten gerichtet. Das Kartell soll vielmehr dazu dienen, die Existenz der Ölstaaten als Lieferanten zu ermöglichen. Dabei müssen sie stets darauf achten, den Preis nicht zu hoch zu treiben, um ihre ausländische Kundschaft nicht zu schädigen oder zu verärgern. Die Macht der Opec bleibt damit äußerst begrenzt, denn sie ist ohne eigene materielle Substanz und vom Ausland abhängig.
4. Ein gewalt(tät)iger Markt
Die mächtigen Staaten der Welt brauchen Öl. Damit sind sie mit dem Problem konfrontiert, dass der Stoff ihrer Begierde außerhalb der Landesgrenzen, unter fremder Herrschaft lagert. Daraus resultiert für die Abnehmer ein prinzipielles Versorgungsrisiko – eine »Gefahr für die nationale Sicherheit«, so formulierte es jüngst US-Präsident Donald Trump. Um den Zugriff auf »unser Öl« abzusichern, erobern (Ex-)Kolonialmächte nicht mehr eigenhändig die Rohstoffquellen.
Stattdessen haben die Industriestaaten ein globales Abschreckungsregime eingerichtet, das nicht nur die formal souveränen Herrscher über die Ölquellen kontrolliert, sondern auch die Tanker-Routen und Pipeline-Verläufe.
In diesem System wird die Kooperationsbereitschaft der Ölförderer gewährleistet durch eine dauerhafte Kriegsandrohung, durch gelegentliche Kriege (Irak, Iran), durch Rüstungsexporte und Kredite. Das bedeutet: Hinter einer unschuldigen Zahl wie »70 Dollar je Fass Öl« steht ein globales Gewaltregime, mit dem die Nato-Staaten kollektiv sicherstellen, dass die Verfügbarkeit über Öl lediglich eine Frage des Preises ist. »Energiesicherheit heißt globale militärische Kontrolle«, schließt das Institut ISW. »Der Weltkrieg um Ressourcen findet längst statt.«
Um sich unabhängiger von den Ölstaaten zu machen, haben die Industriestaaten sich zur Einrichtung nationaler Ölreserven verpflichtet, sie fördern die Rohstoffproduktion bei sich daheim (USA, Norwegen, Großbritannien, Mexiko) und die Erzeugung alternativer Energiequellen auf ihrem Territorium: Atom, Solar, Wind und Wasser sowie Effizienzsteigerungen senken den Ölverbrauch und bringen die Abnehmer dadurch in eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber den Produzenten, die auf den Ölverkauf angewiesen bleiben.
Den Lieferanten des Treibstoffs bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, ihre Kunden gegeneinander auszuspielen: »Das Risiko erhöht sich, wenn es Russland gelingt, alternative Kunden wie China zu gewinnen, und Russland somit auf Europa als Abnehmer nicht mehr angewiesen ist«, warnt das Leibniz-Institut für Globale Studien und fügt an, dass »das Problem mit Russland sich weniger aus der Menschenrechtsbilanz ergibt als aus seiner Außenpolitik«.
5. Die Ölkrise 1973
Noch in den sechziger Jahren kontrollierten die USA als größter Ölproduzent den globalen Markt. Die Regulierung der Förderung durch die Railroad Commission of Texas hielt den weltweit gültigen Ölpreis stabil und niedrig. Ab 1970 jedoch ging die Förderung in den USA zurück, der Bedarf dagegen wuchs drastisch. Um ihn zu decken, wurden Importe aus den Opec-Staaten immer wichtiger.
Nachfragesteigerung plus Importabhängigkeit schufen eine Situation, die die arabischen Staaten 1973 auszunutzen versuchten: Im Herbst verhängten sie ein Liefer-Embargo gegen die USA als Vergeltung für deren Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg. Ergebnis waren ein drastisch steigender Ölpreis, ein deutlicher Rückgang des Verbrauchs und eine Wirtschaftskrise.
Diese Krise ist als erste »Ölkrise« in die Geschichte eingegangen. Eine zweite folgte 1979 im Zuge der Revolution in Iran, die den Ölpreis steigen ließ, obwohl die Opec die Förderausfälle mehr als kompensierte.
Die Verteuerung von Öl allein kann jedoch höchstens Auslöser, nicht aber Grund einer Krise sein. So vervierfachte sich der Ölpreis Anfang dieses Jahrtausends, ohne größere Schäden für die Konjunktur im Westen. Denn Energie ist eben nur ein Kostenfaktor unter vielen. Ob und welche Probleme seine Verteuerung macht, hängt ganz vom Stand der Konjunktur der Industrieländer ab. »Die ökonomischen Zusammenhänge sind komplex und ein kräftiger Ölpreisschub muss nicht zwangsläufig zu einer Rezession führen«, erklärt die Bundesbank.
Angemerkt sei noch: Kräftige Ölpreisschübe sind heutzutage eher einer steigenden Nachfrage insbesondere aus den Schwellenländern geschuldet und nicht mehr politischen Ambitionen der Produzentenländer, deren Machtposition mit dem Ende des Realsozialismus in sich zusammengesunken ist. Konnten sie 1973 noch auf zurückhaltende Unterstützung der Sowjetunion zählen, so läutete der Golfkrieg 1991 eine »neue Weltordnung« ein, in der den Ölstaaten ihre Rolle als zuverlässige Lieferanten nachdrücklich zugewiesen wurde. Um den Ölpreis zu drücken, reicht heute ein Anruf der US-Regierung bei der Opec – so wie Anfang Juni, als Washington Saudi-Arabien zur Erhöhung seiner Förderung um eine Million Fass pro Tag aufforderte.
6. Alles eingepreist
Der Kampf der Ölförderer um Nachfrage, die Konkurrenz der Abnehmer um Ölmengen, die militärische Absicherung des globalen Ölmarktes, die Kosten der Multis für Tiefseebohrungen und Fracking, für Tanker und Pipelines – all das steckt drin im Preis, den die Zapfsäule an der Tankstelle anzeigt. Und all das sind Faktoren, die in die Ölpreis-Spekulation an den Finanzmärkten einfließen, ebenso wie die Staatskrise in Venezuela, der Krieg im Jemen, die Sanktionen gegen Iran, Unruhen im Irak, Anschläge in Nigeria, Stürme im Golf von Mexiko und der Zerfall Libyens.
»Politik, Naturkatastrophen und geopolitische Herausforderungen ebenso wie hohe Ölvorräte« haben 2017 »zu einem interessanten Jahr gemacht«, so die Unternehmensberatung Deloitte. Mord und Totschlag sind in die Ölnotierungen eingepreist. In den Industrieländern sind die Schulen wieder geheizt, die Autobahnen voll und die Fabriken arbeiten normal. Die Situation ist unter Kontrolle.
Foto: Brudersohn / CC BY-SA 3.0
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