Wirtschaft
anders denken.

Oh je, SPD: Über Nahles’ falsche Sicht auf Lohnabhängige

23.11.2018
Olaf Kosinsky,Lizenz: CC BY-SA 3.0 DESPD-Parteitag im April 2018

Gut gemeinte Vorschläge sind nicht immer gut – das gilt auch für die neueste Initiative der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles. Kritische Anmerkungen zum sogenannten Bürgergeld, falsche Erklärungen von Erwerbslosigkeit und den Urfehler von Hartz IV.

Es ist schon eine Crux, mein Verhältnis zur SPD. Auch wenn ich meine Entscheidung, sie im Jahre 2005 zu verlassen, nach wie vor richtig finde, habe ich die SPD, ihre Funktionäre und ihre Mitglieder nie verdammt. Das fiel mir einerseits leicht, weil auch meine neue Partei seit 2005, DIE LINKE, keine vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung ist. Andererseits verdamme ich die SPD auch deswegen nicht, weil ich davon überzeugt bin, dass nach wie vor etliche in ihr Aktive eher Gutes als Schlechtes wollen.

Indes ist es eine Binsenweisheit, dass gut gemeinte Vorschläge nicht wirklich gut sein müssen. So verhält es sich auch bei der neuesten Initiative der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles, dem sogenannten Bürgergeld, von dem diese behauptet, dass es Hartz IV ersetzen möge und dass es sich hiervon auch substantiell unterscheide.

Das Interview, das Nahles hierzu gibt und das hier nachzulesen ist, ist auf mehreren Ebenen ärgerlich und lässt auch jene, die es mit der SPD so wie ich gut meinen, ratlos und irritiert zurück. Das verlangt nach einer ganz kurzen Erläuterung.

Nahles’ falsche Erklärung von Arbeitslosigkeit

Ich bestreite nicht, dass Arbeitslosigkeit in beschränktem Umfang auch dadurch verursacht wird, dass unternehmerische Nachfrage nach Arbeitskräften kein passendes Angebot findet. Stichworte sind: Fachkräftemangel in geringem Umfang, begrenzte Arbeitslosigkeit bei Strukturwandel, unzureichende Qualifikation bei einem geringen Teil der Arbeitskraftanbieter, mangelnde Arbeitsbereitschaft bei einem winzig kleinen Teil der Arbeitskraftanbieter.

Dennoch gilt es zu betonen, dass dies nicht die Hauptgründe für Arbeitslosigkeit sind. Wären es nämlich die Hauptgründe, wäre der Arbeitsmarkt der dominierende Markt. Dann gölte: Würde der Fachkräftemangel durch Zufuhr an Arbeitskräften behoben, der Strukturwandel ordentlich moderiert, die Gruppe der Erwerbslosen besser qualifiziert und der Anreiz zum Angebot der eigenen Arbeitskraft erhöht, stiege die Beschäftigung und wäre es vermeintlich möglich, eine bislang unbefriedigte Güternachfrage durch ein nun erhöhtes Güterangebot zu decken.

Andrea Nahles denkt offenbar in genau diesen falschen Kategorien, wenn sie sagt:

»Wir wollen Arbeitslosigkeit schon verhindern, bevor sie entsteht, und jenen Wege daraus eröffnen, die darin gefangen sind, durch Anreize,  Qualifizierung und eben den gerade beschlossenen sozialen Arbeitsmarkt.«

In der Realität ist es aber genau nicht so. Nicht der Arbeitsmarkt, sondern Güter- und Vermögensmärkte sind dominant. Unternehmen bzw. Haushalte treffen unter Unsicherheit und auf Grundlage ihrer Nutzen- bzw. Gewinnerwartungen Entscheidungen über Konsum bzw. Investitionen oder aber Sparen sowie über Geld- oder aber Wertpapierhaltung. Aus diesem Zusammenspiel ergibt sich ein volkswirtschaftliches Aktivitätsniveau mit einem bestimmten Niveau an Güternachfrage, und aus dieser dominierenden Güternachfrage folgt eine abgeleitete Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften.

In dieser Sicht ist Arbeitslosigkeit eben nicht in großem Umfang Folge unzureichender Voraussetzungen der Arbeitslosen, denen es an Fachexpertise, Strukturanpassung, Qualifikation und Arbeitsbereitschaft mangele. Vielmehr ist Arbeitslosigkeit im Wesentlichen Folge einer unzureichenden Güternachfrage, weswegen Arbeitslosigkeit üblicherweise keine durch die Arbeitslosen selbstverursachte Problematik ist, sondern in der Regel ein Systemdefekt, der auf ihnen unverschuldet lastet.

Das hat Andrea Nahles entweder noch immer nicht begriffen, oder aber sie weigert sich, diesen Sachverhalt zur Sprache zu bringen.

Nahles’ Begriffswolken

Aus diesem Grund spricht sich Nahles nach wie vor für »Bedarfsprüfung, Mitwirkungspflicht und Sanktionen« aus. Ihre Grunddenke ist dieselbe wie bei der Agenda 2010. Freilich nehme ich zur Kenntnis, dass Andrea Nahles nicht mehr von »faulen Arbeitslosen« redet, sondern von »Menschen, die Unterstützung brauchen und erhalten müssen«. Aber das ändert nichts daran, dass sie die Hauptverantwortung für Arbeitslosigkeit den Individuen, also den Arbeitslosen, zuweist und nicht den makroökonomischen gesellschaftlichen Verhältnissen, die Arbeitslosigkeit hervorrufen.

Daher verwundert es auch nicht, dass Nahles zufolge von Arbeitslosen für die Gewähr des Bürgergelds »im Gegenzug erwartet werden kann, dass sie dabei mitwirken«, an ihrer vermeintlich selbst verschuldeten Misere etwas abzuändern. Dahinter steckt die absurde Ansicht, dass Arbeitslose bislang vor allem deswegen arbeitslos seien, weil sie bei der Suche nach Arbeitsplätzen nicht hätten mitwirken wollen oder ihnen hierbei die Möglichkeit zur Mitwirkung vorenthalten worden sei.

Nahles’ falsche Sicht auf Lohnabhängige

Von daher rührt es auch, dass Nahles einen Interessengegensatz zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen konstruiert. Ihr Bild: Auf der einen Seite gäbe es hart arbeitende Leute, die begriffen hätten, wie die Suche nach Arbeitsplätzen funktioniere. Auf der anderen Seite stünden individuell gehemmte Arbeitslose, die es eben noch nicht begriffen hätten.

Würden die ersteren den letzteren Transferleistungen ohne Sanktionen zahlen, wäre das eine schreiende Ungerechtigkeit gegenüber den hart arbeitenden Leuten, weswegen Nahles sagt:

»Vier Millionen Empfänger mehr, Mehrkosten von 30 Milliarden Euro im Jahr – übrigens finanziert von Leuten, die hart arbeiten und selbst oft nicht besonders viel verdienen.«

Dabei verkennt sie, dass alle Lohnabhängige davon bedroht sein können, ihren Job zu verlieren, und dass daher die Lohnabhängigen als gesamte Klasse – ob mit oder ohne Job – ein Interesse daran haben, für den Fall der Fälle abgesichert zu sein.

Überdies verkennt sie, dass die Transferleistungen eine stabilisierende Wirkung auf die Güternachfrage und somit auf die Nachfrage nach Arbeitskräften ausüben, was die Verhandlungsposition aller Lohnabhängigen verbessert. Schließlich verkennt sie, dass die allermeisten Arbeitsosen einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen.

Nahles’ falsche Aussagen über DIE LINKE

Ich möchte meine Partei, DIE LINKE, wahrlich nicht von Kritik ausnehmen. Man kann ihr Etliches vorwerfen, nicht aber, was Nahles ihr vorwirft. Nahles unterstellt erstens, dass DIE LINKE noch mehr Leistungsempfänger statt weniger anstrebe und Arbeitslosigkeit nicht verhindern wolle.

Das ist aber nicht wahr. Richtig ist zwar, dass die von der LINKEN geforderte Anhebung der Mindestsicherungshöhe den Kreis der anspruchsberechtigten Aufstocker zunächst ausdehnen würde, aber genauso richtig ist, dass DIE LINKE Arbeitslosigkeit beseitigen und die Anzahl der Aufstocker durch höhere Tariflöhne und einen höheren Mindestlohn reduzieren möchte.

Zweitens unterstellt Nahles, dass DIE LINKE im Ganzen behaupte, »das Ende der Arbeit« nahe »durch die Digitalisierung«. Deshalb wolle sie »den Leuten Geld fürs Nichtstun geben«.

Auch das ist aber nicht wahr. Der größere Teil der LINKEN, so meine Wahrnehmung, geht nicht davon aus, dass unserer Gesellschaft durch Digitalisierung komplett die Arbeit ausgehe. Außerdem möchte DIE LINKE zu gesellschaftlichen Verhältnissen beitragen, bei denen Arbeitskräfte zur Verrichtung guter Arbeit nachgefragt werden.

Ein paar Worte zu Sanktionen

Ein Unterschied der LINKEN zu den meisten anderen Parteien besteht darin, dass Menschen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen – zuallermeist, weil sie durch die gesellschaftlichen Verhältnisse hieran gehindert werden; seltener, weil sie es mangels einer hinreichenden Qualifikation nicht können; seltenst, weil sie es nicht möchten –, nach Vorstellung der LINKEN für ihre Nichtaufnahme von Arbeit nicht sanktioniert werden sollen. Und zwar zurecht nicht!

Zurecht nicht sanktioniert, weil das Existenzminimum durch Sanktionen unterschritten würde, was mit einem sozialistischen Menschenbild unvereinbar wäre. Zurecht auch deswegen nicht sanktioniert, weil unfreiwillig Arbeitslose mit Sanktionen keinen einzigen Arbeitsplatz mehr fänden. Auch deswegen zurecht nicht sanktioniert, weil Sanktionen Angst schüren – und zwar bei Lohnabhängigen mit und ohne Job.

Das sollte Andrea Nahles beachten, wenn sie durchaus zurecht Folgendes anmerkt:

»Das ist der Urfehler von Hartz IV. Er hat dazu geführt, dass das ganze System Angst einflößt.«

Ja, das ist der Urfehler. Und daher gehört die gesamte Systematik von Hartz IV mitsamt ihrer Praxis und auch ihrer unterliegenden Theorien und Begriffe nicht durch eine Konstruktion namens Bürgergeld aufpoliert, sondern abgeschafft und ersetzt durch eine Kombination aus einer anderen makroökonomischen Politik und einer sanktionsfreien Mindestsicherung.

Hierfür spricht sich Andrea Nahles nicht aus – zu meinem Bedauern. Meine Crux bleibt also bis auf Weiteres bestehen…

Alexander Recht, 1970 geboren in Köln, Diplom-Kaufmann, Diplom-Handelslehrer, Oberstudienrat, Bildungsgangleiter sowie Lehrer für VWL und BWL an einem kaufmännischen Berufskolleg in Köln. Sein Beitrag erschien zuerst hier auf Facebook.

Olaf Kosinsky / CC BY-SA 3.0 de

Geschrieben von:

Alexander Recht

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