Wirtschaft
anders denken.

Ohne Migration… Zu Seehofer und der »Mutter aller Probleme«

06.09.2018
Foto: Michael Lucan, Lizenz: / CC-BY-SA 3.0

Seehofers Formulierung, die Migration sei die »Mutter aller Probleme«, bedient eine interessante rhetorische Figur. Über die geschlechtersymbolische Ebene, auf der ein Innenminister spricht – und die Naturalisierung von sozialen Zusammenhängen.

Ohne Migration hätten deutsche Autokonzerne nie einen groß angelegten Abgasbetrug gestartet. Ohne Migration würde niemand mit Wohnraum spekulieren. Ohne Migration hätte sich die Austeritätsideologie nicht durchgesetzt. Ohne Migration wären die öffentlichen Investitionen höher. Ohne Migration würden nicht so viele ICE-Züge in umgekehrter Wagenreihenfolge am geänderten Gleis einfahren. Ohne Migration würde die private Reichtumsmehrung nicht so perverse Ausmaße angenommen haben. Ohne Migration würde der Klimawandel keiner sein. Ohne Migration klemmt das Fahrradschloss nicht mehr.

Die »Mutter aller Probleme«, über die hier berichtet wird, ist eine interessante rhetorische Figur. Vor allem, wenn sie von einem Politiker zur Stillung seines richtungsorientierten Beifallbedürfnisses auf die Bühne geschoben wird, der zugleich Vertreter jener überkommenen Männlichkeits-Kultur ist, aus welcher die Herabwürdigungsparole »Mutti« stammt. Erinnern Sie sich an das Foto der obersten Ministeriumsriege nach Seehofers Amtsantritt? Wer von der »Mutter« spricht, denkt den »Vater« mit; wer der einen sprachlich die Herkunft der Probleme zuweist – sie gebiert sie sozusagen -, imaginiert den anderen als den Löser, von hier ist es zum Erlöser auch nicht mehr weit. Seehofers »Mutter der Probleme« spricht Merkel das »Wir schaffen das« auf einer geschlechtersymbolischen Ebene ab.

Was steckt alles in der Figur? Eine Naturalisierung von sozialen Zusammenhängen, in der die gesellschaftlichen Folgen, die sichtbaren Symptome, die sich aus den ökonomischen, sozialen Widersprüchen ergeben, zu deren Ursachen erklärt werden. Zum Beispiel: Das Mobiltelefon, auf dem Seehofer jetzt die Reaktionen seiner »Mutter« mitliest, ist aus Rohstoffen gefertigt, deren zuvor nötige Ausbeutung irgendwo auf der Welt unter anderem das Land zerstört, das bisher vielen Menschen eine Subsistenzgrundlage war, die dadurch zu Flüchtlingen werden. Man könnte vieler solcher Ursachenketten aufzählen.

Aber weil es so schön ist, einfach weiter: Ohne Migration wäre der Leitzins nicht so niedrig. Ohne Migration würde es kein Hartz-Regime geben. Ohne Migration gebe es längst eine Digitalsteuer auf plattformkapitalistische Profite. Ohne Migration hätte es längst eine europäische Arbeitslosenversicherung gegeben. Ohne Migration würden Zeitungen keine Auflagen verlieren, die sie nun mit Berichterstattung gegen Migration wieder zurückholen wollen. Ohne Migration wäre Horst Seehofer beliebter. Ohne Migration…

Foto: Michael Lucan, Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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