Wirtschaft
anders denken.

»Die Schätzungen sind politisch«

Outputlücken-Schätzungen beschränken die finanzpolitischen Handlungsspielräume.

01.11.2021
Philipp Heimberger ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf makroökonomischen Untersuchungen der europäischen Fiskalpolitik. Neben seiner wirtschaftswissenschaftlichen Tätigkeit publiziert er regelmäßig wirtschaftspolitische Texte, z. B. bei »Makronom« oder im »Handelsblatt«.

Die meisten können sich unter wirtschaftlichem Output etwas vorstellen. Was ist nun aber eine Outputlücke?

Die Outputlücke sollte anzeigen, wann die Kapazitäten einer Volkswirtschaft voll ausgelastet sind und deshalb Inflationsdruck entsteht. Wenn eine große Outputlücke geschätzt wird, zeigt das eine erhebliche Unterauslastung der Produktionsfaktoren an. Ohne Lücke operiert die Wirtschaft hingegen nahe an ihrem Produktionspotenzial, dann droht bei expansiver Wirtschaftspolitik eine sich beschleunigende Inflation.

Wo spielt dieses Konzept eine Rolle?

Überlegungen zur Outputlücke sind relevant in makroökonomischen Theorien. Das Interessante ist aber, dass Schätzungen zur Outputlücke eine große Bedeutung in der wirtschaftspolitischen Praxis haben. Dort gibt die Lücke Anhaltspunkte für die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Wenn die Wirtschaft nahe an ihrem Produktionspotenzial operiert, kann nachfrageorientierte, expansive Politik wenig erreichen. Senkt sie zum Beispiel durch zusätzliche Staatsausgaben die Arbeitslosigkeit, droht schon sich beschleunigende Inflation. Eine größere negative Outputlücke würde hingegen mehr Spielraum anzeigen. Dann kann aktive Finanzpolitik effektiv zur Erholung beitragen, ohne dass sich die Inflation beschleunigt.

Wie werden diese Schätzungen berechnet?

Die Outputlücke ist nicht beobachtbar. Man kann nicht rausgehen und sehen, was der aktuelle oder zukünftige Auslastungsgrad der Wirtschaft ist. Ich brauche ein Modell zur Schätzung. Und die Schätzungen in der EU basieren auf Modellen mit umstrittenen theoretischen und statistischen Annahmen.

Welche sind das?

Konkret verwendet die EU eine neoklassische Produktionsfunktion und für Subkomponenten kommen statistische Filterverfahren zum Einsatz. Kleine Änderungen in den technischen Details können zu großen Abweichungen in den Einschätzungen der Outputlücke führen. Ein wesentliches Problem, das ich in meiner Forschung gefunden habe, ist, dass die Schätzungen systematisch prozyklisch ausfallen: Im Abschwung wird die Lücke kleingerechnet und die Unterauslastung der Wirtschaft unterschätzt. Das führt zu einem Austeritäts-Bias in der Finanzpolitik, der krisenverschärfend wirkt.

Gibt es theoretische Kritikpunkte an der Berechnung und Alternativen?

Es gibt unterschiedliche theoretische Hintergründe: Im keynesianischen Konzept ist das Produktionspotenzial das Niveau der Produktion, das eine Volkswirtschaft bei Vollbeschäftigung maximal erreichen kann – unter der Beschränkung, dass die Inflation nicht exzessiv ausfällt. Dieses Konzept ist seit den 1970er Jahren verdrängt worden und kommt heute nicht zur Anwendung. Das in der EU gängige Modell ist neoklassisch geprägt, es geht um die »normale« Auslastung der Produktionsfaktoren, ohne dass Inflationsdruck entsteht. Die Gründe für die prozyklischen Schätzungen liegen in den Details der statistischen Filter. So treiben beispielsweise Krisen die Schätzungen der »strukturellen« Arbeitslosenquote hoch, was zur Unterschätzung der Unterauslastung der Wirtschaft führt.

Welche politischen Probleme ergeben sich daraus?

In der EU sind die Folgen dramatisch, weil die Schätzungen rechtlich bindend sind. »Strukturelle« Budget-Defizite berechnet man auf Basis der Outputlücke. Die technischen Aspekte können somit gravierende Auswirkungen auf finanzpolitische Spielräume haben. So, wie es gerade in der EU läuft, haben wir einen restriktiven, intransparenten Expertenkäfig, der demokratisch legitimierte Budgetpolitik einschränkt, wobei die Qualität des zugrunde liegenden Modells wissenschaftlich und politisch umstritten ist.

Welche Länder trifft das?

Im Kontext von Covid sind Probleme der Outputlücken-Schätzungen erstmals in Ländern wie Deutschland aufgefallen. Davor traf es die am stärksten von der Finanz- und Eurokrise getroffenen Länder. In Italien gab es vor Covid den politischen Konflikt mit der Europäischen Kommission um die Einhaltung der Budgetziele. Obwohl die Arbeitslosenquote ungefähr zehn Prozent betrug und die Inflation sehr niedrig war, hat die Europäische Kommission geschätzt, dass die Outputlücke null ist. Diese Schätzungen wurden 2018 von der italienischen Regierung in Zweifel gezogen.

Warum ist das relevant?

Es hat enorme politische Auswirkungen. Die EU-Kommission argumentierte, dass Italien gegen die Fiskalregeln verstoße. Ein Defizitverfahren mit Sanktionen für Italien stand im Raum. Wenn die Outputlücke allerdings größer als vier Prozent gewesen wäre, hätte das bedeutet, dass keine Sparmaßnahmen nötig gewesen wären. Aber die Outputlücke ist kleiner geschätzt worden. Die Schätzungen an sich sind politisch.

Reicht einfach mehr Transparenz?

Es gibt zwei Optionen: Erstens könnten bei einer Reform der Fiskalregeln die OutputlückenSchätzungen und die daraus abgeleiteten »strukturellen« Budgetsalden einfach eine kleinere Rolle spielen. Das lässt sich mit volkswirtschaftlichen sowie demokratietheoretischen Argumenten begründen. Die zweite Möglichkeit wäre ein pragmatischer Zugang: Man könnte die Lücke so schätzen, dass makroökonomisch plausiblere Ergebnisse rauskommen. Ein interessanter Vorschlag vom Thinktank »Dezernat Zukunft«: die Budgetpolitik an einer nachhaltigen Vollauslastung der Produktionsfaktoren ausrichten, was zu einem höheren Produktionspotenzial führt. Das ergibt erhebliche budgetpolitische Spielräume im Rahmen der Budgetregeln: zusätzlich 15 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr ab 2023, die etwa für öffentliche Investitionen genutzt werden könnten.

Zum Weiterlesen:

Heimberger: »Keynes, die Outputlücke und Probleme mit den Fiskalregeln«

Heimberger/Truger: »Der Outputlücken-Nonsense gefährdet Deutschlands Erholung von der Corona-Krise«

Dezernat Zukunft: »Eine neue deutsche Finanzpolitik«

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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