Die Naturgesetze der Bewegung
Die ersten Versuche geplanten staatlichen Wirtschaftens entstanden in den frühen Jahren Sowjetrusslands. Und scheiterten. Aus OXI 02/2021.
Er ist das Einfache / Das schwer zu machen ist.« Nie und nirgends hatte Bertolt Brechts »Lob des Kommunismus« so viel Gültigkeit wie in den ersten Jahren Sowjetrusslands. Die Zeilen allerdings, die diesen Versen vorausgehen, galten kaum. »Er ist nicht das Chaos / Sondern die Ordnung«, heißt es da. Aber Chaos herrschte überall und von einer Ordnung konnte nach den Verwüstungen durch Welt- und Bürgerkrieg keine Rede sein. »Die Not und der Ruin sind derart«, gab Lenin 1921 nach der Epoche des »Kriegskommunismus« unumwunden zu, »dass wir nicht imstande sind, die fabrikmäßige, staatliche, sozialistische Großproduktion mit einem Schlag wiederherzustellen«. Die Produktion der Industrie war auf 12,8 Prozent des Vorkriegsniveaus, die des Handwerks auf 44,1 und die der Stahlindustrie gar auf 4 Prozent gesunken. Etwas besser sah es in der Landwirtschaft aus, denn die Ernten erreichten 1920 immerhin noch 62,8 Prozent des Niveaus von 1913. Das Außenhandelsvolumen des international völlig isolierten Staates dagegen rutschte von 2,9 Milliarden Rubel auf 30 Millionen hinab. »Der Verfall der Produktivkräfte stellte alles in den Schatten, was die Geschichte diesbezüglich früher aufgewiesen hatte. Das Land und mit ihm die Macht standen am Rande des Abgrunds«, resümierte Leo Trotzki, damals Kriegskommissar und zweiter Mann des jungen Staates, noch anderthalb Jahrzehnte später.
Auf historische Erfahrungen konnten die sich verzweifelt – und nicht selten mit despotischen Mitteln – an der Macht haltenden russischen Marxisten zudem nicht zurückgreifen. Die 72 Tage der Pariser Kommune hatten kaum gereicht, um über den Umbau und Neuaufbau einer Ökonomie überhaupt nur zu diskutieren. Und auch die Überlegungen von Karl Marx und Friedrich Engels enthielten kaum Antworten auf konkrete Fragen. Denn Utopie war ihre Sache nicht gewesen. Nur wenige Sätze hatten die beiden in ihrem »Manifest der Kommunistischen Partei«, der Agitationsschrift des Bundes der Kommunisten, dessen Anhängern und Gegnern über die Gesellschaft nach dem »radikalste[n] Brechen« mit der kapitalistischen Ordnung verraten: »Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen«, heißt es dort, »der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren«. Auch danach war wenig hinzugekommen, sieht man davon ab, dass die Pariser »Himmelsstürmer« (Marx) von 1871 den Alten aus Trier noch gelehrt hatten, dass die »fertige Staatsmaschinerie« zerschlagen werden müsse, um an ihre Stelle »nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft« zu setzen, »vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit« – und unbedingt demokratisch aufgebaut.
Gemessen selbst an diesen wenigen Eckpunkten sah die Situation in Russland wenig berauschend aus, denn die Entwicklung eines industriellen Kapitalismus als Voraussetzung einer sozialistischen Umgestaltung, war noch kaum entwickelt. Das Zarenreich war immer noch ein Agrarland, in dem die Leibeigenschaft erst 50 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges abgeschafft worden war. Die Klasse der Lohnarbeiter umfasste im Reich mit seinen 150 Millionen Einwohner gerade einmal 10 Millionen Menschen, die allerdings, eine unbedingte Voraussetzung der Revolution, fast zur Hälfte in Großbetrieben konzentriert waren. Es ist eine Binsenweisheit, dass kein Marxist eine sozialistische Umgestaltung in diesem am wenigsten entwickelten Land Europas überhaupt für möglich hielt.
Auch für die Bolschewiki stellte Revolution lediglich eine Etappe der »permanenten Revolution« dar – eine Konzeption, die Trotzki und der deutsch-russische Revolutionär Alexander Helphand, der unter dem Namen Parvus bekannt wurde, nach den Erfahrungen der Revolution von 1905 entwickelt hatten und die sich Lenin seit seiner Rückkehr nach Russland im Frühjahr 1917 zu eigen gemacht hatte. Der Ausdehnung der Revolution kam eine zentrale Rolle zu. Die Aussagen führender Kader über die Notwendigkeit von Umstürzen in wenigstens einigen weiteren und entwickelteren Ländern – vor allem Deutschland kam hier eine überragende Rolle zu – sind Legion. »Unsere Rettung aus all diesen Schwierigkeiten – das wiederhole ich nochmals – ist die Revolution in ganz Europa«, rief Lenin etwa den Delegierten des ersten nachrevolutionären Parteitags seiner Organisation im März 1918 zu.
Die Revolutionen in Europa waren jedoch ausgeblieben oder niedergeschlagen worden. Ausgerechnet die Revolutionäre in Russland aber hatten sich trotz Millionen von Toten und einem schier unbegreiflichen Aderlass revolutionärer Arbeiter und kommunistischer Kader im Bürgerkrieg gegen die zaristischen Aufständischen und ausländischen Interventionsarmeen behauptet. Der in diesen Jahren aus der Not geborene »Kriegskommunismus« ist von Trotzkis Biograf Isaac Deutscher einmal als »tragische Travestie der marxistischen Vision der Zukunftsgesellschaft« bezeichnet worden. »Wir akkumulierten nicht, sondern waren gezwungen, unsere Vorräte so wirtschaftlich wie möglich zu verbrauchen. Die Produktion war nicht Reproduktion, sondern Mittel, um Rohstoffe und fixes Kapital in Konsumgüter und Waffen zu verwandeln«, hat Jewgeni Preobraschenski, der wichtigste Wirtschaftstheoretiker der Bolschewiki, rückblickend resümiert. Zudem drohte das fragile Bündnis mit den Bauern, die durch die drakonischen Requirierungen zur Versorgung der Armee und der Stadtbevölkerung arg gebeutelt waren, zu zerbrechen.
Dass es so nicht weitergehen konnte, war ausgemacht. Die Unmöglichkeit der Vorstellung, per Befehl »die staatliche Produktion und staatliche Verteilung der Güter in einem kleinbäuerlichen Land kommunistisch regeln zu können«, war offenkundig. »Das Leben hat unseren Fehler gezeigt«, gestand Lenin zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution unumwunden ein. Nicht nur die immer stärkere Unterordnung jeglicher Rätedemokratie unter die Herrschaft der Partei, immerhin zunächst noch von den führenden Bolschewiki reflektiert und als stetes Übergangsphänomen dargestellt – das allerdings tragischerweise nie enden sollte –,erinnerte kaum an eine freie Assoziation der Produzenten. Auch die Eigentumsformen stellten kaum die Voraussetzungen einer zentralisierten und geplanten Übergangswirtschaft dar. Während die Industriebetriebe, ebenso wie die Banken, »mit elementarer Gewalt« (Lew Kamenew) und entgegen den Intentionen der Bolschewiki schon seit 1918 durch die Fabrikkomitees ihren Eigentümern entrissen worden waren, herrschte auf dem Land die bäuerliche Parzellenwirtschaft – für Marx stets das größte Hindernis jeglicher Emanzipationsbewegung – vor. Bereits am zweiten Tag nach der Revolution waren dort die Großgrundbesitzer enteignet und war das Land an die Bauern gegeben worden.
Auf der Basis dieses gemischten Wirtschaftssystems entstand nun die erste Planwirtschaft der Welt. Denn die 1921 beschlossene »Neue Ökonomische Politik« (NEP) stellte zwar den Markt wieder her – die Ablieferungspflicht der Bauern wurde durch eine Naturalsteuer ersetzt, die Handelsfreiheit für den Einzelhandel wiederhergestellt, ausländischen Unternehmen Konzessionen angeboten, die Entlohnung in Naturalien abgeschafft, der Rubel konsolidiert und die Kleinindustrie an private Unternehmer verpachtet –, aber zeitgleich wurde auch die staatliche Planungskommission (Gosplan) gegründet. Deren industrielle Produktionsprogramme, Rohstoffzuteilungen, Preisregulationen und Hebungen des Lebensstandards der Beschäftigten sollten eine »energische Aktivierung der Produktivkräfte« anstoßen, wie es in ihrer Zielstellung hieß. Auch der 1925 verabschiedete erste gesamtwirtschaftliche Jahresplan, die »Kontrollziffern der Volkswirtschaft«, war das Ergebnis dieser neuen Institution, deren Eingriffsrechte jenseits der einzelnen Betriebe sich allerdings noch relativ bescheiden ausnahmen.
Den sich daraus ergebenden Widerspruch hat niemand so gut auf den Punkt gebracht wie Preobraschenski: »Auf dem Territorium der Sowjetrepublik werden wir in den nächsten Jahren zwei verschiedene ›Naturgesetze der Bewegung‹ (Marx) beobachten und studieren können«, schrieb er zu Beginn der NEP, »die historisch durch einige Jahrhunderte voneinander getrennt sind, durch eine Ironie des Schicksals jedoch auf einem und demselben Territorium und zur gleichen Zeit wirken: Das Naturgesetz der Entwicklung der Warenproduktion, das kapitalistische Verhältnisse neu schafft […], und andererseits das Naturgesetz der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, deren Basis die Großindustrie ist«.
Und auch wenn eine gewisse Konsolidierung der Verhältnisse eintrat, so war dieser Widerspruch des »Staatskapitalismus« (Lenin) letztlich kaum zu lösen. Davon kündeten die seit 1923 unter Begriffen wie »Schere« oder »Warenhunger« bekannt gewordenen Krisenerscheinungen. Ihr gemeinsamer steter Hintergrund war, dass der landwirtschaftliche Ausstoß deutlich schneller wuchs als der der Industrie. 1923 erreichte die Agrarproduktion bereits wieder drei Viertel des Vorkriegsniveaus, wohingegen die der Industrie lediglich bei einem Viertel lag. Durch diese Disproportionalität und die ihr folgenden Verteuerungen der Konsumgüter gelang es nicht, die Bauern mit den von ihnen erwünschten Produkten zu versorgen, was wiederum dazu führte, dass diese die Städte nur unzureichend mit Nahrungsmitteln zu beliefern bereit waren und so eine Ausdehnung der Produktion neben der fehlenden Rohstoffbasis auch daran scheiterte, dass dringend benötigte Arbeitskräfte nicht in die urbanen Zentren geholt werden konnten.
Deprimiert musste der Volkskommissar für Finanzen, Grigori Sokolnikow, feststellen, dass man mehr als die Herstellung des Vorkriegsniveaus nicht erreichen konnte: des Niveaus, das »zum Aufstand der überwiegenden Mehrheit des Volkes führte, dem diese Verhältnisse unerträglich waren«, wie er fünf Jahre nach Einführung der NEP seine Genossen erinnerte. In den Debatten – zumindest innerhalb der Partei gab es sie noch – stritten die Linke um Preobraschenski und Trotzki, die eine Erhöhung der Steuern der reichen Bauern zur Bildung eines Investitionsfonds nutzen wollte, mit der Mehrheit der Partei um Nikolai Bucharin, die vor einer »Überindustrialisierung« warnte und die Lösung in der stärkeren Förderung der Kleinproduktion von Konsumgütern sah. Bis heute lohnt es, diese Beiträge zu lesen, waren es doch Versuche, die Marx‘sche Theorie an Verhältnisse anzupassen, für die sie nicht entwickelt worden war.
Letztlich wurde keiner dieser Wege beschritten. Die weitere Entwicklung ist bekannt: Nach dem Ausschluss und der Verfolgung der Linken wurde die NEP 1928, auch aufgrund des zunehmenden internationalen Drucks auf die Sowjetunion und der Notwendigkeit einer beschleunigten Aufrüstung, durch den »Aufbau des Sozialismus in einem Land« – eine der sozialistischen Bewegung immer fremd gewesene Vorstellung – beendet. Hals über Kopf und mit dem schon sprichwörtlichen Terror leitete die Führung um Stalin, die bis dahin die weitaus vorsichtigeren und langfristig angelegten Initiativen der linken Opposition immer abgelehnt hatte, eine Schwerindustrialisierung durch Fünfjahrespläne und eine Zwangskollektivierung ein, die zu millionenfachem Verhungern führte. Gegner oder auch nur potenzielle Kritiker, darunter die gesamte alte Garde der Partei, wanderten im nächsten Jahrzehnt zu Hunderttausenden in die Arbeitslager, verschwanden einfach oder wurden in Schauprozessen zumeist zum Tode verurteilt.
Auch wenn dies alles andere als vorgezeichnet war und andere Wege mit Sicherheit möglich gewesen wären, so verdeutlichte diese Konterrevolution doch eines: Die Isolation der russischen Revolutionäre und die Unterentwicklung des Landes hatten ihnen Aufgaben gestellt, die nicht nur schwer, wie es Brecht formulierte, sondern vermutlich unmöglich zu meistern waren. »Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist«, hatte Marx im »Kapital« gewarnt, »kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren«.
Von einer Ordnung konnte nach den Verwüstungen durch Welt- und Bürgerkriege keine Rede sein.
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