Wirtschaft
anders denken.

Pluralismus-Debatte und Plurale Ökonomik

14.09.2021
Ein Modell-Segelboot segelt über stilles GewässerBild von S. Hermann & F. Richter auf PixabayModellbau auf Reisen: Wohin entwickelt sich die Plurale Ökonomik?

Wenn es weiter so läuft wie bisher, müssen Gesellschaft und Politik weiter auf echte Alternativen im ökonomischen Denken warten. Aus OXI 9/21.

Im Frühjahr 2000 legten französische Studierende der Ökonomik an der Sorbonne den Grundstein für eine globale Studierenden-Bewegung, die sich kritisch mit dem eigenen Fach auseinandersetzt. 2003 folgte die Gründung eines gleichgesinnten Arbeitskreises in Deutschland, der nach diversen Umbenennungen heute »Netzwerk Plurale Ökonomik« heißt. Dieses Netzwerk Plurale Ökonomik etablierte sich als zentraler Akteur der damit verbundenen Pluralismus-Debatte im deutschsprachigen Raum. Gefordert werden Pluralität hinsichtlich ökonomischer Theorien und Methoden sowie mehr Interdisziplinarität. Mit der Kritik an der Dominanz einer mathematisierten Modellökonomik geht ferner die Forderung nach einer stärkeren sozialwissenschaftlichen Ausrichtung sowie der Berücksichtigung wirtschaftsethischer, ideengeschichtlicher sowie erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Aspekte des Wirtschaftens einher. Diese seit über 20 Jahren geführte Pluralismus-Debatte hat ihre Spuren in der deutschsprachigen Volkswirtschaftslehre hinterlassen.

So wurde in Bernkastel-Kues die Cusanus-Hochschule mit einer dezidiert pluralen Ausrichtung gegründet, die auch über eine Professur für Plurale Ökonomik verfügte. Darüber hinaus existieren eine Juniorprofessur für Plurale Ökonomik (Siegen) und eine Professur für Sozioökonomie mit Schwerpunkt Plurale Ökonomik (Duisburg-Essen). Die Karlshochschule in Karlsruhe schafft gerade eine Professur für Plurale und Heterodoxe Ökonomik und an der Europa-Universität Flensburg entsteht ebenfalls eine Professur für Plurale Ökonomik. An einzelnen Hochschulen wurden plural-ökonomische Studiengänge eingerichtet. Es gibt die Lehrplattform »Exploring Economics«. Das Netzwerk Plurale Ökonomik hat seine Arbeit professionalisiert, d.h. es gab zahlreiche Veranstaltungen, Kampagnen und eine respektable Medienpräsenz. Außerdem sind über die Jahre verschiedene Lokalgruppen des Netzwerks Plurale Ökonomik entstanden. Hinzu kommt, dass der ökonomische Mainstream die Kritik der Pluralen Ökonomik heute nicht mehr so einfach als Befindlichkeit abtun kann. Schließlich entstanden in den letzten Jahren verschiedene Studien, um die Einseitigkeit von Lehrbüchern und universitären Lehrinhalten zu belegen und über Zitierkartelle in der Mainstream-Ökonomik, ordoliberale (Mainstream-)Netzwerke sowie die Entwicklung der heterodoxen Ökonomik in Deutschland zu berichten. Also alles in allem eine gute Entwicklung? Ein näherer Blick gibt Anlass zur Zurückhaltung.

Das fängt bereits bei der Hochschullehre an. Dazu sei auf den Sammelband »Wirtschaft neu lehren« verwiesen, in dem Lukas Bäuerle (Cusanus-Hochschule) u. a. Beiträge zur pluralen Hochschullehre zusammentrugen. Dazu gab es einen breit gestreuten Aufruf mit der Bitte um Beiträge. Elsa Egerer, die damals wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen war, steuerte dort zwar einen Artikel zum Dialogischen Pluralismus als Polit-Talk bei. Aber mit Blick auf die beiden Standorte Universität Siegen und Duisburg-Essen, wo plurale Studiengänge eingerichtet wurden, fällt es schon auf, dass es keine Beiträge von den dortigen Professor:innen für Plurale Ökonomik gibt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Aufruf »Econ4Future statt business as usual!«, mit dem »Economists 4 Future« (AT-DE-CH) – die aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik hervorgingen – im Wintersemester 2020/2021 eine Reform der ökonomischen Bildung einforderten. Zahlreiche Institutionen – Gewerkschaften, Bildungsinstitutionen usw. – und die Cusanus-Hochschule unterstützten dies. Aber wieder fehlte die Unterstützung der Fachbereiche der Universitäten Siegen und Duisburg-Essen, die sonst gerne um Studierende für ihre pluralen Studiengänge werben.

Bemerkenswert still ist es auch zur Corona-Krise. Dabei gäben die Systemrelevanz, das Thema Care, die Patent-Problematik usw. genügend Anlass, um mit der Expertise der pluralen Ökonomik aufzutrumpfen. Und als »Top«-Ökonom:innen dabei behilflich waren, Corona-Wirtschaftspakete zu schnüren, hätten Plurale Ökonom:innen auf die besondere Situation der freien Wohlfahrtspflege (Non-Profit-Ökonomien) und der Versorgungsökonomie (Care, Haushalt usw.) hinweisen können. Stattdessen wurden diese Felder ausgespart, sich selbst oder anderen Disziplinen wie der Soziologie überlassen.

Ähnlich verhält es sich beim Klima. Zwar gibt es ein paar Beiträge von Helge Peukert (Universität Siegen) und aktuell sein Buch »Klimaneutralität jetzt!«; und 2020 erschien der Sammelband »economists4future« von Lars Hochmann, damals Vertretungsprofessor für Plurale Ökonomik an der Cusanus-Hochschule. Doch darüber hinaus ist bislang sehr wenig von den berufenen Vertreter:innen der Pluralen Ökonomik zu vernehmen. Selbst in der Makronom-Debattenreihe »Economists 4 Future« sind schwerpunktmäßig Forschende aus dem Mittelbau, aber keine Professor:innen für Plurale Ökonomik mit Beiträgen vertreten.

Es gibt eine Reihe weiterer Themen, zu denen es verhältnismäßig still um die institutionalisierte Plurale Ökonomik ist. Das gilt z. B. für die Debatte um die existenzbedrohlichen Sanktionen im Hartz-IV-System oder die Diskussionen über Konzentrationen der Einkommens- und Vermögensverteilung. Bei Letzterem verhält es sich zwar nicht so, dass es dazu keine Expertise gäbe. Aber für gewöhnlich bleibt diese auf statistische Analysen beschränkt. Dafür braucht es keine Plurale Ökonomik. Diese wäre stattdessen dafür prädestiniert, über statistische Analysen hinausgehend auch normative und kulturelle Fragestellungen einzubeziehen: Welches Verteilungsniveau soll warum und in welchem Zeitraum angepeilt werden? Wie hoch sollen dann etwa Vermögenssteuern sein?

Als Claudia Sahm 2020 mit ihrem »Economics is a disgrace« auf das toxische Klima in der Ökonomik aufmerksam machte, auf Rassismus, Sexismus usw. hinwies, war auch nicht viel aus der institutionalisierten Pluralen Ökonomik zu vernehmen. Verwunderlich, ist doch die Analyse der Verhältnisse in der Ökonomik (inklusive der Marginalisierungsprozesse) ein zentraler Bestandteil der Pluralismus-Forschung. Ähnliches gilt für die Debatte um Rassismus und postkoloniale Deutungsmuster in der Ökonomik, wie sie im Rahmen von »Black Lives Matter« diskutiert wurden. Auch die bisweilen befremdliche Nähe zwischen Ökonomik und (neu-)rechten Gruppierungen und die Infragestellung von »Menschenwürde« durch Ökonom:innen – wie sie in Corona-Zeiten zu erleben ist – hätte eine kritische Plurale Ökonomik gebraucht. Davon ist aber nichts zu vernehmen. Kritische Stimmen gibt es auch dort allenfalls am (prekären) Rand. Und zu »postkolonialen« Deutungsmustern müssen sich Studierende selbst organisieren.

In der Summe ergibt sich damit eine Diskrepanz zwischen dem, was Studierende der Pluralen Ökonomik schon sehr lange fordern, und dem, wie Plurale Ökonomik institutionell an Hochschulen realisiert wird. Hier stellt die Cusanus-Hochschule mit ihrem geistes- und sozialwissenschaftlichen Profil eine positive Ausnahme dar. Ansonsten befinden sich der Ausbau und die Institutionalisierung einer ausgewiesenen Expertise in wirtschaftsethischen Fragestellungen, in ökonomischer Ideengeschichte oder Ansätzen abseits von Modellökonomiken immer noch im stiefelterlichen Abseits. Die oben beschriebenen Fragestellungen liegen weiter brach.

Um ein Missverständnis zu vermeiden, sei klargestellt, dass natürlich auch heterodoxe Modellökonomiken zum Spektrum der Pluralen Ökonomik gehören. Doch es fällt auf, dass etwa feministische Ökonomiken, marxistische Perspektiven, alt-institutionelle Konzepte oder sozialökonomische Perspektiven immer noch am prekären Rand der Wissenschaften vertreten werden. Es entsteht sogar der Eindruck, dass bei der Institutionalisierung der Pluralen Ökonomik bislang zum Beispiel wirtschaftsethische Perspektiven oder alternative Ansätze des Wirtschaftens nicht wirklich erwünscht waren oder zumindest zugunsten heterodoxer Modellökonomiken suspendiert wurden. Besonders deutlich wurde das kürzlich im Berufungsverfahren um eine Professur für Plurale Ökonomik an der Europa-Universität Flensburg.

Diese sollte als Brückenprofessur zum von Harald Welzer geführten »Norbert Elias Center for Transformation Design & Research« in Flensburg fungieren. Die Ausschreibung war entsprechend interdisziplinär ausgerichtet, adressierte also nicht ausschließlich Ökonom:innen, sondern auch allgemein Wissenschaftler:innen mit sozialwissenschaftlichem Abschluss. Eigentlich gute Voraussetzungen dafür, um zu einer Bewerbung zu motivieren. Jedoch blieb von der Interdisziplinarität und Offenheit, wie sie der Ausschreibung zu entnehmen war, am Ende wenig übrig. Es wurden überwiegend heterodoxe Modellökonom:innen bevorzugt. An dieser Stelle muss sich die Szene fragen lassen, wie damit umzugehen ist, wenn Plurale Ökonomik auf heterodoxe Modellökonomik verengt wird. Schließlich unterminiert diese Engführung das ursprüngliche Anliegen der Pluralen Ökonomik: eine sozialwissenschaftliche Ökonomik, die viel anders macht als der ökonomische Mainstream. Faktisch gibt es heute im deutschsprachigen Raum kaum eine Professur für Plurale Ökonomik, die in diesem Sinne sprachfähig ist oder mit fundierter Expertise als Anlaufstelle fungieren kann für non-formale, sozialwissenschaftliche, normative, kulturaffine usw. Ökonomik oder für Versorgungsökonomie, solidarische Wirtschaftsformen und den Non-Profit-Sektor. Warum ist das so? Was läuft schief, wenn eine sozialwissenschaftliche Ökonomik auch in der Pluralen Ökonomik (weiter) marginalisiert wird?

Jedenfalls erweist sich diese Entwicklung auch für offene Vertreter:innen einer Mainstream-Ökonomik als unerfreulich: Was sollen sie davon halten, wenn sie etwa mit der Kritik an der Mathematisierung der Ökonomik konfrontiert werden, sich für Alternativen offen zeigen, dann aber nur mathematisch-formale Modellökonomiken der heterodoxen Ökonomik (Postkeynesianismus, Evolutionsökonomik, Komplexitätsökonomik usw.) vorgesetzt bekommen? Wenn kürzlich der Mannheimer Ökonom Tom Krebs in einem Essay für eine sozial-liberale Klimapolitik plädiert, dann zeigt das durchaus eine gewisse Offenheit, die aber nach einer Reibfläche jenseits heterodoxer Modellökonomiken ruft.

Insoweit trübt sich der positive Blick auf die Entwicklung der Pluralen Ökonomik erheblich ein. Es ist ernüchternd, dass wir immer noch weit entfernt sind von einer Pluralen Ökonomik, die tatsächlich sozialwissenschaftlich und interdisziplinär ausgerichtet ist, auch feministische und wirtschaftsethische Aspekte angemessen würdigt, Care als zentrales Fundament des Wirtschaftens anzuerkennen weiß und vieles anders macht als die oft kritisierte Modellökonomik. Dabei braucht es diese echten Alternativen. Die durch Corona aufs Auge gedrückte Systemrelevanz von professionalisierter Care-Arbeit und unbezahlten Sorgetätigkeiten, die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation, Fragen zur Einkommens- und Vermögensverteilung und andere Themen zeigen an, dass es mit etwas mehr Postkeynesianismus oder anderen heterodoxen Modellökonomiken nicht getan ist. Trotz der durchaus erfreulichen Veränderungen im Feld der Pluralen Ökonomik könnten Stiftungen, Gewerkschaften, Parteien oder auch offene Ökonom:innen in den Hochschulen deutlich mutiger vorangehen, wenn ihnen tatsächlich etwas an echten Alternativen zur Mainstream-Ökonomik gelegen ist. Andernfalls droht sich die bislang zu kurz gegriffene Pluralisierung der Ökonomik zu verfestigen. Dann wird die Pluralisierung der Ökonomik halbherzig und verengt bleiben. In der Konsequenz müssen Gesellschaft und Politik dann weiter auf echte Alternativen im ökonomischen Denken warten – oder sich in anderen Disziplinen danach umschauen.

Geschrieben von:

Sebastian Thieme

Wirtschaftsethiker

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