Wirtschaft
anders denken.

Postwachstumsökonomie – Ideologie des Verzichts?

22.06.2020
OXI

Ist die Postwachstumsökonomie bloß eine Verzichtsideologie? Eine Erwiderung auf Bontrup und Daub erschienen in OXI 06/2020.

Der von Bontrup und Daub vorgelegte Text enthält in seiner Kritik an einer »Ökonomie des Verzichts« und sogenannten »Antiwachstumsökonomie« nicht nur inakzeptable Behauptungen und Schlussfolgerungen, sondern unangemessene Pauschalisierungen. Einige davon sollen im Folgenden aufgegriffen werden.

Zunächst versuchen die Autoren herauszustellen, dass die aktuelle Pandemie keine Relevanz für wachstumskritische Positionen besitze. Diese sei vielmehr »ein exogener Schock«, »während die wirtschaftliche Krise von 2007 eine endogene kapitalistische Systemkrise war«.

Aber auch wenn die Entstehung des Corona-Virus als exogen betrachtet werden könnte: Der Übergang von einer Epidemie zu einer Pandemie, zudem mit solcher Wucht und Geschwindigkeit, bedurfte eines Netzes globalisierter und hochfrequenter Austauschbeziehungen, sowohl den Güter- als auch den Personenverkehr betreffend.

Genau hierin besteht eine zwingende Voraussetzung für fortwährendes Wirtschaftswachstum, das im Falle kürzerer Reichweiten von Produktionsketten längst an seine Grenzen gelangt wäre. Nur durch eine fluide, hypermobile Entgrenzung spezialisierter Produktions- und Leistungsprozesse lassen sich beständig neue Verwertungs- und Effizienzpotenziale erschließen. Damit wird das Wachstumsmodell äußerst fragil. Denn wenn alles mit allem verbunden ist, lassen sich auch noch so weit entfernte Störungen nicht mehr einhegen, sondern breiten sich rapide aus und durchdringen den globalen Raum. Diese Verletzlichkeit ist der Preis für die Wohlstandsexpansion. Deshalb ist die Corona-Krise zugleich eine Wachstumskrise.

Sodann werfen Bontrup und Daub den »Postwachstumstheoretikern« eine »moralisch-subjektivistisch[e]« Argumentation vor: Der einzelne Mensch solle gefälligst seinen Konsum (Verbrauch) einschränken, was »allgemeinen individuellen Handlungsvorwürfen« entspräche.

Diese Verdrehung und Undifferenziertheit ignoriert folgenden Sachverhalt, der konstitutiv für die Postwachstumsökonomie ist: Wenn der Planet erstens physisch begrenzt ist, zweitens jede theoretische und empirische Basis dafür fehlt, dass industrieller Wohlstand von ökologischen Schäden entkoppelt werden kann, drittens die irdischen Lebensgrundlagen dauerhaft erhalten bleiben sollen und viertens globale Gerechtigkeit herrschen soll, muss eine Obergrenze für den von einem einzelnen Individuum beanspruchten materiellen Wohlstand existieren.

Dabei ist es unerheblich, ob die Einhaltung dieser Restriktion aus einer autonomen zivilgesellschaftlichen Bewegung resultiert, die sich an der regulativen Idee (ähnlich dem kategorischen Imperativ von Kant) einer global gerechten und überlebensfähigen Daseinsform orientiert, oder ob sie durch eine demokratisch legitimierte Rahmen- oder Systemveränderung implementiert wird.

Reduktionserfordernisse würden nur jene betreffen, deren Lebensführung oberhalb eines gerechtigkeitsfähigen Niveaus an ökologischer Belastung zu verorten ist. Zu behaupten, die Postwachstumsökonomie impliziere eine undifferenzierte Konsumkritik, läuft daher ins Leere.

Weiterhin begehen die Autoren einen eklatanten Kategorienfehler: Sie halten einer überlebensnotwendigen Suffizienz, die pauschal als »streng calvinistisch« oder als »Enthaltsamkeitskonsum« gebrandmarkt wird, entgegen, dass damit von der »Widersprüchlichkeit des kapitalistischen Systems« und der ihm »innewohnende[n] Tendenz zu Zerstörungen der einzigen ›Springquelle‹, der menschlichen neuwertschaffenden Arbeit« abgelenkt, also das eigentliche Problem nicht erkannt würde.

Aber die von Bontrup und Daub befürwortete Überwindung der »kapitalistischen Ausbeutungsordnung« könnte nicht im geringsten dazu verhelfen, gleichsam die physikalischen und ökologischen Gesetze dieses Planeten zu tilgen, aus denen sich die oben genannten Prämissen der Postwachstumsökonomie ableiten. Die Emissionen einer Flugreise oder eines Kohlekraftwerks sind unter nicht-kapitalistischen Verhältnissen dieselben. Ein materielles Obergrenzen- und damit Gerechtigkeitsproblem lässt sich nicht, wie durch ein Wunder, mittels veränderter Eigentums- oder Verwertungslogiken lösen. Naturwissenschaftliche Sachverhalte lassen nicht mit sich verhandeln.

Die Autoren kritisieren, es sei nicht geklärt, wer eine mögliche Beschränkung festlegt. Dabei versteht es sich von selbst, dass ein gerechtigkeitsfähiger Handlungsrahmen nur auf demokratischem Weg zugrunde gelegt werden kann. Außerdem sind die Belastungsgrenzen ökologischer Senken- und Quellenfunktionen alles andere als unbekannt.

So würde die Einhaltung des 1,5- bzw. 2-Grad-Klimaschutzziels bedeuten, dass bei 7,6 Milliarden Erdbewohnern pro Person jährlich ca. eine Tonne an CO2-Äquivalenten zulässig wäre. In Deutschland beträgt dieser Wert momentan 12 Tonnen, was eine Verringerung um den Faktor 12 notwendig werden lässt, für die niemals eine technische Lösung existieren kann.

Wenn Bontrup und Daub dieses Reduktions- bzw. Selbstbegrenzungsziel für nicht akzeptabel halten, negieren sie entweder das Erfordernis hinreichenden Klimaschutzes oder globaler Gerechtigkeit, oder sie glauben an einen technischen Messias, mit dem die ökologische Entlastung ohne Lebensstilveränderung erreichbar ist. Aber das sollten die Autoren dann ehrlicherweise offenlegen und begründen.

Der im Text durchgängig bemühte Begriff des »Verzichts« erweist sich auch aus zwei anderen Gründen als abstrus. Erstens: Wie kann jemand auf etwas verzichten, was ihm/ihr auf einem begrenzten Planeten und auf Basis ökologisch plünderungsfreier Arbeit oder Produktion niemals zugestanden haben kann? Zweitens scheint den Autoren nicht bekannt zu sein, dass die Suffizienzlogik innerhalb der Postwachstumsökonomie nicht allein auf einem Verantwortungsprinzip (Sollensethik), sondern ebenso auf psychischen Wachstumsgrenzen beruht. Die durchschnittliche Lebenszufriedenheit hat sich gerade in den Konsumgesellschaften vom Zuwachs an Konsummöglichkeiten entkoppelt. Somit gilt für einen immer größeren Bevölkerungsanteil, dass dessen Lebensqualität durch Praktiken der Entschleunigung, Befreiung von Ballast und Schutz vor Reizüberflutung sogar steigen kann (Strebensethik).

Im Übrigen bleiben Bontrup und Daub jede Begründung dafür schuldig, warum eine suffiziente Anpassung von Produktion, Konsum und Mobilität einer Beibehaltung der »profitheischenden Kapitallogik« Vorschub leisten soll. Den Autoren scheint entgangen zu sein, dass ein gradueller Rückbau des Industriesystems aus zwei Gründen eine weniger kapitalintensive (folglich arbeitsintensivere) Produktionsstruktur erfordert, nämlich erstens, um Wachstumstreiber zu mildern, und zweitens, um bei verringertem Output weiterhin Vollbeschäftigung erreichen zu können. Dies harmoniert am ehesten mit Organisations- und Unternehmensformen, die nicht profitorientiert wirtschaften.

Weiterhin wird konstatiert, »Postwachstumsfetischisten« würden in die »Kraft des Marktes und seine Selbstheilungskräfte« vertrauen. Dies zu behaupten setzt abermals voraus, sich nicht mit den Inhalten der Postwachstumsökonomie befasst zu haben. Denn diese sieht explizit eine Kombination dreier sich ergänzender Versorgungssysteme vor, von denen zwei gerade nicht mit den vorherrschenden Marktprinzipien kompatibel sind bzw. diese sogar überwinden.

Die Autoren sprechen Menschen unter den vorherrschenden Verhältnissen rigoros ab, »freie, autonome Subjekte« zu sein, vielmehr handele es sich um »abhängige Subjekte, die in dieses globalisierte System geworfen sind«. Mit diesem wohlfeilen und bequemen Diktum – zumindest in dieser undifferenzierten Form – lässt sich praktisch jede individuelle Verantwortung für eigene Handlungen in Abrede stellen, die absolut selbstbestimmt erfolgen.

Nie waren die Bewohner der industrialisierten Hemisphäre freier, reicher, gebildeter, verfügten nie über mehr technische Kompetenz und Innovationspotenziale – und lebten zugleich nie rücksichtsloser über ihre Verhältnisse. Dies zu thematisieren und zu missbilligen muss in einer liberalen Demokratie legitim sein, wenn diese überleben soll. Oder existiert ein Recht auf ökologischen Vandalismus, der wissentlich, ohne Notwendigkeit und ohne Zwang praktiziert wird?

Überall dort, wo der Text keine aus dem wachstumskritischen Zusammenhang gerissenen Sachverhalte verdreht, falsch wiedergibt oder sich in Verunglimpfungen (»Theorie der Halbbildung«, »Fetischist«, »Ideologe«, »kindliches Verhalten«, »Verzichtscalvinisten«, »Zyniker« etc.) ergießt, bedient er sich alt-marxistischer Begründungsebenen. Unter Rückgriff auf die Arbeitswertlehre wird auf den »einzig neuwertschaffenden Menschen« verwiesen.

Auch wenn Marx vor der Publikation seines epochalen Werkes »Das Kapital« nicht mehr Gelegenheit hatte, sich mit den Gesetzen der Thermodynamik vertraut zu machen, ist heute niemand gezwungen, die darauf basierenden schweren Irrtümer zu übernehmen: Materieller Wohlstand verzehrt Material und Energie. Der Beitrag menschlicher Arbeit reduziert sich im Zuge tiefgreifender Industrialisierungswellen zusehends auf die Bedienung jener Technologien, welche die physische Transformation in wachsendem Maße umsetzen – mit allen ökologischen Wirkungen, die Marx seinerzeit nicht erahnen konnte. Würde er heute noch leben, müsste man ihn vor manchen seiner aktuellen Anhänger schützen.

Geschrieben von:

Nico Paech

Professor für Plurale Ökonomik

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