Wirtschaft
anders denken.

Die Rechnung kommt später

21.06.2021
Eine Schere schneidet viel von den nassen langen Haare einer Person ab. Auch das hat einen PreisBild von Jo_Johnston auf PixabayDa Brot und Haarschnitt Waren sind, kann man sie über den Preis vergleichen

Bei Karl Marx ist »der Preis« Ergebnis der Analyse, nicht deren Startpunkt wie in der Volkswirtschaftslehre. Aus OXI 6/21.

Nimmt man in der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Lesekreis zum Band 1 des marxschen »Kapitals« teil, so ist einer der am häufigsten gesprochenen Sätze der Teamerinnen: »Das kommt erst in Band 3.« Dieser Satz fällt schon relativ früh und zwar bei der Frage nach dem Preis einer Ware.

Diese Frage ist verständlich. Denn die Analyse des Verhältnisses zweier Waren, die Marx in den ersten Kapiteln des Buchs darstellt, sowie Begriffe wie Wert und Geld, die dort eingeführt werden, servieren den Lesekreis-Teilnehmenden die Frage nach den Preisen auf dem Silbertablett. Schließlich begegnen uns Preise jeden Tag überall, und es ist nicht verwunderlich, dass alle wissen wollen, wie sie sich bestimmen.

An diesem offensichtlichen Punkt setzt die Volkswirtschaftslehre (VWL) an: Während die Teilnehmenden eines »Kapital«-Lektürekurses bis zum 3. Band warten müssen, um über Preise zu reden, beschäftigen sich Studierende der VWL schon sehr früh mit den Mechanismen, die Güter teurer und billiger machen. Sie hören von der zentralen Rolle von Angebot und Nachfrage und wie sie zusammenwirken, um den Markt in sein berühmtes Gleichgewicht zu bringen.

Fängt man mit den Preisen an, mit Angebot und Nachfrage und ähnlichen eher offensichtlichen Phänomenen unseres Wirtschaftssystems, so muss man viel voraussetzen und unhinterfragt lassen. In »Kapital«-Bänden gemessen, wären das eben fast zweieinhalb Bände.

Damit es Warenpreise gibt, deren Auf und Ab dann erklärt werden kann, muss nämlich eine komplette, sehr spezielle Produktionsweise vorhanden sein, die Preise überhaupt sinnvoll oder notwendig macht. Und folgt man Marx, so ist diese Produktionsweise eben der Kapitalismus. Warum ist das so? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit der Zugang zu den Produkten über den Markt – also gegen einen Preis – geregelt ist?

Voraussetzung des Preis ist das Privateigentum

Zunächst einmal muss es sich um eine Art von Produktion handeln, in der keine besonderen Absprachen getroffen werden darüber, was genau in welcher Quantität produziert werden muss, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Diese Bedürfnisse stehen auch nicht ganz oben auf der Liste der Ziele, die eine Gesellschaft mit der Produktion erreichen möchte. Vorausgesetzt ist nämlich auch das Privateigentum an Produktionsmitteln und Reichtum im Allgemeinen, sowie die Tatsache, dass es Leute gibt, denen viel gehört und andere, die kaum was haben. Ziel Nummer eins der Privateigentümer in einer kapitalistischen Gesellschaft ist die Vermehrung des eigenen Reichtums, und dieser verkörpert sich vor allem in Geld.

Kapitalisten investieren also nur dann, wenn sie davon ausgehen können, dass das investierte Geld hinterher vermehrt zurückfließt. Diesem Ziel ist alles andere untergeordnet, und es prägt den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhang, das Verhältnis der Menschen zueinander sowie das zu den Konsumgütern. In allen diesen Verhältnissen spielt das Geld eine Rolle – und zwar nicht nur in seiner Gestalt als Preis.

Wenn nur mit dem Ziel einer Profitmaximierung produziert wird, so sind die Produkte oder Dienstleistungen, die angeboten werden, nicht das Ziel der Produktion, sondern das Mittel, wodurch das Geld sich vermehren soll. Die meisten Menschen tauchen in diesem Schema einerseits als Lohnarbeitende auf, die ihren Beitrag zur Profitmaximierung leisten müssen – auf der anderen Seite sind sie Konsumenten, die durch den Kauf der Produkte die Rechnung der Profitmaximierung aufgehen lassen, solange und sofern sie die geforderten Preise bezahlen können.

Zentral ist also nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern nur die Vermehrung des investierten Geldes. Der Preis des Wohnens zum Beispiel soll nicht möglichst niedrig sein und der Preis der Arbeit nicht möglichst hoch. Denn in der Investitionsrechnung ist der Lohn ein Kostenfaktor, bei dem für die Lohnzahlenden gilt: Je niedriger, desto besser. Bei der Miete wiederum gilt: Je höher, desto besser, denn dann rentiert sich die Investition in Wohnraum für jene, die sie tätigen. Dass sich die Sache für Lohnarbeitende und Mieter:innen genau umgekehrt verhält, stört an der Stelle nicht weiter. Profitmaximierung, Akkumulation von Reichtum sind nämlich nicht das persönliche Ziel des einen oder anderen Konzernbetreibers oder Grundbesitzers. Sie sind vielmehr das Prinzip, das der ganzen Gesellschaft zugrunde liegt. Armut, Obdachlosigkeit oder Zerstörung der Umwelt sind aus dieser Perspektive keine Probleme, die es unbedingt zu lösen gilt, sondern notwendige Bestandteile eines Systems, das ein bestimmtes Ziel verfolgt und andere Ziele eben nicht.

»Alles hat einen Preis«

In diesem System, in dem mit dem Ziel der Profitmaximierung private Akteure Investitionen tätigen und Waren anbieten, die nur den Menschen zur Verfügung stehen, die sie bezahlen können – in diesem System haben Preise ihren Sinn und nur in diesem. Die Produkte sind hier keine neutralen Konsumgüter, die den Leuten zur Verfügung stehen, sondern eben Waren, die auf dem Markt zu einem bestimmten Preis zu haben sind. Je mehr Produkte als Ware angeboten werden, desto mehr Investitionsgelegenheiten gibt es, mit denen das Geld vermehrt werden kann. So kann man sagen, dass jede Privatisierung die Welt der Waren größer macht. Jede Rekommunalisierung wiederum macht sie kleiner – was durch die öffentliche Hand finanziert wird, ist keine Ware und bewegt sich außerhalb des Zirkels der Profitmaximierung. Aus der Sicht des Kapitals gilt es, solche Bereiche in diesen Zirkel hereinzuholen und den Satz »Alles hat einen Preis« – der unter anderen Bedingungen gar keinen Sinn hätte – immer wahrer zu machen.

Marx betrachtet die Sache aber noch grundsätzlicher: Noch vor dem Profit erfordern Preise zuallererst eine Vergleichbarkeit aller Produkte und Tätigkeiten – eine Vergleichbarkeit, die wir als verrückt und irrational bewerten würden, lebten wir nicht schon immer oder schon so lange in dieser Gesellschaft. Hinter jedem Preisschild versteckt sich ein sehr besonderer Vorgang, der nicht erlischt, weil wir ihn nicht sehen und gar nicht danach suchen. Es ist für uns so selbstverständlich, dass wir 4 Euro hinlegen müssen, wenn wir ein Kilo Brot wollen, dass wir uns gar nicht fragen, was alles passieren muss, damit der Zugang zum Brot über den Markt stattfindet, damit also das Brot einen Preis hat.

Genau mit diesem Punkt beginnt die Analyse von Marx: Damit es Warenpreise geben kann, müssen Produkte oder Dienstleistungen, die ganz verschieden sind, miteinander vergleichbar sein. Wenn ein Kilo Brot 4 Euro kostet und ein Haarschnitt 40 Euro, dann steht das Brot in einem Äquivalenzverhältnis zum Haarschnitt: Der Haarschnitt ist zehnmal so viel wert wie ein Kilo Brot. Aus dieser Perspektive besteht zwischen Brot und Haarschnitt ausschließlich ein quantitativer Unterschied.

Dass beide aus einer anderen Perspektive ganz verschieden bleiben, bildet einen der Widersprüche, die dem Kapitalismus innewohnen. Habe ich Hunger, werde ich mit einem Haarschnitt nicht satt, aber durch das Brot schon. Aus dieser Perspektive sind die beiden Dinge weder vergleichbar noch gleich. Werden beide dagegen auf dem Markt für einen Preis angeboten, dann sind sie quantitativ vergleichbar, in gewisser Weise gleich, wenn auch nicht gleich groß. Und somit sind auch die Arbeiten, die hinter dem Brot und dem Haarschnitt stecken, einerseits sehr verschieden – Backen und Haareschneiden –, anderseits eben gleichgesetzt bzw. vergleichbar. Wie kann das sein?

Warenwert gleich notwendige Arbeitszeit

Befindet man sich in einer kapitalistischen Gesellschaft, so ist die abstrakte Arbeit zentral für die Berechnung der Warenwerte. Die Arbeit zählt hier nicht als konkretes Backen oder Haarschneiden, sondern nur als »Arbeit an sich«. Diese zählt auch nicht als individuelle Arbeit, sondern nur als gesellschaftliche Arbeit. Der Wert einer Ware berechnet sich auf der Grundlage der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, also der Arbeitszeit, die zu einem bestimmten Zeitpunkt und Technikstand notwendig ist, um ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung herzustellen. Wie wichtig das ist, merken Unternehmen jedes Mal, wenn ein Konkurrent bessere Produktionsbedingungen eingeführt hat und die eigenen Waren deswegen billiger anbieten kann. Wollen sie nicht untergehen, müssen sie sich bemühen, ihre Produktionsbedingungen zu verbessern. Bis dahin sind sie verdammt, weniger Profit zu machen oder unter Umständen sogar Verluste.

Es ist also schon sehr viel passiert, bevor Angebot und Nachfrage Einfluss auf die Preise ausüben können. Beginnt man hingegen mit Angebot und Nachfrage wie die VWL, so muss man wesentliche Merkmale einer bestimmten Gesellschaft außen vor lassen. Am Ende erfährt man gar nicht mehr viel über die besondere Produktion und Gesellschaft, in der Angebot und Nachfrage ihre Wirkungen entfalten können.

Die marxsche Analyse, die ganz anders vorgeht, ist aber nicht einfach tiefergehend oder richtiger. Indem sie den Kapitalismus als eine besondere Art der Produktion betrachtet und uns konfrontiert mit der notwendigen Ausbeutung der Lohnarbeitenden für die Erzielung des Profits, mit der Existenz der Klassen von Eigentümern und Nicht-Eigentümern, die gegensätzliche Interessen vertreten, mit einer Welt, in der Konkurrenz der letzte Treiber für das Handeln ist, begründet sie die Möglichkeit für die Überwindung dieses Systems und benennt Gründe und Interessen, die für diese Überwindung sprechen. Der Kapitalismus der marxschen Analyse ist keine Gesellschaft, in der Harmonie und Gleichgewicht herrschen, sondern vielmehr Gegensätze und Krisen aller Art im Mittelpunkt stehen.

Wenn wiederum die VWL die Preise und ihre Schwankungen auf dem Markt in den Vordergrund stellt, wenn sie Angebot und Nachfrage als preisbestimmende Faktoren nennt und alles andere voraussetzt, so hat das weitreichende Folgen in die entgegengesetzte Richtung: Weder ist eine Überwindung des Kapitalismus für irgendeine Gruppe wünschenswert, noch ist sie überhaupt möglich.

Äquivalententausch in der »Marktwirtschaft«

Dies findet sein Symbol bereits im Begriff »Marktwirtschaft«, den die VWL an die Stelle von »Kapitalismus« setzt. Auf dem Markt werden selbst laut Marx immer nur Äquivalente ge- und verkauft. Auf dem Markt sind wir alle gleich und können durch Verhandlungen praktisch immer zu einem guten Ergebnis oder Kompromiss kommen. Dass auf dem Markt einige gar nicht so gleich wie andere sind, verwischt völlig, was am Beispiel der Rolle der Nachfrage bei der Bestimmung der Preise besonders deutlich wird. Diese wird von der VWL im Großen und Ganzen als Bereitschaft definiert, einen bestimmten Preis für ein Produkt zu zahlen. Je nachdem, wie nützlich für mich dieses Produkt ist, bin ich laut VWL bereit, mehr oder weniger dafür zu zahlen. Habe ich ein begrenztes Budget zur Verfügung – was bei Lohnarbeitenden praktisch immer der Fall ist –, so werde ich in diesem Rahmen Prioritäten setzen und rationale Entscheidungen treffen, wie viel ich wofür ausgebe. Nur: »Was das Prinzip der Nachfrage regelt, [ist] wesentlich bedingt […] durch das Verhältnis der verschiedenen Klassen zueinander und durch ihre respektive ökonomische Position« (MEW 25: 191). Für Marx kann also »absolut nichts aus dem Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr erklärt werden, bevor die Basis entwickelt ist, worauf dieses Verhältnis spielt« (ebenda).

Mit dieser Basis beschäftigen sich die Teilnehmenden eines »Kapital«-Lektürekurses, bevor sie dann über Preise reden dürfen. Studierende der VWL hingegen überspringen all das und kennen am Ende weder Klassen noch Gegensätze, sondern nur verhandelnde Individuen und ihre Einigung. Sie gewinnen das Bild einer harmonischen Gesellschaft, in der Unternehmen zum einen Produkte herstellen, die Bedürfnisse von Konsument:innen befriedigen. Zum anderen stellen sie Arbeitsplätze zur Verfügung für diejenigen, die zufällig kein Unternehmen besitzen und nur durch Arbeit an Geld gelangen, um die geforderten Preise zu bezahlen.

Das Wunder der »Marktwirtschaft« geht aber noch weiter: Bei ihr handelt es sich laut VWL nicht – wie beim Kapitalismus – um eine besondere historische Art, wie Güter produziert und verteilt werden; sondern um die beste Art und Weise der Produktion, um die einzig vernünftige. Sie ist nämlich die Art und Weise, die der Natur der Menschen am nächsten kommt bzw. ihr entspricht, weil das Tauschen das Urbedürfnis der Menschen ist. Und so wird die Gesellschaft, in der Waren auf dem Markt gegen Bezahlung angeboten werden, so wird diese eine Gesellschaft naturalisiert: Weil die Menschen ihrer Natur nach tauschende Wesen sind, ist die Gesellschaft, in der alles einen Preis hat, jene, die der Natur der Menschen entspricht. Die Ökonomie findet ihre letzte Begründung in einer fragwürdigen Anthropologie, die den kapitalistischen Menschen als Mensch schlechthin darstellt und den Kapitalismus selbst als die Wirtschaft. Nach ihm gibt es noch nicht mal die Sintflut, weil es einfach kein Danach geben kann.

Geschrieben von:

Antonella Muzzupappa

Referentin Rosa-Luxemburg-Stiftung

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