Als die Freiheit in den Osten kam
Mit der Preisfreigabe erhielt die DDR-Wirtschaft eine ganz neue Zweckbestimmung. Den Übergang vom »falschen« zum »echten« Preis überlebten viele Betriebe nicht. Aus OXI 6/21.
Auf die Freiheit der Reise folgte die Freiheit der Preise: Am 1. Juli 1990 trat die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen der BRD und der DDR in Kraft, die Ost-Mark wurde durch die West-Mark schrittweise ersetzt. Damit veränderten sich auch die Preisschilder im Osten – nicht nur die Währungseinheit, sondern auch die Zahlen. Vieles wurde teurer. Erklärt wurde dies damals damit, dass nun die Preise in der DDR langsam befreit würden: Statt staatlich festgesetzter, quasi künstlicher Beträge seien nun die wahren, marktwirtschaftlichen zu zahlen und zwar in echtem, hartem Geld. Was damit Einzug hielt im Osten, war allerdings mehr als bloß die Befreiung der Preise vom staatlichen Korsett. Sie erhielten eine ganz neue Zweckbestimmung.
Preise im Kapitalismus
»Die heftig kritisierte Marktwirtschaft«, klärt uns die Deutsche Bank auf, »steht vor dem Problem, mit begrenzten Mitteln eine potenziell unbegrenzte Zahl von Wünschen zu befriedigen, und das stets unter Berücksichtigung von Unsicherheit.« Dieses »Allokationsproblem« werde in der Marktwirtschaft »mithilfe von Preisen gelöst, die als Knappheitsindikator fungieren«. So weit die Sicht der herrschenden Theorie, die erkennbar wenig mit der herrschenden Praxis zu tun hat.
Im Kapitalismus ist der Preis einer Ware zuallererst das Mittel des Unternehmens, die Bedürfnisse der Nachfrager auszunutzen und Zugriff auf das zu bekommen, was es will: das Geld der Kundschaft. Nur dafür hat das Unternehmen Güter produziert, nur dafür geht es auf den Markt und nur dafür setzt es den Preis fest: um einen Gewinn zu machen, damit das investierte Kapital vermehrt zurückfließt, um anschließend mit dem gleichen Zweck neu investiert zu werden. Am Ende muss immer eine vermehrte Geldsumme stehen, was bedeutet: Geld ist nicht nur Mittel des Austauschs, es ist das eigentliche Produkt dieser Wirtschaftsweise.
Für die Nachfrager wiederum ist der Preis einer Ware die einzige, aber auch die entscheidende Schranke zwischen dem eigenen Bedürfnis und seiner Erfüllung: Für Geld ist alles zu haben, aber eben nur, wenn man genug davon hat. Bedürftige Nachfrager, die die geforderten Preise nicht zahlen können, sind nicht Teil des Marktes, ebenso wenig wie Güter, deren Preise nicht bezahlt und die daher nicht verkauft werden.
Alles hängt am Geld. Wer es hat, kann sich Produkte der gesellschaftlichen Arbeit aneignen. Geld im Kapitalismus ist private Macht über die Arbeit anderer. Hier sind jedoch nicht alle Marktteilnehmer gleich. Die einen, die Lohnabhängigen, brauchen Geld, um die Preise zu bezahlen und so ihr Leben zu finanzieren. Die anderen, die Unternehmen, gebrauchen Geld, um es zu vermehren. Die Kalkulation Letzterer bestimmt also doppelt die Verteilung des produzierten Reichtums: Den Lohnabhängigen zahlen die Unternehmen nur einen Preis für ihre Arbeit, der niedrig genug ist, damit ihre Warenpreise konkurrenzfähig niedrig sind; und sie verlangen für die Güter Preise, die hoch genug sind, um ein profitables Geschäft zu ermöglichen.
Preise im Realsozialismus
Ost-Mark und Rubel repräsentierten nicht private Macht über gesellschaftlichen Reichtum, sondern waren Kommandomittel des Staates über die gesellschaftliche Arbeit. »Preise spielen im Sozialismus nicht dieselbe Rolle wie in einem kapitalistischen System«, schreibt Manfred Trapp in seinem Buch »Der dekretierte Markt«. »Sie werden in jedem Falle zentral festgelegt und dienen der Erfüllung des Plans.« So wurden beispielsweise die Preise für Konsumgüter so festgelegt, dass das geplante Angebot dem ebenfalls geplanten Einkommen der Bevölkerung entsprach.
Während im Kapitalismus der Markt über die gesellschaftliche Produktion entscheidet – was sich nicht verkauft, zählt nicht –, wollte der realsozialistische Staat die Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit nicht der Geldzirkulation überlassen. Für ihn stand schon von vornherein fest, was produziert werden sollte. Preise und Geld waren nur Instrumente der Zuteilung und Steuerung. Die »richtig« gesetzten sozialistischen Preise sollten gewährleisten, dass die Güter wie von selbst immer genau dorthin gelangten, wo sie benötigt wurden.
Ergebnis waren zum Teil extrem niedrige Preise, zum Beispiel für Straßenbahnfahrten oder Wohnen, die lediglich symbolischen Beträgen entsprachen. Andere Dinge des täglichen Bedarfs waren billig, eben weil der Preis keine Schranke für das Bedürfnis sein sollte. Bei als Luxus geltenden Gütern wiederum wurden extrem hohe Preise verlangt. Dies hatte aber nicht so sehr mit Produktionskosten oder Profitabsichten zu tun, sondern war ein Reflex auf einen existierenden Mangel bei diesen Gütern: Da sie schlicht nicht vorhanden waren, wurde die Nachfrage über hohe Preise staatlicherseits gebremst und das Geld der Haushalte darüber eingesammelt.
Im Kapitalismus, so könnte man sagen, sind Güter also knapp, weil sie zu teuer sind. Hier ergibt sich die »Zuteilung« von Ressourcen aus einem anonymen Marktprozess, an dessen Ende jeder so viel hat, wie er verdient und sich damit das kauft, was er will – und wenn es nicht reicht, muss man sich mehr anstrengen. Im Realsozialismus verfügten die Konsument:innen vielfach über Geld, allerdings fehlte es an Gütern, die nicht produziert wurden, was der Planbehörde zur Last gelegt wurde.
Für die realsozialistischen Betriebe wiederum existierte keine Freiheit, Einkaufs- und Verkaufspreise selbst festzusetzen und darüber die Anforderung nach möglichst hohen Gewinnen zu erfüllen. Aus der Sicht der sozialistischen Planer sollte die Kombination aus fixen Preisen und der Vorgabe möglichst hoher Gewinne dazu führen, dass die Betriebe immer effizienter wirtschafteten, dass sie aus jedem Input einen möglichst hohen Output machten, auch aus der Arbeit. So sollte das Ziel eines wachsenden Reichtums erreicht werden – auch der Realsozialismus kannte einen Wachstumszwang, allerdings einen politischen.
Die DDR-Wirtschaft war damit frei von aus der Konkurrenz erwachsenen Interessengegensätzen, dafür reich an Interessenkollisionen. So sollten die Preise niedrig genug sein, um die Versorgung zu gewährleisten, aber hoch genug, um den Betrieben zumindest theoretisch einen Gewinn zu ermöglichen. Jeder Betrieb sollte nach den Grundsätzen der Kapitalrechnung handeln, aber keiner soll dies auf Kosten anderer Betriebe tun. Der Konflikt zwischen Käufer und Verkäufer sollte durch gerechten Ausgleich entschieden werden. Die Preise sollten den Markt räumen, also das Angebot vollständig auf die Nachfrage verteilen. »Zugleich sollen die Preise natürlich die Rentabilität der produzierenden Betriebe garantieren, deren technischen Fortschritt ermöglichen, zur effizienten Nutzung der Ressourcen animieren und für eine angemessene Menge von Gütern in festgelegter Qualität sorgen«, so Trapp. »Man beginnt zu ahnen, welchen Konflikten sich die Preisplanung gegenübersieht.«
Die Preisfreigabe
Der relative Rückstand der Ost-Ökonomien gegenüber den Nato-Staaten führte in der Sowjetunion in den achtziger und neunziger Jahren zu einer Kritik auch des staatlichen Preissystems mit der Forderung nach mehr Freiheit in der Preisgestaltung für die Produzenten. Dies sollte den Betrieben eine größere Motivation geben, gesellschaftlich nützliche Produkte zu den geringsten Kosten zu liefern. Dienen sollte dies zunächst der Vervollkommnung der Planwirtschaft, nicht ihrer Abschaffung.
Die radikale Preisreform in der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre führte, gemeinsam mit der Privatisierung, allerdings nicht nur eine neue Methode des Wirtschaftens ein, sondern richtete die Produktion auf einen neuen Zweck aus. »Die Souveränität der Preiskalkulation nach einzelbetrieblichen Kriterien« bedeutete, »dass die private Gewinnrechnung die Bewertung des gesellschaftlichen Reichtums bestimmt«, so Trapp. Die gesellschaftliche Bewertung des materiellen Reichtums erfolgte damit nach dem Kriterium, wie sich bestimmte Güter als Mittel der Gewinnproduktion einsetzen ließen. Preise und Profite und Löhne waren nicht länger Instrumente der Planbehörde zu Erzielung eines bestimmten materiellen Ergebnisses und seiner Verteilung. Stattdessen regierte der Profit als Selbstzweck, von dem die materielle Versorgung abhängig gemacht worden war.
Was in Russland von oben durchgesetzt wurde, das erledigte in der DDR die Wirtschafts- und Währungsunion.
Den Wechsel von staatlichen zu »wirtschaftlichen«, von »falschen« zu »echten« Preisen, den Übergang vom volkseigenen Betrieb zur privaten Kapitalanlage haben große Teile der DDR-Wirtschaft nicht überlebt. Zwar erstellten die DDR-Unternehmen zum 1. Juli 1990 eine Eröffnungsbilanz in D-Mark, die ihre kapitalistische Startposition darstellen sollte. Was jedoch folgte, war eine gigantische Entwertung, bei der die Ostwirtschaft auf das Maß zurückgestutzt wurde, das sie als privates Bereicherungsmittel taugte. Den Grund für den Zusammenbruch sahen einige als gerechtes Ende einer »maroden« Wirtschaft. Andere wiederum machten die Privatisierungspolitik der Treuhand verantwortlich. Und Dritte sahen als Ursache einen abermals falschen Preis: den der Ost-Mark. Sie sei bei einem Wechselkurs von 1:1 gegenüber der D-Mark zu hoch bewertet worden. Alle drei Erklärungen sind von mäßigem Erkenntniswert.
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