Wirtschaft
anders denken.

Quantitative Lockerung im Dienste der Mehrheit?

08.04.2020
CoronaPixabay

Angesichts einer Krise, die sowohl das Angebot als auch die Nachfrage trifft, sind andere Formen des Eingreifens erforderlich. Plädoyer für ein zusätzliches Corona-Einkommen. 

Angesichts der unvermeidlichen Rezession, die sich nunmehr abzeichnet, erscheinen zwei Dinge unerlässlich: zum einen muss man sofort dem erheblichen Rückgang der finanziellen Mittel begegnen, unter dem ein Teil der Bevölkerung und der Wirtschaftszweige leiden, und zum anderen sind die Bedingungen für einen Ausweg aus der Krise vorzubereiten, sobald die Pandemie einmal eingedämmt ist. 

Am 27. März kündigte Präsident Trump ein Hilfsprogramm in Höhe von 2 200 Milliarden Dollar an, von dem ein Teil direkt an die Bevölkerung verteilt werden soll. Am 19. März beschlossen die Institutionen der Europäischen Währungsunion, zur monetären „Bazooka“ zu greifen. Die Europäische Zentralbank (EZB) bereitet sich darauf vor, rasch 750 Milliarden Euro – den Gegenwert von etwas mehr als 2.000 Euro pro EU-Bürger – auszuschütten, mit der Möglichkeit, dieses Volumen zukünftig weiter zu erhöhen. Dabei handelt es sich um eine Neuauflage der Pläne zur quantitativen Lockerung („quantitative easing“, QE), die bereits 2015 zur Unterstützung der europäischen Wirtschaft umgesetzt und Ende letzten Jahres reaktiviert wurden. Ziel ist es, den Wirtschaftsakteuren die Mittel zur Deckung ihres Finanzierungsbedarfs bereitzustellen. 

Die Grenzen für die Realwirtschaft, die sich aus der gezielten Unterstützung des Finanzsektors ergeben, können jedoch nicht ignoriert werden. In den letzten Jahren hat die Politik des QE, die bereits 2008 in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich eingesetzt wurde, zu einer beträchtlichen Zunahme der Überschussliquidität geführt, was wiederum hauptsächlich einem spekulativen Finanzwesen förderlich war. Folge war insbesondere ein Anstieg der Preise für Finanzanlagen und Immobilien, was wiederum die Finanzialisierung der Wirtschaft vorantrieb.

Man kann sich daher fragen: Unterstellt diese Politik der quantitativen Lockerung nicht, dass die Erneuerung der Verschuldungskapazität, mithin ein trickle-down von den Höhen des Finanzsektors in die Niederungen der Realwirtschaft, auch heute noch eine gute und realistische Lösung ist? Sind Zielrichtung und der Zeitrahmen einer solchen Maßnahme überhaupt angemessen?

Wenn die durchschnittlich verfügbaren Mittel von Haushalten und Unternehmen für mehr als 120 Tage reichen und der Lock-down 60 Tage dauert, kann ein Teil der Bevölkerung die Situation durchaus verkraften. Aber das ist eine Argumentation mit Durchschnittswerten. Hinter ihr verbergen sich sehr unterschiedliche Wirklichkeiten. Einige wenige Sektoren befinden sich aktuell in voller Aktivität (aber für wie lange, wenn die Einkommen weiter sinken?), während andere bereits völlig zum Stillstand gekommen sind. Auch ist bekannt, dass die verfügbaren Ersparnisse der Haushalte direkt proportional zur Höhe ihrer Einkommen sind. Das übliche Sparbuch „Livret A“, welches von mehr als 80 Prozent der französischen Bevölkerung verwendet wird, hat beispielsweise eine durchschnittliche Spareinlage von 4.000 EUR, wobei 45 Prozent der Sparkonten weniger als 150 EUR aufweisen und nur 15 Prozent der Sparbücher mehr als 15.000 EUR. Überall sind die ärmsten Menschen diejenigen mit der geringsten finanziellen Widerstandskraft. Schon vor der Corona-Krise konnten sie ihr Überleben in der Tat nur durch Zahlungsverzüge und andere Formen von Schulden sichern.

Relevant ist hier mithin zuvörderst die Kurzzeitperspektive, und hinter dieser durchschnittlichen Rücklage (die den Finanzinstituten nun auch verloren gehen wird, weil viele Bürger nun gezwungenermaßen ihr Erspartes antasten werden), verbergen sich erhebliche Unterschiede in den Bedürfnissen und Nöten, mit welchen große Teile der Bevölkerung – nämlich vor allem die Schwächsten – in naher Zukunft konfrontiert sein werden.

Wer vorgibt, dass man die unvermeidliche Rezession alsbald durch eine auf den Finanzsektor zielende Liquiditätsspritze überwinden können wird, ignoriert außerdem die massive Verschuldung von Unternehmen und noch mehr von Haushalten – d.h. die gesamte private Verschuldung –, die seit 2008 für 2/3 des Anstiegs des weltweiten Schuldenbestands verantwortlich ist (ein Anstieg von 240 Prozent). Der im Dezember 2019 veröffentlichte Weltbankbericht Gobal Waves of debt, causes and consequences zeigt, dass die globale Verschuldung im Jahr 2017 262 Prozent des globalen BIP ausmachte. 

Ein Rückgang der Einnahmen kann das relative Gewicht dieser Verschuldung nur weiter erhöhen und wird die Fähigkeit der Wirtschaftsakteure, ihren fälligen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, stark einschränken. Da die Zinsen bereits ein historisch niedriges Niveau erreicht haben, steht uns – zumal bei bereits hoher Verschuldung – auch dieser Hebel nicht mehr zur Verfügung, um die stillliegenden Produktionskapazitäten wieder hochzufahren.

Um schnell, und zwar kurz- und mittelfristig wirksam zu werden, muss eine neue quantitative Lockerung auf die gesamte Bevölkerung abzielen. Aber nicht in Form einer Schuldenübernahme, diesmal der privaten Schulden. Im Sinn der keynesianischen Logik eines Multiplikatoreffekts, also einer Stimulierung von Nachfrage und Angebot, schlagen wir vielmehr vor, an jeden Einwohner ein zusätzliches Einkommen zu verteilen, das per Geldschöpfung über eine Erhöhung des öffentlichen Haushaltsdefizits finanziert wird. Diese Maßnahme wird oft als „Helikoptergeld“ bezeichnet. Das Geld müsste dabei auch nicht unbedingt über die Banken verteilt werden. Dies könnte etwa über die Sozialversicherungssysteme geschehen, die in Europa ja fast die gesamte Bevölkerung abdecken. Auch sollte die Zahlung nicht auf Konten gutgeschrieben werden, sondern in Form einer persönlichen Zahlungskarte ausgegeben werden, die bei Anbietern von Waren und Dienstleistungen in gleicher Weise wie eine Kreditkarte oder eine bestehende Zahlungskarte verwendet werden kann, also wie früher die Telefonkarten. Die Karte würde mit jeder Ausgabe belastet werden, mit dem Unterschied, dass dieses Zahlungsinstrument personalisiert ist. Auf diese Weise könnten auch die Jüngsten und diejenigen ohne Bank- oder Sparkonto davon profitieren. Dieses Einkommen würde wie ein Grundeinkommen funktionieren, aber mit zeitlicher Begrenzung und Fokussierung auf die von der Krise am stärksten betroffenen Segmente. Dieses bedingungslos zugeteilte Einkommen könnte sowohl auf nationaler oder föderaler Ebene als auch auf der Ebene der dezentralen Gebietskörperschaften (Regionen, Départements, Kommunen) eingerichtet werden, die sie – je nach ihren Mitteln – in ihrer Wirksamkeit verbessern könnten, auch indem sie sie gezielt einsetzen. Auf diese Weise könnte man diese Maßnahme zur Überwindung der Krise auch als einen Testlauf für ein bedingungsloses Grundeinkommen betrachten.

Kurzfristig wird jedoch die Ausgabe eines solchen Einkommens wie bereits gezeigt für Arbeitslose, Arbeiter in Kurzzeit sowie für Selbständige, wie z.B. Taxifahrer, die eine drastische Verringerung ihrer Tätigkeit und damit ihres Einkommens erfahren, von entscheidender Bedeutung sein. Sie sollten daher auch die ersten Bezugsberechtigten sein. Die Ankündigung, die Mittel tatsächlich an alle auszugeben, wird einer sozialen Stigmatisierung derjenigen vorbeugen, die dieses spezielle Zahlungsmittel sodann auch nutzen.

In den Vereinigten Staaten muss das von Präsident Trump versprochene Helikoptergeld über Konten mit einer Steuernummer (der social security number) verteilt werden. Auf diese Weise werden mehr als 10 Millionen Einwanderer, von denen 40 Prozent seit mehr als zehn Jahren im Land sind, von den Vorteilen des Programms ausgeschlossen, wozu noch diejenigen kommen, die in einem Land, in dem in großem Umfang Bargeld verwendet wird, ohnehin vom Bankwesen ausgeschlossen sind. Die Existenz von Sozialschutzeinrichtungen in Europa, in welchen die abgedeckten Bevölkerungsteile ohnehin bereits registriert sind, würde eine rasche Verteilung dieser Mittel ermöglichen. Das zusätzliche Einkommen sollte sodann (da bei mangelndem Warenvorrat auch eine plötzliche Nachfragesteigerung keine Wirkung entfalten kann) in gleichem Tempo ausgeschüttet werden, wie sich die tatsächlich zur Verfügung stehenden Kapazitäten zur Produktion und zum Austausch von Gütern und Dienstleistungen erholen.

Es wäre auch vorstellbar, die Ausgaben gezielt zu steuern, indem man etwa nur solche Ausgaben zulässt, die von einer Kommission aus einschlägigen Interessenvertretern – z.B. aus Institutionen wie dem Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat in Frankreich (Conseil économique, social et environnemental) oder dem Consiglio nazionale dell’economia e del lavoro in Italien – als sinnvoll erachtet werden. Investitionen zur Bekämpfung des Klimawandels zum Beispiel könnten dadurch gefördert werden, dass die Guthaben des Kreditkartenkontos bei bestimmten durch die Zahlungskarte autorisierten Händlern automatisch erhöht wird, was dank der Rückverfolgbarkeit der Nutzung einfach zu bewerkstelligen ist. Dasselbe gilt für die Ausgaben im Bereich Kultur und Sport, die nur begrenzte Auswirkungen auf die Umwelt haben. Auch die Kennzeichnung des ökologischen Fußabdrucks aller Produkte und Dienstleistungen sollte gefördert werden; dies würde erstens zu einer positiveren Verwendung der Mittel anhalten und zweitens umweltschädliche Ausgaben reduzieren, indem diese einfach gemäß ihres Fußabdruck begrenzt würden, wie dies etwa bei Rationierungsgutscheinen in Kriegszeiten der Fall ist. Eine solche potenzielle Verfolgung der Verbraucherausgaben wird durch jede Zahlungs- oder Kreditkarten ermöglicht, die die Zahlung über ein zugeordnetes Bankkonto abwickeln. In unserem Szenario würden die Daten auf der nach und nach belasteten Karte selbst gespeichert. Auf Telefonkarten wurden weder die kontaktierten Telefonnummern noch der Ort, von dem aus der Anruf getätigt wurde, aufgezeichnet. Die Erfassung der Ausgaben würde hier nur erfolgen, um umweltfreundliche Ausgaben zu fördern – aber ist dies nicht heute schon der Fall, wenn Steuerzahler in den Genuss von Steuerbegünstigungen für diese Art von Ausgaben kommen?

Lokale Produktion von Waren und Dienstleistungen und kurze Vertriebswege könnten auch dadurch erheblich unterstützt werden, dass die Möglichkeit geschaffen wird, die verteilten Guthaben in Regional- und Komplementärwährungen umzutauschen. Die lokale Neuverankerung der wirtschaftlichen Aktivitäten erfordert natürlich auch die Bevorzugung lokaler Produzenten im Sortiment der Supermärkte sowie die Bewahrung der Wochenmärkte, die in Frankreich zur Zeit im Gegensatz zu den großen Supermärkten zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie geschlossen wurden. Die Wochenmärkte kann man durchaus geöffnet halten, indem man den Zustrom von Kunden auf dieselbe Weise begrenzt, wie dies bei den Supermärkten zur Zeit ja bereits üblich ist. 

Auch könnte die Möglichkeit geschaffen werden, das Guthaben an lokale Wohltätigkeitsorganisationen weiterzugeben. Diese könnten dann die zusätzlichen Mittel, wiederum auch in Form regionaler und komplementärer Währungen, an die Bedürftigsten verteilen.

Eine mögliche Kritik an jeder massiven Geldspritze ist, dass sie zu Preiserhöhungen führen könnte. Da die gegenwärtige Situation sozial, politisch und wirtschaftlich explosiv ist, besteht durchaus die Gefahr einer beträchtlichen Inflation. Andererseits aber würde eine Preiserhöhung effektiv die enorme Schuldenlast von Staaten, Gebietskörperschaften, Unternehmen und Haushalten verringern: Eine Preiserhöhung von 5 Prozent pro Jahr halbiert die Schulden in zwölf Jahren real.

In Zeiten hoher Unsicherheit besteht jedoch durchaus die Gefahr, dass ein Teil der Bevölkerung, der nicht mit einem Anstieg der Verbraucherpreise rechnet, es vorzieht, das Guthaben zu thesaurieren, also seine Nutzung aufzuschieben. Das Ziel der wirtschaftlichen Wiederbelebung wäre dann schwer zu erreichen, da die Mittel nicht schnell in den Wirtschafts- und Finanzkreislauf gelangten und nicht als Hebel für eine Erholung dienen würden. Bei einer Verteilung in Form einer Zahlungskarte ist es jedoch möglich, dieses Problem nach dem Modell des Schwundgeldes zu umgehen, d.h. indem der gutgeschriebene Betrag monatlich an Wert verlieren würde.

Angesichts einer Krise, die sowohl das Angebot als auch die Nachfrage trifft, sind andere Formen des Eingreifens erforderlich, an denen sowohl die nationalen Regierungen als auch die öffentlichen Strukturen auf regionaler und kommunaler Ebene beteiligt sind. Unser Vorschlag hat den Vorteil, dass er sehr kurzfristig umgesetzt werden kann, um angemessen auf den Notfall zu reagieren. Die quantitative Lockerung nach 2007, die sich direkt an die Banken richtete, war für die meisten wirtschaftlichen und finanziellen Entscheidungsträger, die von den Dogmen des finanziellen Gleichgewichts durchdrungen waren, zu diesen Zeitpunkt undenkbar. Die Europäische Zentralbank hat auch fast sieben Jahre gewartet, um dem Beispiel Großbritanniens und der Vereinigten Staaten zu folgen. Es ist kaum vorstellbar, dass es nicht auch heute starke Vorbehalte gegen eine quantitative Lockerung zum Nutzen aller gibt. Allein, die aktuelle Situation verlangt eine mutige Politik – mutig sowohl in ihrem Umfang als auch darin, wirtschaftlich und gesellschaftlich neue Wege zu gehen. Was den meisten Menschen noch gestern fast unmöglich erschien, drängt sich uns heute schon als eine Reihe groß angelegter Experimente auf, um eine Krise zu überwinden, die dramatisch zu werden verspricht – auch darin, dass sie unsere überkommenen Vorstellungen und Gewohnheiten erschüttern wird.

Solène Morvant-Roux forscht an der Universität Genf am Institut für Demographie und Sozioökonomie. Jean-Michel Servet ist am IHEID, Graduate Institute of International and Development Studies in Genf tätig. Übersetzung: Oliver Schlaudt. Der Text erschien zuerst hier.

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