Wirtschaft
anders denken.

Der Rechtsruck und was die Ära Kohl damit zu tun hat

08.05.2018
Bundesarchiv, / Engelbert Reineke ,Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Warum rollt der Karren derart in den autoritären, rechten Sumpf? Je einfacher die Erklärungsansätze, desto weiter ist man weg von der Antwort auf die Frage: Was tun gegen den Rechtsruck? Zwei Hinweise auf Forschungsergebnisse, die zur Ausweitung des Verstehens beitragen können.

Es gibt derzeit zwei dominierende Erklärungsansätze darüber, wie der Karren derart in den autoritären, rechten Sumpf rollen konnte. Wie konnten AfD und Co. so stark werden? Die eine Variante verweist auf die Folgen der fortschreitenden weltweiten Integration hin, das läuft dann auf Gewinner und Verlierer der Globalisierung hinaus. Die Verlierer seien daheim sozial und politisch ungeschützt geblieben, erlebte oder befürchtete Abstiegsängste würden sich nun im Rechtsruck artikulieren. Verwandt mit diesem Argument ist der Hinweis, »die Linke«, bei näherem Hinsehen ist meist die Sozialdemokratie gemeint, habe sich zu einem progressiven Neoliberalismus hingegeben, sich mehr um Kämpfe um kulturelle Fragen und Anerkennung gekümmert und dabei relevante Teile der Arbeitenden vernachlässigt und verraten.

Verschiedentlich ist bereits kritisiert worden, das solche Erklärungen für sich genommen zwar durchaus einen Teil der Ursachen benennen könnten, die Gründe für besagte Rollrichtung des Karrens aber vielschichtiger sein dürften. Politisch ist das nicht unwichtig, je stärker sich auf eindimensionale Analysen konzentriert wird, desto eindimensionaler können auch die Schlussfolgerungen ausfallen. Mehr noch: In der gesellschaftlichen Linken scheint es eine Neigung dazu zu geben, bisweilen möglichst groben Rastern Vorzug zu geben. Aus den beiden oben genannten Erklärungsansätzen wird dann schnell eine Formel für den Alltagsgebrauch. Und für den bundesdeutschen Fokus lautet die: Im Kern ist die SPD die Schuldige. 

Politik der standortnationalistischen Orientierung

Über die inzwischen gut dokumentierten Folgen der sozialpolitischen Entsicherung haben wir auf oxiblog.de viel berichtet. Es soll auch gar nicht darum gehen, den marktsozialdemokratischen Kurs der SPD in Schutz zu nehmen, die Agenda zu verteidigen oder zu bestreiten, dass es natürlich gravierende Konsequenzen hat, wenn eine Politik der standortnationalistischen Orientierung den Faktor Arbeit und die Spielräume des Öffentlichen sowohl politisch als auch einkommensseitig als auch finanziell derart schwächt. Wer allerdings die Rollrichtung des Karrens verändern will, muss genau hinschauen. 

Dieser Tage sind zwei Hinweise gegeben worden, die in der kritischen Debatte über die Ursachen des Rechtsrucks berücksichtigt werden sollten. Die eine betrifft die These von den Verlierern der Globalisierung im Norden – hierfür hat die berühmte Elefanten-Kurve geradezu Symbolkraft gewonnen, erstmals veröffentlicht 2013 von Christoph Lakner und Branko Milanović. Kolja Rudzio hat in der »Zeit« einige methodische Kritikpunkte und empirische Ergänzungen referiert, nach denen man die klassische Interpretation nicht mehr so ohne Weiteres wiederholen möchte: »Den Armen in aller Welt hat die Globalisierung genützt, ebenso wie den Superreichen, aber nicht der Mittelschicht in den Industriestaaten. Deshalb Brexit, deshalb Trump, deshalb AfD.« Ganz so ist es eben nicht, was unter anderem daran liegt, dass die Elefanten-Kurve nicht zeigt, »wie sich die Einkommen bestimmter Personen verändert haben. Sondern sie verrät nur, wie der Zuwachs an einer bestimmten Position war.« Allein die demografische Entwicklung habe die Position vieler Menschen in der Einkommensverteilung verschoben, hinzu kommen Datenprobleme. 

»Die Globalisierung« ist noch keine Erklärung

Ergebnis: Als zentrale Erklärung für den Rechtsruck im globalen Norden taugt die Kurve nicht, im Übrigen haben das auch ihre Urheber nie behauptet. Dass sich die wachsende Integration in weltweiten Handel und globale Wertschöpfungsketten verstärkt hat, bleibt so richtig, wie man eben dann doch auch sehr genau hinschauen muss, welche nationalen Entstehungsbedingungen vorlagen. Es wäre dann also nicht bloß »die Globalisierung«, die auf die Einkommensentwicklung zum Beispiel der USA und ihrer Mittelschicht einwirkten, sondern ein Ensemble gesellschaftlicher Ursachen. Darin spielt dann vielleicht eine sehr wichtige Rolle, dass der Organisationsgrad der Beschäftigten in den USA in jenem Zeitraum so stark zurückgegangen ist, der in der Regel in Betracht gezogen wird, wenn man fragt, wo und wann der Karren denn losrollte. 

Vor ein paar Monaten machte eine Studie des Economic Policy Instituts (EPI) die Runde, Tenor: »Gewerkschaften verringern die Ungleichheit und sind von wesentlicher Bedeutung, wenn es darum geht, dass Beschäftigte einen gerechten Anteil vom Wirtschaftswachstum erhalten.« Untersucht worden war die Entwicklung in den USA über einen langen Zeitraum. In Zeiten, in denen verhältnismäßig viele Menschen in einer Gewerkschaft organisiert sind, steigt vor allem das Einkommen der mittleren Einkommensgruppen deutlich. Sinkt hingegen der Organisationsgrad unter den Beschäftigten, legen die Einkommen der oberen zehn Prozent zu. Auch diese Studie machte Schlagzeilen, aber nicht so dauerhaft wie die Elefanten-Kurve. 

Zweites und damit zusammenhängendes Beispiel: Auf »Makronom« hat Tom Krebs, Professor für Makroökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim, gerade über seine Forschungsergebnisse zum Thema Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt geschrieben und auch damit einen wichtigen Hinweis  gegeben, sich nicht auf einfache Erklärungen und medial oder politisch reproduzierte Raster zu verlassen. Es geht um ökonomische Unsicherheit am Arbeitsmarkt, die für die Studie gemessen wurde, »indem wir das Ausmaß der nicht vorhersehbaren Veränderungen des Erwerbseinkommens einzelner Erwerbspersonen ökonometrisch schätzten.«

Wachsende Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt

Das Ergebnis in aller Kürze: »Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Unsicherheit auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt stetig angestiegen und hat sich mittlerweile auf einem stark erhöhten Niveau eingependelt – mit dramatischen Konsequenzen für die betroffenen Menschen.«

Auf den ersten Blick bestätigt die Forschung von Krebs und anderen ein Erklärmuster, das die Politiken der Entsicherung und Entsolidarisierung in den Mittelpunkt bei der Ursachensuche für den Rechtsruck stellt. Beim zweiten Blick fällt dann auf, dass der entscheidende Anstieg der von Krebs gemessenen Unsicherheit in eine Zeitspanne fällt, die politisch heutzutage oft ausgeblendet wird: die vor dem Antritt der rot-grünen Regierung 1998, also vor der Schröder-SPD und dem Agenda-Kurs. Der Zuwachs der von Krebs und anderen gemessenen Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt (in Westdeutschland, da vergleichbare Daten für den Osten für den wichtigen Teilzeitraum vor Mitte der 1990er Jahre nicht vorliegen), stieg vor allem »ab Anfang der 1990er bis zum Ende der 1990er Jahre« an, danach gab es sogar einen leichten Rückgang und ein »Einpendeln auf einem stark erhöhten Niveau, das fast einer Verdoppelung der Unsicherheit im Vergleich zur Situation in den 1980er Jahren entspricht«. 

Politisch ließe sich das so interpretieren, dass die entscheidende Phase der Entsicherung in Zeiten von schwarz-gelben Bundesregierungen lag. Das erscheint deshalb nicht nebensächlich, weil sich die Haupterzählungen heute eher auf den Beitrag der SPD zu dieser Entsicherung konzentrieren.

Die Kanzlerschaft von Helmut Kohl

Den sozialdemokratischen »Beitrag« zu kritisieren ist so richtig, wie es aber auch nötig wäre, die Periode davor nicht aus dem Blick zu verlieren. Schon in den Debatten darüber, welchen Beitrag die Agenda-Reformen zu den aktuell guten wirtschaftlichen Daten geleistet haben, steckt diese Frage ja drin: Wenn stimmt, wie viele Kritiker der Hartz-Lobhudelei sagen, dass nämlich nicht vor allem die von der sozialdemokratisch geführten Regierung umgesetzten Politiken der Entsicherung für Aufschwung, abnehmende Erwerbslosigkeit etc. gesorgt hätten, sondern viel entscheidender die bereits in den 1990er Jahren einsetzende Zurückhaltung in den Lohnkämpfen, die Schwächung des Faktors Arbeit im Gefolge von Deregulierungen und so weiter waren, müsste ja auch viel mehr noch die Kanzlerschaft von Helmut Kohl ins Visier rücken. In den Debatten über den Rechtsruck hat man davon aber kaum etwas gehört. 

»Unsere Berechnungen zeigen, was für dramatische Konsequenzen der in der Abbildung dargestellte Anstieg der Unsicherheit für die betroffenen Menschen gehabt hat«, schreibt Krebs auf »Makronom«: Die gemessene Arbeitsmarktunsicherheit habe »sich so stark negativ auf ihr Wohlbefinden ausgewirkt, als wären ihre durchschnittlichen Lebenseinkommen um ca. 10 Prozent gekürzt worden!« Das zeigt die gewaltige Dimension dieser Entsicherung an. Was damit noch nicht erklärt ist: Wie sich die sozial und kulturell erfahrenen Folgen dann in politischen Orientierungen und Handeln niederschlagen.

Man könnte sogar die vorläufige These aufstellen, dass der Rückgang der gemessenen Arbeitsmarktunsicherheit nach 1998 zunächst darauf verweist, mit welchen Hoffnungen der Regierungswechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün verbunden war. Die Regierung drehte zunächst ja auch Politiken der Entsicherung zurück – wie die 1996 vom Kohl-Kabinett durchgesetzte Aushöhlung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Bestandteil eins »50-Punkte-Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze« gewesen war: ein Abbruchunternehmen am Kündigungsschutz, ein Förderprogramm für prekäre Jobs.

Politik ist nicht nur Ergebnis falschen Wollens

Die Rücknahme eines Teils des »Sparpakets« durch Rot-Grün hat womöglich dazu beigetragen, dass die gemessenen Arbeitsmarktunsicherheit nicht weiter steigt, die Regierungspolitik von Rot-Grün hat aber das hohe Niveau dieser Unsicherheit nicht mindern können, was auf zwei Fragen hinführt: Wie weit wollten das die Sozialdemokraten nicht, weil sie zu marktsozialdemokratisch dachten? Und wie weit gelang es den Sozialdemokraten nicht, weil das Wünschbare der Regierungspolitiken mit dem »stummen Zwang« von ökonomischen Verhältnissen konfrontiert war, und daraus falsche Schlussfolgerungen gezogen wurden?

Diesen Unterschied zu machen ist dann wichtig, wenn Erklärungsansätze dazu tendieren, eine bestimmte Richtung von Politik nur als Ergebnis falschen Wollens derer anzusehen, von denen man offenbar anderes erhofft hatte. »Die neoliberale Wendung der Sozialdemokratie war aber nicht lediglich ein politischer Fehler, ein Irrtum, der einfach korrigiert werden könnte«, so hat es der Ökonom Thomas Sablowski einmal formuliert. »Vielmehr war sie ein Resultat der Erkenntnis, dass die traditionellen sozialdemokratischen Positionen unter den Bedingungen freier Kapitalmobilität und verschärfter Weltmarktkonkurrenz nicht mehr aufrechterhalten werden können.«

Diese Bedingungen herrschten auch schon zuvor und auch wenn man der Kohl-Regierung nicht gerade einen Kurs der »traditionellen sozialdemokratischen Positionen« zubilligen möchte, so wäre doch auch die Periode Schwarz-Gelb heute stärker in die Betrachtung der möglichen längerfristigen Ursachen des Rechtsrucks mit einzubeziehen. Das könnte auch die Argumente schärfen, die auf einen Kurswechsel hinzielen – denn der darf eben nicht bloß in irgendeinem »Zurück hinter die Agenda-Zeit« bestehen. Auch wird man die Misere nicht gut verstehen können, wenn man sich nur auf einen, womöglich noch emotional aufgeladenen und politisch symbolträchtigen Punkt der Erklärung beschränkt, zumal, wenn das noch so schön in die parteipolitische Auseinandersetzung passt. 

Organisationsgrad und Tarifbindung schwächeln seit langem

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad, um auch hier das gleiche Beispiel zu nennen, das oben mit Blick auf die Elefanten-Kurve schon angesprochen war, ist auch in der Bundesrepublik nicht erst seit sozialdemokratischer Regierungszeit geschrumpft. Er lag bundesweit 1991 bei 38,5 Prozent, 1998 bei 27,1 Prozent und 2015 bei nur noch 18,9 Prozent. Die Tarifbindung, um einen zweiten nicht gerade unwesentlichen Faktor für die Primärverteilung zu nennen, ist ebenfalls schon länger im freien Fall, siehe etwa hier: Im Produzierenden Gewerbe waren in Westdeutschland 1993 noch 84 Prozent der Betriebe und 95 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden, schon im Jahr 2005 waren es nur noch 47 Prozent der Betriebe und 64 Prozent der Beschäftigten. Und das sind nur zwei Punkte, auch sie machen noch kein vollständiges Bild, tragen aber dazu bei.

Die Frage des »Zutuns« der SPD ist auch überhaupt nicht vom Tisch, im Gegenteil. Vor allem für die sozialdemokratische Matrix, zu der auch Linkspartei, Grüne, Gewerkschaften und ein Teil der Zivilgesellschaft gehört, könnte es entscheidend sein, viel mehr über die mittelfristigen Tendenzen und das ganze gesellschaftliche Ensemble zu wissen, das über einen längeren Zeitraum Veränderungen erfahren hat, die politisch zu beantworten nun immer schwieriger geworden sind.

Viel wird derzeit in verkürzte Antworten investiert, vom »progressiven Neoliberalismus« angefangen bis zur Frage, was die Hartz-Politik eigentlich »gebracht« habe. So hören sich auch die gezogenen Schlussfolgerungen meist an: Irgendwer soll dann meist »zurück« zur »sozialen Frage«. Welche Dimensionen diese in einer sich rasch verändernden Produktionsweise hat, darüber wäre mehr Wissen zu wünschen. Vor dem »Was tun?« kommt nämlich die wichtigste aller Fragen: Was ist? 

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