Wirtschaft
anders denken.

»Mehr Steuereinnahmen für die Kommunen«

Aktuelle Theorien zu Place-based Policies brechen mit dem marktliberalen Paradigma der räumlichen Ressourcenallokation.

28.04.2022
Jens Südekum steht vor einer Glaswand
Jens Südekum ist Professor für internationale Ökonomie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er forscht zu internationalem Handel, Regionalpolitik und ihrem Einfluss auf den Arbeitsmarkt. Zudem berät er das Bundeswirtschaftsministerium.

Herr Südekum, Sie haben für die OECD ein Paper zu »Place-based Policies« geschrieben. Was ist die deutsche Übersetzung dafür?

Der beste deutsche Begriff ist wahrscheinlich Regionalpolitik. Allerdings umfassen Place-based Policies sämtliche Politikmaßnahmen, die ganz gezielt auf einzelne Orte in einem Land ausgerichtet sind: bestimmte Städte, Landkreise, Regionen.

Nationalstaaten haben doch immer einen bestimmten Rechtsraum als Grundlage.

Das stimmt, fast alles hat einen Raumbezug. Im engeren Sinne geht es bei Place-based Policies darum, die räumliche Verteilung der Wirtschaftstätigkeit innerhalb eines Landes zu steuern und große Unterschiede auszugleichen. Klassisch hilft man ökonomisch schlechter gestellten Regionen. Aber auch Regionen, die mit riesigen Strukturbrüchen zu kämpfen haben, wie zum Beispiel das Ruhrgebiet nach dem Niedergang der Stahlindustrie.

Warum führen solche Maßnahmen in den Standardmodellen der Volkswirtschaftslehre (VWL) zu Ineffizienzen?

Lange hat in der VWL ein Paradigma vorgeherrscht, das vollkommen mobile Produktionsfaktoren innerhalb eines Landes annimmt. Kapital sowieso, aber insbesondere auch beim Faktor Arbeit. Wer in einem Ort keine Arbeit findet, könnte schließlich dorthin gehen, wo es welche gibt. In den USA war die Binnenmobilität der Arbeitskräfte tatsächlich mal sehr hoch. Jeder Vorstoß, Regionen wie die Südstaaten, die ökonomisch hinterherhinkten, zu fördern, wurde als Quelle von Ineffizienzen gesehen. Wenn man Investitionen in schwach entwickelten Regionen anreizt und dadurch Arbeitsplätze dort schafft oder hält, dann ist das ein Eingriff in die räumliche Ressourcenallokation und ineffizient, lautete die Argumentation. Es wäre besser, wenn man die Binnenmigration zu den guten Jobs zulässt und somit dort mehr Wert schafft. Dann kann man immer noch mit einem Teil des zusätzlichen Wachstums über Steuern die Zurückgebliebenen entschädigen. Das sei besser, als Produktionsfaktoren zu binden, wo sie gar nicht hingehören.

Marktliberale sagen, höhere Löhne ziehen Arbeitskräfte dorthin, wo sie benötigt werden. Sie sagen aber, dieses Signal über den Preis funktioniert so nicht.

Genau. Man sieht in den USA, dass die Mobilität im Zeitablauf geringer geworden ist. Mobilität ist zudem auch ein selektiver Prozess: Junge, gut ausgebildete Menschen sind mobil, ältere Menschen mit Familie nicht. Nur sind Letztere häufig diejenigen, die von Fabrikschließungen und Ähnlichem betroffen sind und auch keine Transfers beziehen wollen, da sie sich über die Arbeit definieren. Damit ist das alte Paradigma an seine Grenzen gekommen und gescheitert. Es funktioniert nicht, dass man Regionen komplett ökonomisch abschreibt, produktiven Menschen den Wegzug nahelegt und die, die nicht wegziehen können, mit Transfers abspeist. Dieser Ansatz von Regionalpolitik hat maßgeblichen Einfluss auf das Gefühl des »Abgehängtseins« und im Prinzip Phänomene wie Donald Trump oder den Brexit in Großbritannien erst möglich gemacht.

Sagen das alle Ökonom:innen?

Es hat tatsächlich ein spürbarer Paradigmenwechsel stattgefunden. Edward Glaeser von der Harvard University hat mal den berühmten Satz geprägt: »Subsidize people, not places«. Also, man solle Menschen unterstützen und nicht Orte. Nachdem Donald Trump passiert ist, hat sich das geändert. Bei Glaeser und anderen hat das zu einem Umdenken geführt. Es gibt heute nicht mehr so viele prominente Ökonomen, die Strukturpolitik komplett die Absage erteilen.

Wie ist die Lage in Deutschland?

Deutschland hat historisch Glück gehabt – wenn man das so sagen will. Zumindest innerhalb Westdeutschlands haben wir nicht dieses Maß an Konzentration in einem oder zwei Zentren. Klar, München ist der Arbeitsmarkt mit den höchsten Löhnen, hat aber lange nicht den gleichen Status wie London in Großbritannien oder Paris in Frankreich. Das liegt auch an der deutschen Teilung nach den Weltkriegen. Ohne diese wäre Berlin heute sicherlich die dominierende Metropole Europas.

Das hat die Zentralisierung in ganz Deutschland verhindert?

Durch die Teilung der Stadt mussten viele Unternehmen quasi flüchten, zum Beispiel Allianz oder Siemens. Viele dieser Unternehmen haben sich irgendwo in Westdeutschland niedergelassen. Dabei waren Zufälle entscheidend. Unternehmen haben sich dort niedergelassen, wo es eigentlich überhaupt keinen natürlichen Standortvorteil gibt. Auch aufgrund dieses historischen Umstands gibt es heute Weltmarktführer in Nischenbranchen in abgelegenen Kleinstädten wie dem niedersächsischen Vechta.

In Ihrem Paper verwenden Sie eine Karte, in der sogenannte Hidden Champions mit einem roten Punkt markiert sind. Es ist kein Ballungsraum erkennbar.

Hidden Champions kennt man in den Großbritannien und den USA nicht. Diese breite Streuung von Weltmarktführern schwächt die räumliche Polarisierung. Zudem hat man da, wo große Strukturbrüche waren – Stichwort Ruhrgebiet –, auch ganz anders gegengehalten. Das Schicksal von Duisburg und Gelsenkirchen ist nicht vergleichbar mit dem Abstieg von Detroit. Das war eine Folge der starken deutschen Strukturpolitik.

Sie formulieren drei Richtlinien, wie die Place-based Policies funktionieren können.

Erstens ist es unmöglich, am Reißbrett komplett Neues zu erschaffen. Man muss an vorhandene lokale Kompetenzen anknüpfen und auf diesen aufbauen. Die Idee der kreativen Zerstörung mag sicherlich irgendwo mal funktionieren. In aller Regel ist es aber erfolgreicher, auf dem aufzubauen, was es gibt.

Zweitens, würde ich sagen, dass ein Ausbau der Bildungs- und Wissensinfrastruktur fast immer sinnvoll ist. Damit meine ich nicht den Versuch, Harvard 2.0 im Ruhrgebiet zu gründen. Das wird scheitern. Aber dort oder im ländlichen Ostdeutschland ein System von anwendungsorientierten Unis und Fachhochschulen in Kooperation mit der lokalen Wirtschaft zu gründen, ist das Beste, was man machen kann.

Und das letzte Prinzip: Man muss drauf achten, dass vor Ort Institutionen bestehen, die Förderprogramme überhaupt verarbeiten können. Ich habe mal nachgeschaut: Es gibt in Deutschland mehr als 900 Förderprogramme, auf die lokale Regierungen zugreifen können. Eine lokale Verwaltung in einem Landkreis in der Eifel kann sich mit ihrer Personalausstattung in diesem Dschungel gar nicht zurechtfinden. Es sollte viel stärker darum gehen, vor Ort Strukturen aufzubauen. Das ist auch eine Frage der Verteilung der Steuereinnahmen. Lieber den kommunalen Anteil an den Steuereinnahmen erhöhen, als von oben Förderprogramme initiieren, die nicht angenommen werden.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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