Setzt die digitale Revolution eine politische in Gang?
In seinem Buch »Soziophobie« unternimmt der Soziologe César Rendueles den Versuch, die Natur sozialer Bindungen in der Postmoderne zu verstehen. Insbesondere interessiert ihn die Frage nach politischem Wandel im Zeitalter digitaler Utopien.
César Rendueles lehrt Soziologie an der Madrider Universität. Ein kluger Mann, der einen Essay über den politischen Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie geschrieben hat. Man kann dieses bei Suhrkamp erschienene Buch auf verschiedene Arten lesen und doch immer sein bitteres Vergnügen daran haben.
Im ersten Teil des Textes unternimmt der Autor eine Zeitreise ins viktorianische Zeitalter, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine »Krise der globalen Subsistenz« verursachte, wie Mike Davis, Autor des Buches »Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter«, schreibt. Infolge von Dürren, Hungersnöten und anderen sogenannten Niño-Phänomenen starben in jenem Vierteljahrhundert 30 bis 50 Millionen Menschen an Unterernährung oder einer Seuche – die meisten in Indien, China, Brasilien.
Die Großmächte nutzten die von Klimakatastrophen hervorgerufene Not, um ihre imperiale Expansion zu beschleunigen: »Zwischen 1875 und dem Ersten Weltkrieg wurde ein Viertel der weltweiten Landfläche unter einer Handvoll europäischer Staaten, den USA und Japan aufgeteilt. (…) Mit den Großkatastrophen des viktorianischen Zeitalters setzten sich jene globalen Sozialbeziehungen durch, die wir heute kennen.« (Seite 11) Mit sozialpsychologischen Auswirkungen auch in jenen Erdteilen, in denen die Ungleichheit auf ein ertragbares Maß abgemildert ist: Rendueles schreibt: »Das Auftauchen der Dritten Welt verursachte den Menschen der westlichen Hemisphäre Probleme. Die Existenz einer apokalyptischen Peripherie hat die Angst vor Veränderungen enorm verschärft.« (Seite 17)
Die systemstabilisierende Angst vor dem Verlust
PsychologInnen bezeichnen das, was daraus folgt, als Verlustaversion. Auf den Kapitalismus bezogen bedeutet das: Obwohl der Markt unser Leben »mit einer Totalität und Intensität« durchdringt, wie es sie nie zuvor gab, sind die Menschen bereit, eine Menge dafür zu bezahlen, um dieses System zu behalten. In einem berühmten Experiment wurden einer Reihe von Personen Gegenstände geschenkt, dann wurden sie gefragt, was sie bereit wären, dafür zu bezahlen, diese Gegenstände behalten zu dürfen. Andere Personen sollten sagen, was sie zahlen würden, um die gleichen Gegenstände zu erwerben. Der Unterschied war eklatant. Menschen bezahlen weitaus mehr dafür, etwas zu behalten, auch wenn sie es gerade erst geschenkt bekommen haben.
Rendueles widmet sich dem Phänomen Freier Markt, den er als eine Chimäre bezeichnet, die ungewöhnlich viel Leid verursacht hat. »Der Kapitalismus lässt sich nicht parodieren. Nichts kann eine Welt überraschen, die Arbeit, den Gebrauch des Geldes oder die Nahrungsmittelproduktion in Form eines allgemeinen und obligatorischen sportlichen Wettbewerbs namens Markt organisiert.« (Seite 28)
Radikaler geht es nicht, da hat der Autor Recht. Und genau deshalb wurde der Markt in vorkapitalistischen Gesellschaften dort gelassen, wo er hingehört: auf einen ausgewiesenen Platz mit einem vorgegebenen Regelwerk. Wir aber haben den Markt in unsere Wohnzimmer und Betten eingeladen, haben ihm Hausrecht gegeben, die Verfügungsgewalt über unsere Beziehungen und all die lebensnotwendigen Dinge, die mal Gemeineigentum waren.
Wie kann eine neue Gemeinschaftlichkeit entstehen?
Gibt es politische Projekte, die auf das Entstehen neuer Formen der Gemeinschaftlichkeit vertrauen, will der Autor wissen. Oder bleibt uns – mangels Alternativen – nur, individualistisch, egoistisch, misstrauisch und unsolidarisch zu sein? Den Hauptteil des Essays widmet Rendueles der Frage, inwieweit die digitale Revolution die ökonomischen Probleme des freien Marktes lösen kann. Er kommt zu einem ernüchternden Schluss: »Ich halte den Cyberutopismus letztlich für Selbstbetrug. Er hält uns davon ab, zu verstehen, dass Ungleichheit und Marktlogik die wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zu Solidarität und Brüderlichkeit sind. (…) Die ganze sozial-digitale Aufregung ist letztlich ein Wohlstandsprivileg und reines Ornament. Sie taugt nicht für das, was Gemeinwesen eigentlich leisten soll: nämlich sicherstellen, dass die einen für die anderen sorgen. Dasselbe gilt auch für den Egalitarismus 2.0, also das Gefühl, dass sich im Internet soziale Unterschiede verflüchtigen.« (Seite 46)
Der Versuch, »die Natur sozialer Bindungen in der Postmoderne besser zu verstehen«, ist dem Autor gelungen. Auch wenn daraus nicht die Umdeutung einer Dystopie in eine Utopie abgeleitet werden kann. Zumindest aber ermöglicht der Essay einen offenen und unverstellten Blick auf das, was wir haben – und auf das, was wir vielleicht an der Welt, wie sie ist, zu ändern vermögen.
César Rendueles: Soziophobie, edition suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
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