Wirtschaft
anders denken.

Die kostenlose Empathie der Frauen

15.03.2021
Spülen ist auch Reproduktion: Eine Menge Geschirr beim AbtropfenBild von Hans Braxmeier auf Pixabay

Natürlich ist Reproduktion keine Frauensache: Eine kurze Geschichte der notwendigen Doppelmoral. Aus OXI 3/21.

Frauen kümmern sich: Um Kinder, Kranke, Alte, Hilfsbedürftige, unterbezahlt oder unbezahlt und wenn sie schon dabei sind, kümmern sie sich auch um Wäsche, Einkauf, Geburtstagsgeschenke und anderes. Das war so, das ist so, und an vielen Tagen fühlt es sich so an, als würde es auch immer so sein. Immerhin, mittlerweile gibt es zu dieser geschlechtsspezifischen Arbeitsverteilung Statistiken, wie die des Bundesfamilienministeriums von 2017, aus der hervorgeht, dass Frauen 52,4 Prozent mehr unbezahlte Familien- und Sorgearbeit leisten als Männer, und zwar bezogen auf den Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung. Schaut die Statistikerin nur auf die Familien mit Kleinkindern, so erhöht sich die Zahl auf 110 Prozent oder täglich zweieinhalb Stunden. Schade, dass sie in der Steinzeit noch keine Statistiken hatten, dann wüssten wir, ob die Bilanz bei Familie Feuerstein eigentlich anders aussah. Ein zentraler Unterschied allerdings ist bekannt: Wilma und Fred – besser gesagt die echten Steinzeitfrauen und -männer, nicht die nach dem Bild der US-Mittelschichtsfamilie gekneteten Filmfiguren – lebten erstens nicht in Kleinfamilien, sondern in Gruppen, zweitens unterschieden sie nicht zwischen Hausarbeit und Erwerbsarbeit beziehungsweise Produktion und Reproduktion. Den größten Teil des Tages ging es ums gemeinsame Überleben, und manchmal, wenn genug zu essen da war, blieb noch Zeit für Höhlenmalereien. Ob die von den Wilmas oder den Freds stammen, ob es manchmal Streit gab, weil eine Frau lieber Mammuts jagen wollte als Babys stillen, lässt sich nur mutmaßen.

Fest steht aber: Das, was wir heute »Care« nennen, weil es ein umfassenderer Begriff ist als »kümmern« und auch weniger sperrig als »Sorgearbeit«, wurde zum Problem, als mit Manufakturen, Fabriken und Fabrikanten, die Profitmaximierung erfunden war. Dass man Geld nicht essen kann, war ja schon immer klar, aber wer im Topf rühren muss, kann halt nicht gleichzeitig im Akkord Dinge herstellen. Wie tödlich es zugeht, wenn alle Menschen irgendwas im Akkord machen, ist in »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« weidlich beschrieben. Also war es überlebenswichtig, dass eine Gruppe von Menschen zumindest zeitweise von der Produktion von Lebensmitteln freigestellt war, damit sie sich um das Leben kümmern. Da es nun mal Frauen waren und sind, die gebären, boten sie sich gewissermaßen »von Natur aus« an. Mit irgendeiner Natur wird seitdem und bis heute versucht, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung immer wieder neue unhinterfragbare Gründe zu verpassen – und zwar nicht nur in der Reproduktion, sondern auch in der Produktion. Früher waren es Muskel- oder Hirnmasse, Hormonzyklen oder sekundäre Geschlechtsmerkmale, die eine je nach Bedarf für eine Tätigkeit prädestinierten oder im Gegenteil völlig ungeeignet erscheinen ließen. Heute wird gerne – »amerikanische Wissenschaftler haben festgestellt« – auf die Gen- oder Hirnforschung verwiesen, um beispielsweise zu erklären, warum Frauen empathischer sind als Männer. Selbst positivistisch angelegte Studien allerdings ergeben, dass »die Gene« höchstens für zehn Prozent der jeweiligen als weiblich bezeichneten Eigenschaften verantwortlich gemacht werden können. Der Rest ist Vorbild, Lernen, Tradition – also »was Gemachtes«.

Spätestens hier kommt nun die Moral ins Spiel, jene Kraft, die dafür sorgt, dass »Zustimmung produziert wird zu einer Gesellschaftsordnung, in der die gemeinschaftliche Regelung der Produktion des Lebens fortgerückt ist in den Himmel von abstrakten Werten. Von dort kehrt sie als Tugend der Individuen zurück, als innere Haltung, welche die allgemeine Inkompetenz für die gemeinschaftliche Regelung des Lebens verklärt«. Das schrieb die marxistische Feministin Frigga Haug, nicht etwa als aktuellen Kommentar zum politischen Umgang mit der Covid-19-Krise, sondern bereits 1983 in einem Aufsatz mit dem Titel »Die Moral ist zweigeschlechtlich wie der Mensch«. Darin arbeitet sie heraus, dass »das Geschäft eine andere Bedeutung der Moral braucht als die Liebe«, und wie sich dies in jeweils männlich oder weiblich verstandenen unterschiedlichen Moralpraxen manifestiert. Diese schließen sich allerdings nicht wechselseitig aus oder führen dazu, dass Männer beispielsweise Fürsorglichkeit unterdrücken, sondern sie funktionieren arbeitsteilig »als wechselseitige Unterstützung des Systems als Ganzem«.

Das ist besonders praktisch, weil das kapitalistische System ja permanent die Formen ändern muss, in denen Profite erwirtschaftet werden. Einen solche Veränderung, nämlich das Ende des Fordismus, beziehungsweise auf Westdeutschland bezogen der Ära der sozialen Marktwirtschaft, analysierte die Soziologin Claudia von Werlhof damals als »Hausfrauisierung« von Arbeit. Dieser Begriff nahm vieles vorweg, was später unter dem Begriff »Prekarisierung« gefasst werden sollte: Arbeit, die so entlohnt ist, dass sie die Kosten der Reproduktion kaum oder gar nicht mehr deckt, Flexilibisierung von Arbeitszeiten, Entsicherung von Beschäftigungsverhältnissen, Entwertung, Entsolidarisierung – kurz: fast alles, was uns heute als Neoliberalismus normal zu sein scheint. All das war nicht nur dank der Globalisierung der Arbeitsmärkte möglich. Sondern auch, weil Frauen aller gesellschaftlichen Schichten vermehrt erwerbstätig sein wollten und mussten. Mit ihnen kamen die ihnen zugeschriebenen moralischen Tugenden von Fürsorge über Fleiß, Hingabe, freundlichem Ertragen bis zur derzeit so gehypten Empathie und wurden zu einer Ressource. Die ließe sich ebenso profitträchtig ausbeuten wie in früheren Zeiten und an anderen Orten schon die flinken, weil kleineren Finger der Textilarbeiterin, Krabbenpulerin oder Programmiererin. Oder natürlich auch die harten Muskeln des Bergarbeiters, die breiteren Schultern des Automechanikers und die Konzentrationsfähigkeit des EDV-Ingenieurs. Bloß Letzteren würde der Boss eher nicht sagen: »Jungs, ihr geht eben einfach von Natur aus gerne in die Muckibude, bastelt an Autos rum oder daddelt am Computer. Kann ich gut gebrauchen, aber extra Kohle gibt es selbstverständlich nicht.« Vielmehr gilt noch immer: Nerd sein taugt zur männlichen Qualifikation, Empathie ist eine weibliche Tugend.

Denn auch die vollerwerbstätige Frau ist eben nicht nur kompatibel mit dem geschäftskonformen Leistungs-Moralsystem, sondern hat weiterhin die alten, dem Leben verpflichteten, fürsorglichen Frauentugenden verinnerlicht. Die zerren nicht nur an ihr, wenn nach und während der Arbeit geliebte Menschen versorgt werden sollen, sondern sie sind auch in der Lohnarbeit selbst jederzeit an- und abrufbar: »Ich schaff das einfach nicht ohne Sie, Frau Müller. Wer besorgt denn das Geschenk für den Kollegen? Kannst du heute länger bleiben, ich hab noch einen dringenden Termin.« Solche und ähnliche täglich weltweit wohl millionenfach gesprochenen Sätze sind keine Ausnahmen oder Stilfragen, sondern generieren handfeste Unternehmensprofite auf Kosten von Frauen. Besonders perfide zeigt sich das, nicht erst seit der Pandemie, im Care-Sektor. Dort, wo profitträchtige Effizienzsteigerung nur um den Preis eines Qualitätsverlustes möglich ist, werden »Care-Giverinnen permanent in ethische Dissonanz getrieben«, so beschreibt das feministische Autorinnenkollektiv des Schweizer Denknetzes die Folgen der Doppelmoral in einem Text von 2013.

Schon damals umfasste der Care-Sektor geschätzt rund 30 Prozent des gesamten bezahlten Arbeitsvolumens. Tendenz steigend, denn parallel wurde und wird ja weiter privatisiert, was vormals als sozialstaatliche Leistungen immerhin ein Versuch war, den gepriesenen »weiblichen Tugenden« auch als gesellschaftliche Verpflichtung nachzukommen. Folglich fehlt immer mehr Menschen sowohl die Zeit, um Care-Arbeiten selbst zu erbringen, als auch das Geld, um sie kaufen zu können und »dieser Doppelmechanismus wirkt sich negativ auf den individuellen Lebensstandard und den gesellschaftlichen Wohlstand aus«, wie nicht nur die Denknetz-Feministinnen bemerken. Empathie ist hier ebenso fehl am Platz wie individuelle Schuldgefühle, denn die herrschende Doppelmoral generiert systemrelevante Profite. Bessere Ideen gibt es längst, deren Durchsetzung drängt.

Geschrieben von:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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