Reputations-Firewalls, ideologische Gräben, Politikberatung: Achim Truger und der Sachverständigenrat
Die Nominierung von Achim Truger als der nächste »Wirtschaftsweise« auf dem Ticket der Gewerkschaften hat eine heftige Debatte ausgelöst. Worum geht es? Ein Dossier von oxiblog.de zu einer Frage, die über eine Personalie ziemlich weit hinausreicht.
Aktualisiert am 11.10.
Wir versuchen an dieser Stelle, die wichtigsten Beiträge zusammenzustellen (beginnend unten), weil wir glauben, dass es im »Fall Truger« um mehr geht als um eine Nominierungsfrage, die man unterschiedlich sehen darf. Hinweise und konstruktive Wortmeldungen werden gern entgegengenommen: kontakt@oxiblog.de
Im »nd« schreibt Simon Poelchau zur Debatte, Truger habe sich »in der Vergangenheit schon mehrfach kritisch mit der Arbeit des Sachverständigenrats auseinandergesetzt und ihm dabei so manche Ungenauigkeit nachgewiesen. Dabei ging es in der Regel um die sogenannte kalte Progression. Auf diese verweisen Befürworter von Steuersenkungen immer wieder. Die kalte Progression kommt zustande, wenn die Eckwerte für den Eintritt in eine neue Progressionsstufe nicht an die Inflationsrate angepasst werden. Für Steuersenkungsbefürworter kommt es dadurch zu einer illegitimen Mehrbelastung der Steuerzahler. Diese Mehrbelastung durch die kalte Progression behandelte der Sachverständigenrat etwa auch in seinem Jahresgutachten von 2013/14. Um diese zu berechnen, ging er davon aus, dass das Jahr 2006 für die Steuerzahler ein Jahr »mittlerer Belastung« gewesen sei. Truger zeigte jedoch mit Kollegen auf, dass es 2006 wegen der zuvor beschlossenen Steuersenkungen zu extrem niedrigen Belastungen für die Steuerzahler kam. Die Folge: Der Sachverständigenrat überschätzte erheblich die Folgen der kalten Progression.«
Im »Handelsblatt« nimmt Norbert Häring die Debatte noch einmal auf und lenkt das Licht vor allem auf den »Trend, wissenschaftliche Leistung an Veröffentlichungen in führenden Fachzeitschriften zu messen«. Dies sei »allerdings im Fach zunehmend umstritten. In einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz, der auch im ›Journal of Economic Literature‹ (JEL) erscheinen soll, spart Nobelpreisträger James Heckman nicht mit Kritik. ›Berufungskommissionen entziehen sich ihrer Verantwortung, wenn sie die Entscheidung an Herausgeber der führenden Zeitschriften delegieren’, schreiben er und Koautor Sidharth Moktan. Wer als Wissenschaftler Karriere machen wolle, müsse sich den wirtschaftspolitischen und methodischen Präferenzen der Herausgeber anpassen. Wer dazu nicht bereit sei, habe kaum eine Chance. Heckman ist selbst Herausgeber einer der fünf weltweit führenden Fachzeitschriften, des ›Journal of Political Economy‹. Nobelpreisträger George A. Akerlof schließt sich in einem auch für das JEL vorgesehenen Beitrag dieser Kritik an. Bei den führenden Zeitschriften komme man an, wenn man ein etabliertes Modell verwendet und daran nur kleine Veränderungen vornimmt. Das produziere Gleichförmigkeit und befördere Karrierismus. Gänzlich Neues oder deutlich vom Mainstream Abweichendes habe geringe Publikationschancen.«
In der »Süddeutschen« schreibt Jan Willmroth, die Wirtschaftsweisen seien »als kritische Begleiter der Politik per Gesetz institutionalisiert. Doch ihre Arbeit trifft in Berlin seit Jahren auf Ignoranz. Das ist ein schlechtes Zeichen für den Zustand deutscher Wirtschaftspolitik«. Mit Blick auf die Debatte um Achim Truger heißt es weiter, dabei werde »eine wichtige Frage angesprochen: Muss ein politisch beratender Ökonom zuerst ein guter Wissenschaftler sein, sich also mit Veröffentlichungen in international anerkannten Fachpublikationen hervorgetan haben, was Truger offensichtlich nicht hat? Oder zählt viel eher das Talent, die Komplexität moderner Wirtschaftswissenschaft in verständliche Sprache zu übersetzen, unter Berücksichtigung der politischen Realität?« Und weiter: »Um die wissenschaftliche Expertise eines Forschers zu beurteilen, ist das internationale Renommee seiner Papiere – erstens – noch immer die verlässlichste Messgröße. Ein Blick auf die 38 Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats im Bundeswirtschaftsministerium offenbart zweitens, welche Maßstäbe dort gelten: In der Mehrzahl sitzen da Ökonomen, die Universitätsprofessoren oder Institutschefs oder beides sind, die zuerst wissenschaftlich exzellent waren und dann Politikberater wurden. Für ein so streng institutionalisiertes Gremium wie den Sachverständigenrat muss das ebenso gelten. Die Gewerkschaften tun sich und dem Rat keinen Gefallen, wenn sie jemanden berufen, den die vier Spitzenforscher Christoph M. Schmidt, Volker Wieland sowie Schnabel und Feld kaum ernst nehmen können.«
DIW-Chef Marcel Fratzscher twitterte: »Für mich bleibt der Sachevrsrtändigenrat ein wichtiges Gremium. Ich halte aber die öffentliche Kritik mancher WirtschaftswissenschaftlerInnen an einem Kollegen für unangebracht— auch zumal wenige von uns hierzulande das Kriterium top ›internationale Fachzeitschriften‹ erfüllen«.
Der Ökonom und Gewerkschafter Michael Wendl schreibt in seinem Gastbeitrag auf oxdiblog.de unter anderem: »Die Kritik an Achim Truger ist ein Kampf um Deutungshoheit und Definitionsmacht. Die Mehrheit des SVR will ein Monopol auf Wissenschaftlichkeit des ökonomischen Denkens durchsetzen. Die Frage der Publikationen ist dabei nur vorgeschoben… Es ist ein einfacher Trick. Die Volkswirtschaftslehre wird auseinandergeschnitten: In einen Teil der den neoklassischen Dogmen entspricht und in einen anderen Teil, den es nicht gibt und der deshalb nicht beachtet werden muss. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist das mehr als absurd. Dabei ist die Volkswirtschaftslehre ein Sonderfall der Sozialwissenschaften, eine Soziologie der kommerziellen Beziehungen (Hans Albert) oder die Wirtschaft der Gesellschaft als Subsystem einer Gesellschaft (Niklas Luhmann). Wenn wir das deutschen Ökonomen sagen, lässt sie das kalt. Sie sind überzeugt, dass Soziologie und Wissenschaftstheorie keine Wissenschaften in ihren Sinn sind. Wer eine Religion vertritt, hat damit sogar Recht.«
In der »Taz« nimmt sich Jörg Wimalasena die Debatte ausführlich vor und kommt unter anderem auf diesen Punkt zu sprechen: »Fest steht: Das frühzeitige Bekanntwerden der Personalie erlaubte nicht nur Schnabel ihren Twitter-Kommentar. Es ermöglicht auch Trugers Kritikern, bis zu einer möglichen Berufung durch die Bundesregierung monatelang dessen Eignung infrage zu stellen. Zum Vergleich: Peter Bofingers Berufung wurde 2004 nur wenige Tage vor der Verkündung durch die Bundesregierung bekannt. Das entspricht auch eher den Konventionen.«
In einem kurzen Interview hat nun auch Sebastian Botzem, der derzeit als Vertretungsprofessor im Bereich Internationale Politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin tätig ist, seine Sicht auf die Truger-Kontroverse erläutert. Darin heißt es unter anderem: »Neben der Zugehörigkeit zum Gewerkschaftslager, die von einigen bereits als eigenständiges Problem interpretiert wird, werden vor allem Argumente ins Feld geführt, die mit wissenschaftlicher Reputation verbunden werden und den Expertenstatus der Sachverständigen betonen. Kompetenz und Fachwissen sind ohne Zweifel elementarer Bestandteil der Ratstätigkeit und Grundlage für alle Beratungen und die Erstellung von Gutachten. Aber die Kritik an Truger geht darüber weit hinaus und verweist auf die Marginalisierung bestimmter – vor allem gewerkschaftsnaher – wissenschaftlicher Positionen und ist auch politisch motiviert. Dies gilt umso mehr im Lichte einer Volkswirtschaftslehre die sich, auch international, immer stärker an kleinteiligen modeltheoretischen Überlegungen orientiert und damit zu einer Engführung wirtschaftswissenschaftlichen Denkens beiträgt. Achim Truger gerät daher auch als Repräsentant einer nachfrageorientierten makroökonomischen Richtung in die Kritik, die zunehmend Schwierigkeiten hat, in internationalen Fachjournalen veröffentlicht zu werden. Die Kritiker nehmen nun eine argumentative Abkürzung und suggerieren, nur wer sich in ausgesuchten Journalen äußert und an stark spezialisierten, oftmals modelltheoretisch verengten Debatten beteiligt, verfüge über wissenschaftliche Reputation.«
Der Ökonom Rudi Bachmann fragt sich auf Twitter, »was sagt es uns über die wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftspolitische Debattenkultur in Deutschland, wenn die Kritik an Truger«, hier nennt Bachmann unter anderem den Grünen-Politiker Kindler und das oxiblog.de, »hauptsächlich als eine über wirtschaftspolitische Ausrichtung angesehen wird? Was sagt es uns, dass es noch nicht einmal für möglich angesehen wird, dass man verstärkt linke Positionen im Sachverständigenrat vertreten sehen will und dennoch Herrn Truger ablehnt, weil es objektiv wissenschaftlich besser ausgewiesene Alternativen gibt? Ich dachte eigentlich, wir wären einen Schritt weiter.« Bachmann hatte bereits zu Beginn der Debatte erklärt, er glaube, »die Gewerkschaften machen einen schweren Fehler, wenn sie auf das wissenschaftliche Renommee und die außenwirtschaftliche Gravitas von Jens Südekum im Sachverständigenrat verzichten«.
In der »NZZ« kommentiert Christoph Eisenring die Personalie Truger unter der Überschrift »Beschädigung der deutschen Wirtschaftsweisen«: »Mit einem polarisierenden Kandidaten« würden »die Gewerkschaften unter den deutschen Wirtschaftsweisen für Unruhe« sorgen. Truger wird dort charakterisiert als jemand, der von der Schuldenbremse nicht viel halte, »stattdessen ist er für eine ›Privatisierungsbremse‹. Zu seinem Vokabular zählen die ›Dominanz der Marktradikalen‹ oder die ›neoliberale Hegemonie‹.« Und weiter: »Einmal mehr zeigt sich, dass Korporatismus einem solchen Gremium nicht guttut. Bleibt es beim Vorschlagsrecht, hätte es unter eher links eingestellten Ökonomen durchaus Vertreter, die wissenschaftlich vorne dabei sind, wie Jens Südekum (Düsseldorf), der zur Globalisierung forscht, oder Wirtschaftspolitik-Professor Tom Krebs (Mannheim). Aber vielleicht ist es der Regierung ganz recht, wenn das Gremium nur noch durch Dauerstreit auffällt und sie sich mit den oft unbequemen Ratschlägen nicht mehr auseinandersetzen muss«.
Der Grünen-Politiker Sven-Christian Kindler hat sich in die Debatte eingeschaltet. »Bei fast allen relevanten ökonomischen Themen in den letzten Jahren lag die Mehrheit des Sachverständigenrates aufgrund der ideologischen Brille empirisch daneben (Finanzkrise, Mindestlohn, Wohnungsmarkt etc.)«, twitterte der Bundestagsabgeordnete. Er könne »verstehen, dass man dann etwas Angst vor einem versierten Ökonomen wie Truger hat«.
In der »Frankfurter Rundschau« nimmt sich Stephan Kaufmann den Fall vor: »Seit den sechziger Jahren berät der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – so der volle Name – die Bundesregierung. Zwei Mal im Jahr legt er ein Gutachten vor, in dem es nicht nur um die Konjunktur geht, sondern um alle relevanten wirtschaftspolitischen Fragen: um die Rente, den Arbeitsmarkt, um die Energiepolitik, die Mietpreisbremse oder die Euro-Krise. Der SVR legt damit eine Art offizielle Deutung der Vorgänge in der Wirtschaft vor, er erklärt die Wirklichkeit gemäß ökonomischen Modellen. Doch sind diese Modelle und Deutungen erstens auch unter Ökonomen umstritten. Zweitens geht es bei Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht nur um theoretische Differenzen, sondern auch um praktische Interessensgegensätze, zum Beispiel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.« In den vergangenen Jahren habe »sich der Rat zunehmend gespalten. Statt als Einheit treten die fünf Weisen häufig als 4+1 Weise auf: Die Ratsmehrheit auf der einen Seite, Bofinger auf der anderen. Letzterer spickte die vorgelegten Gutachten regelmäßig mit seinen ›abweichenden Meinungen‹«.
Da am 1. Oktober die »Schweigeperiode« der »Wirtschaftsweisen« vor der Übergabe des Jahresgutachtens 2018 begonnen hat, kamen die Äußerungen gegen Truger aus dem Rat sozusagen in letzter Minute. Die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wird der Bundesregierung am 7. November überreicht. »Bis dahin werden sich die Ratsmitglieder ab heute während der Schweigeperiode nicht mehr öffentlich äußern«, heißt es beim Rat – der einen kleinen Voausblick auf den Inhalt gibt. »In diesem Jahr wird der Rat in seinem Gutachten wieder die wirtschaftliche Lage auf nationaler und internationaler Ebene analysieren und deren Entwicklung diskutieren. Dabei wird der Rat ein breites Themenspektrum im Bereich Wirtschaftspolitik beleuchten. Neben Geld-, Finanzmarkt- und Steuerpolitik wird das Gutachten in diesem Jahr Analysen zum Immobilien- und Gesundheitsmarkt enthalten.«
Vom Linkspartei-Politiker Fabio De Masi kommt die bisher einzige ausführlichere Stellungnahme aus dem Politikbetrieb. Der Finanzexperte aus dem Bundestag freute sich, »dass mein ehemaliger Professor und Kollege an der Hochschule für Wirtschaft und Recht, Achim Truger, nominiert wird. Truger gehört als Finanzwissenschaftler zu den wenigen Ökonomen in Deutschland, die realitätsnahe Volkswirtschaft betreiben und die wirtschaftspolitische Bilanz der Agenda 2010 sowie der Kürzungspolitik in der Euro-Zone kritisch begleiten.« Truger habe »die Debatte um eine kurzfristige Reform des starren Stabilitäts- und Wachstumspaktes über eine goldene Investitionsregel wesentlich geprägt. Diese fordert, öffentliche Kreditaufnahme im Umfang öffentlicher Investitionen zu gestatten«. Zu Peter Bofinger sagte De Masi, dieser habe die »Angriffe der übrigen Mitglieder des Sachverständigenrates mit Gelassenheit ertragen. Die sofortigen heftigen Attacken auf Truger nach seiner Nominierung zeugen nicht von wissenschaftlicher Redlichkeit«, sondern »von ideologischen Grabenkämpfen«. Eine »nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik« werde auch von Spitzenökonomen wie Joseph Stiglitz, Dani Rodrik sowie selbst innerhalb des IWF betrieben. »Die deutsche Volkswirtschaft sollte sich nicht länger von den internationalen Debatten isolieren«, so der Hamburger Bundestagsabgeordnete.
Ein Teilaspekt der Debatte dreht sich um die Frage, welchen Stellenwert ausgewiesene Publikationen für die wissenschaftliche Qualität eines Ökonomen haben. Der Präsident des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie, Uwe Schneidewind, twitterte: »Es ist äußerst schade, wenn führende Wissenschafler/innen im Sachverständigenrat und in der erweiterten ökonomischen Community nicht mehr den Mut haben, auf die Kraft des besseren Argumentes zu setzen, sondern sich hinter Reputations-Firewalls meinen verstecken zu müssen.« Martin Greive vom »Handelsblatt« befand im Kurznachrichtendienst, »Top-Publikationen sind wichtiges Qualitätsmerkmal, aber manche Ökonomen können auch ohne gute Politikberatung machen«. Er »finde eher, die thematische Schieflage des Sachverständigenrates bleibt bestehen. Globalisierung, Digitalisierung, Industriepolitik – da bräuchte man jemanden«.
Stefan Ewald wies auf eine Neuerscheinung hin (hier), die »gerade ganz rechtzeitig zu den Sachverständigenrats-Stänkereien« komme: »Publishing and Promotion in Economics: The Tyranny of the Top Five«, die als NBER Working Paper No. 25093 erschienen sind. Auch die Veröffentlichung eines Aufsatzes von Sebastian Botzem und Judith Hesselmann über die »Gralshüter des Ordoliberalismus?«, welche den Sachverständigenrat »als ordnungspolitischer Fluchtpunkt bundesrepublikanischer Politikberatung« zeichnet, wurde in den Zusammenhang mit der Truger-Debatte gebracht.
Im Internet meldeten sich derweil auch Stimmen pro Truger zu Wort. Der Ökonom Stephan Schulmeister nannte seinen möglichen Eintritt in den Rat »sehr zu begrüßen, seine Analysen sind theoretisch und empirisch fundiert, also nützlich«. Ähnlich äußerte sich der Leiter der österreichischen Arbeiterkammer, Markus Marterbauer. Die Nominierung Trugers sei eine »exzellente Entscheidung«. Der gewerkschaftsnahe Ökonom Andrew Watt, am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Böckler-Stiftung ehemaliger Kollege von Truger, erinnerte zwar daran, dass es nicht eben einfach sei, in die Fußstapfen von Bofinger zu treten – Truger sei aber als Experte für öffentliche Finanzen und als Europakenner »eine hervorragende Wahl« für den Sachverständigenrat.
»Scharfer Gegenwind für Bofinger-Nachfolger im Sachverständigenrat«, meldete schließlich die »Welt« – und schreibt: Es sei »eigentlich ein eingespieltes Ritual der von Kooperation und Konsens geprägten Bundesrepublik Deutschland: die Nominierung der sogenannten Wirtschaftsweisen. Jetzt allerdings, in einer Zeit, in der auch andere etablierte Strukturen unter Beschuss stehen, droht das renommierte Gremium durch einen Berufungsstreit an Ansehen zu verlieren – und das, obwohl die Arbeit des Rates ohnehin in den letzten Jahren immer wieder ungewohnt heftig kritisiert wurde.« Das Blatt zitiert dann Michael Hüther, den Direktor des von Unternehmen finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft: »Der Werdegang von Truger ist eher untypisch. Noch nie haben die Sozialpartner so eng nach ideologischer Vorprägung ausgewählt wie in diesem Fall. Für die konstruktive Zusammenarbeit in dem Gremium kann das eine Belastung sein.«
In der »Frankfurter Allgemeinen« machte man gleich mit der Überschrift klar, welcher Positionen man nahesteht: Truger wurde dort als »ein wissenschaftliches Leichtgewicht« bezeichnet, als Kronzeuge tauchte hier abermals Haucap auf, der Truger unterstellte, »kaum auf Augenhöhe mit den anderen vier Mitgliedern diskutieren« zu können. Der Gewerkschaftsbund gestehe sich mit der Nominierung ein, »dass es für gewerkschaftsnahe Positionen keinen Rückhalt durch irgendeinen wissenschaftlich halbwegs ausgewiesenen Ökonomen gibt«.
Stefan Sell nahm sich die Angelegenheit dann in einem ausführlichen Beitrag vor, in dem es nicht zuletzt um die Grundlagen der Arbeit des Sachverständigenrates und um dessen Rolle ging: »Es würde sich lohnen, wenn die Mitglieder des Rates diesen gesetzgeberischen Auftrag vielleicht nochmal nachlesen, vor allem solche klaren Vorgaben, dass der Rat ›keine Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen‹ oder dass er ›jeweils verschiedene Annahmen zugrunde legen‹ soll. Genau das Gegenteil ist in der Vergangenheit oftmals der Fall und die Regel gewesen.« Sell kommt auch auf die Frage zu sprechen, welchen Einfluss der Rat etwa im Fall der Agenda-Reformen spielte: »Zahlreiche Komponenten der Agenda 2010, die 2003 auf den Weg gebracht wurde, tauchen in dem Jahresgutachten des Jahres 2002 auf – allerdings ist es wohl mehr als eine Überhöhung, die konzeptionellen Grundlinien der Schröderschen Agenda 2010 auf den Sachverständigenrat zurückzuführen, der hat die vorher seit Jahren geführten Debatten im Gutachten zusammengefasst und zu verstärken versucht.«
Einige Ökonomen machten umgehend gegen die Nominierung des Berliner Finanzexperten Front – eine erste Zusammenfassung dazu erschien im oxiblog: Die »Wirtschaftsweise« Isabel Schnabel etwa zog Trugers Expertise in Zweifel: »Die wissenschaftliche Qualifikation muss an oberster Stelle stehen«, twitterte sie, ansonsten könne der Sachverständigenrat »seinem Qualitätsanspruch nicht gerecht werden. Veröffentlichungen in angesehenen internationalen Fachzeitschriften können diese Qualifikation am besten belegen.« Gemeint war offenbar: Truger habe diese nicht vorzuweisen, eine Implikation, die umgehend auf Kritik stieß. Der Wettbewerbsexperte Justus Haucap meinte sogar mit Blick auf Trugers Nominierung, den Gewerkschaften sei der Sachverständigenrat »offenbar völlig egal«. Der Dortmunder Ökonom Philip Jung nannte die Nominierung sarkastisch »beeindruckend«, und behauptete, die Gewerkschaften würden den Sachverständigenrat als wissenschaftliches Gremium »desavouieren« – Jung twitterte dazu, dies sei »vermutlich Ergebnis der Pluralismus-Debatte« und »Ausdruck der Verachtung des ›Mainstreams‹ in führenden Zeitungen«.
Die Sache ins Rollen brachte Norbert Häring im »Handelsblatt«: Die Gewerkschaften hätten »sich entschieden. Sie wollen den Berliner Ökonomen Achim Truger als Nachfolger von Peter Bofinger im Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorschlagen«. Man kenne »Professor Truger als profilierten Fachmann, der seit Langem zu gewerkschaftlichen Themen forscht und als Gutachter tätig ist«, wird DGB-Vorstand Stefan Körzell dort zitiert. Truger selbst sagte dem »Handelsblatt«, er sei optimistisch, dass sich die Sondervoten zu den Gutachten reduzieren ließen – wenn der Rat mehr »verschiedene Annahmen zugrunde legt und ein Spektrum an wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aufzeigt«. Er »fände es gut, wenn sich in den Schlussfolgerungen das große Spektrum der in der Volkswirtschaftslehre vertretenen Ansätze widerspiegeln würde«. Kurzum: Mehr ökonomischer Pluralismus im Fundament der Gutachten. Truger unterstrich dort auch, dass das Sachverständigenratsgesetz ausdrücklich feststelle, die »Weisen« sollten keine konkreten Politikvorschläge machen.
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Die Nominierung von Achim Truger als der nächste »Wirtschaftsweise« auf dem Ticket der Gewerkschaften hat eine heftige Debatte ausgelöst. Worum geht es? Im Vordergrund um die Selbstsicht eines Wissenschaftsbetriebs, die viel mit Zitaterankings und Publikationshuberei zu tun hat. Es geht um eine zur Schau gestellte Hochnäsigkeit von Wirtschaftswissenschaftlern gegenüber anderen, um den »Kampf der Linien« vor dem Hintergrund der schon länger laufenden Debatte um plurale Ökonomik und mehr Raum für Sichtweisen, die vom meist neoklassisch einsortierten »Mainstream« abweichen.
Es geht auch um die Frage, welche ökonomischen Positionen und Grundannahmen welches Ansehen bei wem genießen und welche Gründe es für politischen Rückhalt jeweils gibt. Wohl auch wird man fragen müssen, warum und wie die Gewerkschaften auf den Berliner Ökonomen gekommen sind und ob andere KandidatInnen nicht sogar progressiven, kritischen Sichtweisen im Rat mehr Rückenwind verschafft hätten. Es geht mithin auch um die Strategie von wirtschaftspolitischen Terrainkonflikten. Und es geht um die Frage, welche Rolle der Sachverständigenrat überhaupt spielen soll und ob die gegenwärtige Konstruktion im Sinne sinnvoller »Politikberatung« überhaupt trägt. Wahrscheinlich ist die Liste damit noch nicht einmal abgeschlossen.
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