Wirtschaft
anders denken.

Robert Owen: reloaded

17.05.2017
Robert Owen gemalt von William Henry Brooke.Bild: William Henry Brooke [Public domain], via Wikimedia CommonsPortrait von Robert Owen von William Henry Brooke.

Der Unternehmer, Philanthrop und Sozialreformer Robert Owen (1771 – 1858) gehörte zu den »Frühsozialisten« und ist heute so gut wie vergessen. Er war zu seiner Zeit europaweit bekannt, der Begriff Owenismus war bis kurz vor 1848 öffentlich geläufiger als die Begriffe Sozialismus und Kommunismus. Lange erweckte der Frühsozialist nur noch historisch-antiquarisches Interesse. Aber das ändert sich gerade.

Owen verband in seiner Person den praktisch orientierten Unternehmer und den ins Utopische ausgreifenden Volksaufklärer, Politiker und Sozialreformer. Noch auf dem Totenbett soll der 87-Jährige einem Partner gestanden haben: »Die ganze Welt ist verrückt, außer wir beide, aber selbst Sie sind schon ein wenig verrückt.« Verrückt war Owen sicher nicht, denn dafür hat er viel zu scharfsinnig beobachtet, was die industrielle Revolution allein mit der Erfindung der Spinnmaschine (1764) und der Dampfmaschine (1769) außer einem zwiespältigen Fortschritt in die Welt gesetzt hat: wachsende Armut und schreiendes Elend auf der einen, ungeheuren Reichtum auf der anderen Seite. Den Abgrund zwischen diesen beiden Welten empfand Owen als Anreiz zu eingreifenden Reflexionen und praktischem Eingreifen.

Zwei ganz unterschiedliche Elemente grundierten theoretisch Owens praktische Arbeit als Philanthrop und Sozialreformer: seinen quasi-religiösen Glauben an einen allmächtigen Schöpfergott und seinen technisch-naturwissenschaftlich orientierten Rationalismus. Beide Elemente vereinigten sich zu einer rustikalen Milieutheorie, also zur Auffassung, Menschen würden bis ins Innerste von den sozialen Umständen, dem Milieu, geprägt, in das sie hineingeboren werden.

Den Abgrund zwischen beiden Welten empfand Owen als Anreiz zu eingreifenden Reflexionen und praktischem Eingreifen.

Tweet this

Zur kirchlich verfassten Religion wie zum Priestertum ging Owen schon als junger Mann auf Distanz. Er vertraute auf die aus der Aufklärung hervorgegangene Schwundstufe von Religion, in der Gott zwar noch als Urschöpfer agierte, aber seit dem Schöpfungsakt auf den Gang der Welt keinen direkten Einfluss mehr nahm. Owen nennt diese Religion »rationale Religion«, die auf »der Beweiskraft unserer Sinne« beruht – eine quasi-religiöse Weltanschauung, die man heute Deismus nennt. In dieser Perspektive wird jeder Mensch von zweierlei geprägt: einmal von dem, was ihm der Urschöpfer mitgibt und dann von jenen »Eigenschaften, die der Mensch durch die Erziehung bzw. durch die Umstände erhält«, also von den sozialen Verhältnissen, in denen er aufwächst. Diese machen Menschen zu »unvernünftigen und unglücklichen Geschöpfen«, das heißt »auf Länder, Sekten, Klassen und Parteiungen beschränkte Wesen«.

Der Einfluss der sozialen Verhältnisse und Umstände kann mit Bildung kompensiert werden: »Der Kannibale, der seine eigenen Mitmenschen als Delikatesse« kennenlernt, kann zum Vegetarier umerzogen werden. Zu den Umwelteinflüssen zählt Owen auch alle Religionen, »die heute die menschliche Rasse erniedrigen und unterdrücken« und alle »Spaltungen, Verfolgungen, Massaker, Kriege und Verbrennungen« verursachen. Religionen sind für Owen – wie Sekten – »wilder Einbildungskraft« und »Mystizismus« geschuldet. Mit seiner Milieutheorie fegte Owen Willensfreiheit und individuelle Verantwortung vom Tisch und wollte sie im robusten Glauben an den allmächtigen Deismus durch die »Lehre der Notwendigkeit« ersetzt wissen.

Mindestens so negativ wie Religionen wirkt sich eine andere soziale Institution auf die Verwirklichung dessen aus, was Owen »die menschliche Natur« nennt: das ungleiche private Eigentum. Der ungleiche Zugang der Menschen zu »Reichtum und Wissen« erzeugt die »Hydra des menschlichen Elends«, also »Armut, Unwissenheit, Elend, Strafe, Konkurrenz und Vereinzelung«. Das System des ungleichen privaten Eigentums nennt Owen »individuelles oder altes System« beziehungsweise mit Adam Smith »commercial system«. Dies im Gegensatz zu seinem sozialen System, das auf »Vereinigung und Kooperation« sowie »wahrhafter Freiheit und Gleichheit« beruht. Ungleiches privates Eigentum, heißt es bei Owen, verwandelt den Menschen »zum unmoralischsten aller Tiere« und gleichzeitig zum »Produktionszubehör« – eine Formulierung, die Karl Marx gekannt haben dürfte, als er 1867 vom Menschen als zum »Teilmenschen entwürdig[t]en Anhängsel der Maschine« sprach.

Ungleiches privates Eigentum, heißt es bei Owen, verwandelt den Menschen »zum unmoralischsten aller Tiere.

Tweet this

Bildung spielt bei Robert Owen nicht nur in der Kindererziehung eine zentrale Rolle, sondern generell bei der »neuen Organisation der Gesellschaft«. Dem Schwachen kann nur »mit Hilfe des Wissens« zu seinem Recht verholfen werden. Und für den Reichtum aller zählt nicht der »Profit in Form von Geld«, sondern es zählen die »Fähigkeiten der Bevölkerung« – »das geistige Erz«, das »wertvoller ist als alles Gold und Silber«. Spekulanten, Bankiers, Priester und Regierende sind gegenüber den aktiv-produktiven Klassen »vor allem passive Wesen«, die dazu erzogen wurden, »betrügerisch zu sein, ihren Oberen gegenüber äußerst unterwürfig, hochmütig oder tyrannisch gegenüber denen, die sie für unterlegen halten«.

Es sind solche Einsichten in das gesellschaftliche Spaltungspotenzial von ungleichem privatem Eigentum, die Owen – bei allen Differenzen in der Theorie – die Anerkennung von Karl Marx und Friedrich Engels eingetragen haben. Für Marx markiert Owens Kooperativsystem den Durchbruch »der politischen Ökonomie der Arbeit« gegen die »politische Ökonomie des Kapitals«, und Engels sah in Owen einen »geborenen Lenker von Menschen«.

Obwohl Owens Projekte in Lanark und New Harmony letztlich scheiterten, hat der Geschäftsmann und Visionär große Verdienste erworben bei der Durchsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen. Vieles von dem, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Fabrik- und Sozialgesetzgebung einging, hat seine Wurzeln in Owens Projekten. Am Lebensende konnte er von sich sagen: »Ich bin meiner Zeit voraus.« Seine messianischen Erwartungen – die regierende Einheit von »Wahrheit, Arbeit und Wissenschaft« – gingen nicht in Erfüllung, aber der Spott über Genossenschaften als »Parallelogrammen der Armseligen« von konservativen Zeitgenossen wie dem Politiker William Cobbett (1763-1835) wurde noch zu deren Lebzeiten substanzloses Gerede. Eine bis heute akute Frage der kapitalistischen Entwicklung formulierte Owen schon vor fast 200 Jahren: »Die große Frage […] ist nicht, wie genügend Reichtum für alle produziert, sondern, wie überhaupt der Überfluss an Reichtum, der leicht erzeugt werden kann, der ganzen Gesellschaft zum Vorteil verteilt werden kann«.

Wo Denker heute an Owen anknüpfen

Owens Plädoyer für ein »soziales, kooperatives und gemeinschaftliches System« trug ihm zu Recht den Ruf eines »Patriarchen des Sozialismus« ein. Entgegen der populären Vorstellung, der Sozialismus und alles, was je damit gemeint gewesen sein könnte, sei nach 1989/90 endgültig Geschichte, unternimmt der Frankfurter Philosoph Axel Honneth in seinem jüngsten Buch den Versuch, Die Idee des Sozialismus (Berlin 2015, Suhrkamp) zeitgemäß zu reformulieren. Direkte Anknüpfungspunkte für die heutige politische Praxis wie die zeitgemäße theoretische Rekonstruktion der sozialistischen Genossenschaftsidee lassen sich jedoch in Robert Owens Theorie und Praxis nicht finden. Zu unterschiedlich sind die »politischen Konstellationen und Handlungsmöglichkeiten« (Honneth) von damals und heute.

Durchaus anschlussfähig ist jedoch nach Honneths überzeugender Analyse die Theorie Owens insofern, als dieser – bei aller praktischen Orientierung seines Projekts – Sozialismus nicht in einem sozialtechnisch verkürzten Sinne verstand, also als rein wirtschaftliches Problem der Optimierung der Produktion und der Verteilung des Produzierten oder als quasi-naturnotwendiges Ergebnis der technischen und industriellen Entwicklung, sondern auch auf die »moralischen Antriebskräfte« abhob. Sein neues »soziales System« beruhte – nach seinen Worten und im Unterschied zum »individuellen« oder »kommerziellen System« – auf einem »System von sozialen Arrangements«, die der »Vereinigung und Zusammenarbeit aller zum Vorteil eines jeden« (Owen) dienen. Zusammenarbeit und, modern gesprochen, Solidarität gehören für Owen zwar schon zur unverdorbenen »menschlichen Natur«, aber sie wurden in »6000 Jahren« »durch ein System von individueller Belohnung und Bestrafung, von Ehrgeiz und unterschiedlichen Interessen« geschwächt und zerstört. Den moralischen Antriebskräften zur Verbesserung der Gesellschaft wollte Owen durch »Erziehung« und »Charakterbildung« der Menschen von früher Jugend an nachhelfen.

Zu den »Geburtsfehlern des sozialistischen Projekts« insbesondere Marxscher Prägung zählt Honneth die Konzentration auf den Markt und die Überwindung der Marktwirtschaft sowie den spekulativ-geschichtsphilosophisch unterstellten Glauben an die »historische Notwendigkeit« des Bruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus, getragen vom privilegierten Kollektivsubjekt »Proletariat«. Die Hoffnung darauf hat sich erledigt.

Owen und andere Frühsozialisten begründen ihre sozialistisch-genossenschaftlichen Projekte politisch-praktischer und pragmatischer. Den anonymen Mechanismen der commercial society (Adam Smith) und ihren Apologeten setzte Robert Owen »eine emanzipatorisch-solidarische Kultur« entgegen – so Michael Brie in seinem Essay Wie der Sozialismus praktisch wurde (Berlin 2015). Mit einer »rücksichtslosen Analyse« von Owens Experimenten im 19. Jahrhundert hätte der Sozialismus im 20. manche Irrtümer und Sackgassen vermeiden können, meint Brie zu Recht. Die Idee einer »Gemeinschaft füreinander tätiger Subjekte« (Honneth) formulierte Owen präziser als andere. Seine theoretischen Bemühungen verstand er als »Wissenschaft vom Glück« und seine Praxis zielte »auf eine von Antagonismen befreite Gesellschaft universeller Emanzipation der Individuen« (Brie) jenseits von Geschlecht, Nation, Rasse und sozialer Position. Honneth fasst diesen Anspruch mit dem Begriff »sozialer Freiheit«, die es zu verwirklichen gelte in »einer demokratischen Lebensform« jenseits von Markt, individueller Vertragsfreiheit und Kapitalismus. Sozialismus könnte man demzufolge mit Honneth als Verlangen verstehen, »alle sozialen Hindernisse zu beseitigen, die einer Praktizierung von Freiheit im solidarischen Füreinander im Weg stehen«. Auch Michael Brie macht deutlich, dass eine Reformulierung von Sozialismus und Genossenschaftsideen unter den heutigen Bedingungen bei Owen zwar keine Patentrezepte, aber sachdienliche Hinweise findet. Das macht seine politische und theoretische Aktualität aus.

Robert Owens Leben

Robert Owen wurde am 14. Mai 1771 als Sohn eines Sattlers und Eisenwarenhändlers in Newtown, Wales, geboren. Mit zehn Jahren kam er als Lehrling in ein Londoner Textilgeschäft, wurde 1799 Betriebsleiter und Geschäftsführer einer Baumwollspinnerei in Lanark, Schottland, schließlich Teilhaber und erfolgreicher Unternehmer.

Er stattete die Fabrik, die er dem Schwiegervater abkaufte, mit modernster Technik aus und kümmerte sich um die Belange der Arbeitenden in seiner genossenschaftlich organisierten Fabrik: Er kürzte die Arbeitszeit für Erwachsene und Kinder auf zehn Stunden, beseitigte das übliche Trucksystem, das die Arbeitenden zwang, schlechte Lebensmittel im fabrikeigenen Laden zu kaufen. Er eröffnete einen Konsumladen, in dem die Arbeitenden gute Lebensmittel zu fairen Preisen kaufen konnten. Vor allem kümmerte er sich um die Bildung der Kinder.

1813 zahlte der mit 42 Jahren zum Millionär gewordene Unternehmer seine Geschäftspartner aus. Der Erfolg sowie seine propagandistische Tätigkeit in eigener Sache machten Owen europaweit bekannt. Er trug seine Reformideen unter anderem dem englischen Parlament vor.

1825 verkaufte er die Fabrik in Lanark, reiste in die USA und propagierte seine Ideen des »sozialen Systems«. In den USA gründete er eine ländlich gelegene Mustersiedlung in New Harmony, Indiana, in der industriell und landwirtschaftlich produziert wurde. Das Projekt, soziale Industriearbeit mit der kooperativen Erzeugung von Lebensmitteln zu verbinden, scheiterte im Jahr 1827 und trug Owen einen Verlust von 200 000 Pfund (nach heutiger Kaufkraft rund zwei Millionen Euro) ein. In den Jahren bis zu seinem Tod am 17. November 1858 warb er unentwegt für seine Idee – nach seiner Devise: »viel nachdenken, wenig reden, ausgiebig experimentieren« – und fand damit Anerkennung in der erwachenden europäischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.

Werke

A New View of Society, or, Essays on the Principle of the Formation of Human Character (1813/14)

Lectures on an Entire New State of Society (1830)

Life of Robert Owen. Written by Himself, 2 Bde. (1857/58)

Dieser Beitrag ist in der Maiausgabe 2016 von OXI erschienen.

Geschrieben von:

Rudolf Walther

Historiker

Hinweis

Guter Journalismus ist nicht umsonst…

Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.

Zahlungsmethode

Betrag