Wirtschaft
anders denken.

Russland fern fernOst: Angst vor Kontrollverlust

30.08.2017
Mädchen mit Schild, Demo russische OppositionFoto: Evgeniy Isaev/ flickr CC BY 2.0Öffentliche Meinungsäußerung für demokratische Rechte in Russland. trotz Repressalien

Russland – ein Sehnsuchtsort, den kaum jemand besucht. Ist er es am Ende genau deshalb? Russland – so weit und doch so nah. Russland – Energie- und Großmacht. Stimmt das überhaupt? Russland – das größte Land der Erde. Die Föderation besteht aus neuerdings 84 plus eins Subjekten und tatsächlich mehr als zwei Städten. Russland – reich und arm. Die durch die verheerende Wirtschaftslage und Korruptionsvorwürfe ausgelösten Demonstrationen haben bisher kein Ausmaß erreicht, das die Kremlelite einschüchtern würde. Russland – erklärungsbedürftig.

In dieser Artikelserie sollen einige Schlaglichter auf verschiedene gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Phänomene und Entwicklungen in der Russländischen Föderation geworfen werden. Die Serie versucht nicht, eine Antwort auf die ewige Frage Quo vadis? zu geben, wohl aber einige Hintergründe zu beleuchten.

Teil 5

Das Agentenbeispiel: Die Arbeitsatmosphäre unabhängiger Kräfte

Ein Mann verbietet seiner Frau den Umgang mit ihren männlichen Bekannten. Bald darf sie nicht mehr arbeiten, er nimmt ihr Geld, Schlüssel und Handy. Er isoliert sie, schneidet sie von allen Informationsmitteln ab. Außer T-Shirts mit der Aufschrift »Ich gehe fremd« hat sie nichts mehr zum Anziehen. Schließlich erschlägt er sie, da sie ihn anzeigen will und sich dazu an einen Nachbarn wendet.

Ein T-Shirt mit dem Schriftzug »Ausländischer Agent« mussten bis Juli 2017 bereits 161 der gesellschaftlich wichtigsten Nichtregierungsorganisationen (NGO) in Russland überstreifen. Die Beziehung von Staat und NGOs – in einer Demokratie kann man nicht selten von Partnerschaft sprechen – leidet unter Angst vor staatlichem Kontrollverlust. Einzig Macht ist die Triebfeder, die Daumenschrauben anzuziehen.

Angst vor dem Kontrollverlust

Es ist das alte sowjetische Lied: Der äußere und innere Feind kreise Russland ein. Als Folge der Schneerevolution droht den NGOs seit dem 2012 novellierten Gesetz »Über nichtkommerzielle Organisationen« das Etikett »Ausländischer Agent«. Ex-Geheimdienstler Vladimir Putin führte diesen zumindest vorgeschützten Wahn Ende 2014 deutlich aus: »Bei der Verabschiedung des Gesetzes lief sein Zweck darauf hinaus, dass sich niemand aus dem Ausland mit Einsatz finanzieller Ressourcen in unser innenpolitisches Leben einmischen konnte.« Der Europarat befand die Agentenparagraphen im Juni 2017 für menschenrechtsverletzend.

Zwei feste Bestandteile nichtkommerzieller Aktivität werden zur schwammig definierten Straftat: »politisch« interpretierbare Tätigkeit sowie Finanzierung aus dem Ausland. Letztere kann bereits erfüllt sein, wenn vor Bestehen der neuen Paragraphen ausländische Gelder flossen (Golos) oder ein Antrag abgelehnt wurde (Demokratiestiftung Ural). Von politischer Tätigkeit wird laut Gesetz gesprochen, sobald Handlungen »den Zweck haben, auf Entscheidungen staatlicher Stellen Einfluss zu nehmen, auf eine Änderung der staatlichen Politik hinzuwirken oder die öffentliche Meinung zu beeinflussen« (§2 Abs. 6).

Wie soll eine NGO die öffentliche Meinung nicht beeinflussen? Wenn ein Meinungsforschungsinstitut keine Umfrage durchführen, wenn eine NGO zu keiner Demonstration aufrufen und eine kritische Aussage eines ihrer Mitarbeiter on- oder offline zum Agentenstatus führen kann, bröckelt selbst die Fassade der Scheindemokratie.

Die Schikanierung durch die Justizorgane

Darja Skibo analysierte, welche Handlungsoptionen einer schikanierten Organisation bleiben. Seit 2014 ist gesetzlich geregelt, dass das russländische Justizministerium (Minjust) unliebsame NGOs als Agenten einstufen darf. Doch schon vor der Einstufung stehen entsprechende NGOs vor einer »lose-lose-Entscheidung«: Sie verzichten auf die ausländischen Finanzquellen, schreiten zur Selbstregistrierung und -stigmatisierung oder aber sie versuchen, die Arbeit unbehelligt fortzusetzen. Wurde die Organisation durch Minjust bereits gütegesiegelt, kann sie sich zur Bewegung verkleinern oder im Ausland neu gründen. Auch kann sie ihre Existenz durch den Verzicht auf ausländische Mittel gefährden. Schließlich bleibt die Stilfrage, direkt die Arbeit niederzulegen oder solange unter größter Anspannung weiterzuarbeiten, bis Minjust das Licht per Gerichtsbeschluss löscht.

Im letzten Fall drohen zudem Haft- und Geldstrafen. Bei den Vorstufen wird die Arbeit durch zusätzlichen Ressourcenaufwand erschwert bis unmöglich gemacht. Das Verräter-Label muss auf jeder Publikation prangen. Hinzu kommt, dass die betroffenen Akteure ihre Mittel nicht grundlos bei der EU, der UNO und seriösen politischen Stiftungen wie der Heinrich-Böll-Stiftung beantragen. Es ist nicht so einfach wie russisch-nationale Kreise es darstellen, von aus- auf inländische Sponsoren umzustellen. In Russland Gelder zu akquirieren, die aus keinem präsidentiellen Fond stammen, ist mehr als mühsam. Ein knappes Viertel der »Agenten der Menschen« – wie im aktuellen Amnesty-Bericht pointiert beschrieben – zogen gegen die sich verselbstständigende und selbst Putin entgleitende Bürokratie oft aus Finanznöten den Kürzeren und schmissen hin.

Der schmale Grat für die Freiheit

Nur wenige größere und bekannte Organisationen wie Memorial International haben die Ressourcen, sich durch russländische Justiz bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen. Nicht nur die staatlichen Quellen verweigern aufgrund der Ächtung die Zusammenarbeit, auch die Interessierten und Mitarbeiter werden eingeschüchtert. Im Blogeintrag »Agenten« nennt Jens Siegert, langjähriger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Moskau, ebenfalls in Bezug auf Memorial International die bisher weitgehend reibungslose Kooperation mit den staatlichen Archiven. Diese wie der erfolgreiche Schülergeschichtswettbewerb seien gefährdet. Geschichtsaufarbeitung und gesellschaftlicher Rückhalt werden gestört. Die Dokumentationspflicht gegenüber dem Minjust und das Beschaffen der Bußgelder tun ihr Übriges.

Peter Franck führt im Amnesty Journal aus, dass der »Raum für unabhängige Meinungsäußerung immer enger« werde. Siegert spricht im oben erwähnten Artikel von »dem immer kleiner werdenden Archipel russischer Freiheit«. Wie stark der Eingriff in die Zivilgesellschaft ist, zeigt das territorial wie inhaltlich breite Spektrum der vorgeblichen Spionagetätigkeiten. Menschen- und Minderheitenrechte, die Umwelt, die Presse, Wahlen und die Geschichte werden von Kaliningrad bis Vladivostok und von Murmansk bis Rostov am Don wider das nationale Interesse geschützt, so die Anklage. Manfred Sapper und Volker Weichsel sprechen in »Zerstörung der Gesellschaft« vom Agentenregister als einer »Diffamierungsliste«. Sie wächst langsam, nicht immer mit Plan, aber stetig. 2016 erhielten 35 NGOs die neue Rechtsform. Semiotisch korrekter und Mutmaßungen zufolge nicht weit entfernt ist der Agentenstatus für Privatpersonen.

Das ist die Atmosphäre, in der etwa Kleinunternehmer, Startups, freie Medien arbeiten sollen. Die Muster ähneln sich stark. Was zu Beginn der 2000er-Jahre mit den Oligarchen begann, soll die ganze Gesellschaft durchdringen und macht auch vor NGOs nicht Halt: Das sogenannte Politikenthaltungsgebot hat Bestand. Kritiker sind der Willkür des Putin-Regimes ebenso ausgesetzt wie die Frau ihrem paranoiden Lebenspartner.

Weiterführend:

Amnesty-Bericht »Agents of the people«

Russlandanalysen Nr. 323 zum Thema Zivilgesellschaft mit Statistikteil

Manfred Sapper, Volker Weichsel: Zerstörung der Gesellschaft (Liste der Ausländischen Agenten mit Anmerkungen). In: Zeitschrift Osteuropa 6/7 2016, DGO

Aktuelle Agentenliste auf der Website von Minjust (russisch)

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