Wirtschaft
anders denken.

Im Kampf mit Defiziten

22.06.2022
An einer Fassade stehen schmückende Staturen von Kriegern. St. Petersburg, RusslandFoto: Anastasiya Romanova Im Krieg der Wirtschaftspolitik: Statuen in St. Petersburg Russland.

Russland möchte wirtschaftspolitische Impulse setzen. Die soziale Situation verschärft sich dennoch.

In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift »Fragen der theoretischen Ökonomie«, herausgegeben vom Institut für Ökonomie der Russländischen Akademie der Wissenschaften, wird ein eher trübes Bild der Reaktionsfähigkeit der russländischen Wirtschaftspolitik auf die Herausforderungen der Zeit gezeichnet. Ein Artikel beschäftigt sich mit den Problemen der seit Jahrzehnten andauernden Versuche der Durchsetzung strategischer Planung zum Umbau der Wirtschaft durchzusetzen. In Experteninterviews wird ihr »allgemeine Unreife und Inkonsistenz«, Wirkungslosigkeit strategischer Dokumente, die Vorherrschaft der Prioritäten des kurzfristigen Haushaltssaldos gegenüber den langfristigen Entwicklungszielen, schnelle und unvorhersehbare Änderungen der Spielregeln und schwache Motivation der Beamten zur Umsetzung von strategischen Aufgaben bescheinigt. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass das Finanz- und Bankensystem trotz aller Präsidenten-Dekrete zur Rolle der Nationalen Projekte usw. nach wie vor letztlich das reale Handeln von Verwaltung und Wirtschaft beherrscht. Das ist eine zentrale Feststellung, weil im Rahmen der »Mobilisierungswirtschaft« sich daran bisher nichts geändert hat. Da der Artikel offensichtlich im April fertiggestellt wurde und keine Relativierung vorgenommen wurde, scheint das Problem weiter zu bestehen.

Versuche der Konzentration?

Wladimir Putin nutzte das internationale Wirtschaftsforum in St. Petersburg, um wirtschaftspolitische Impulse zu setzen, die diesen Schwächen entgegenwirken sollen. Er formulierte sechs Prinzipien der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Neu waren die Punkte nicht, aber die Wiederholung verweist auf Schwerpunkte den künftigen Handelns der Regierung. Die Presseagentur RIA fasst diese in folgenden Punkte zusammen:

Erstens gehe es um eine offene Wirtschaft bei gleichberechtigter internationaler Zusammenarbeit. Dazu gehöre die Entwicklung unabhängiger Zahlungssysteme, die in nationalen Valuten verrechnen. Das Land wolle nicht den Weg der Selbstisolierung gehen.

Zweitens wolle man sich bei der Bewältigung der heutigen Herausforderungen auf unternehmerische Freiheit stützen, jeder privaten Initiative zum Nutzen Russlands maximale Unterstützung gewähren, die administrativen Belastungen der Unternehmen senken, die Kontrollen in Unternehmen einschränken, wirtschaftliche Tatbestünde aus dem Strafrecht ausschließen (»Dekriminalisierung«), die Schwelle für die Bestrafung im Falle nichtgezahlter Zölle erhöhen und die Gründe, die zur Verhaftung von Unternehmer:innen führen können und Fristen der Strafverfolgung ihnen gegenüber überprüfen. Kurz nach seiner Rede hat Putin die Regierung beauftragt, entsprechende Regelungen auszuarbeiten. Zudem wurde ein Gesetzentwurf, der auf eine Verschärfung von Strafen für Unternehmer:innen, die in ihren Geschäftsbeziehungen gegen Russland gerichtete Sanktionen umsetzen (müssen) auf Eis gelegt.

Drittens gehe es um eine verantwortungsbewusste makroökonomische Wirtschaftspolitik bei einem Inflationsziel von 4 Prozent (derzeit bei 17 Prozent) und einem ausgeglichenen Haushalt. Der Haushaltsüberschuss beträgt im Moment 840 Mrd. Rubel (etwa 14,3 Mrd. Euro). Für das Jahr 2022 wird ein Defizit von 2 Prozent erwartet.

Viertens soll die ökonomische Entwicklung zu einer Verringerung der Armut führen und so soziale Gerechtigkeit stärken. Die Senkung der Armutsniveaus sei eine wichtige Kennziffer der Effektivität der Arbeit der Staatsorgane und die Regierung solle ständig die Kontrolle über Maßnahmen zur Unterstützung von Familien mit Kindern im Auge haben.

Fünftens soll die Infrastruktur vorrangig entwickelt werden. Angekündigt wurden ein großangelegter Plan der Straßensanierung, ein Komplexprogramm der Modernisierung der Wohnungswirtschaft und der kommunalen Infrastruktur (»Wohnungs- und kommunalwirtschaftlicher Komplex«) sowie zusätzliche Mittel für die Entwicklung des Fernen Ostens und der ländlichen Gebiete, auch durch die Erhebung von Ausfuhrzöllen auf Lebensmittel.

Sechstens wird das Ziel des Erreichens einer echten technologischen Souveränität bekräftigt. Dabei geht es um die Unabhängigkeit bezüglich wichtiger und sensibler Technologien und den Übergang auf eine qualitativ neues technologisches Niveau. Aber Importsubstitution sei kein Allheilmittel; wenn nur wiederholt werde, was andere schon gemacht haben, riskiere man, immer in der Position des Hinterherlaufens zu bleiben. Man müsse einen Schritt voraus sein, Nachfrage nach innovativer Produktion schaffen. Es soll eine »Industriehypothek« installiert werden, über die Unternehmen, die bereit sind, neue Kapazitäten aufzubauen, Mittel zu einem Zinssatz von 5 Prozent in Anspruch nehmen können.

Die Beiträge bzw. Interviews zur wirtschaftlichen Lage, die der Minister für Industrie und Handel Denis Manturov und dem Chef des Technologiekonzerns Rostech Sergej Čemezov im Vorfeld des Forums erweisen sich so als durchaus ernsthafte programmatische Aussagen. Selbst die Kritik des Chefs des Rechnungshofes A. Kudrin (einer der letzten Wirtschaftsliberalen der alten Garde in Amt und Würden) an der geringen Effektivität der Raumfahrtbehörden ist vor diesem Hintergrund zu sehen, die dieser bei einem Gespräch mit dem Präsidenten äußerte.

Die Zielrichtung ist einheitlich. Es geht zum wiederholten Male darum, endlich eine strategische Neuorientierung der russländischen Wirtschaft zu erreichen. Beide fordern, einheimische Erzeugnisse höher zu schätzen. Sie verweisen darauf, dass internationale Arbeitsteilung heute eine Normalität und Notwendigkeit ist. Allerdings habe die bisherige Art der Globalisierung mitunter die Importsubstitution behindert. Čemezov schreibt auch über Beispiele, etwa im Flugzeugbau, die zeigen, dass es gelinge, allmählich den durch den Zusammenbruch der Industrie in den 1990er Jahren entstandenen technologischen Rückstand zu schließen. Natürlich ist das mit Verlusten (über die aber kaum gesprochen wird) und Anlaufschwierigkeiten (aktuell z.B. besonders im Fahrzeugbau, Flugzeugbau und in der Verpackungsmittelindustrie diskutiert) verbunden.

Was wirklich weh tut, sind die Beschränkungen in der Halbleiterproduktion. Gerade ist der Versuch gescheitert, in Taiwan einen Produzenten für den eigenen Baikal-Prozessor zu finden, mit dem Server aus eigener Produktion bestückt werden sollten. Und da gibt es kaum Alternativen. Übrigens auch der Schwachpunkt Chinas, soweit es hochwertige Chips betrifft. Die notwendige Orientierung auf eigene Hochtechnologien spiegeln sich auch in den unlängst stattgefundenen Wahlen zur Akademie der Wissenschaften wider. Großes Gewicht unter den Neuaufnahmen haben Wissenschaftler:innen aus der Hochtechnologie (vor allem von Rosatom, ein Konzern, der nicht nur im Bereich der Nukleartechnologie aktiv ist und als »Stütze der russländischen Souveränität« betrachtet wird) und (relativ) jüngere Leute. Das Durchschnittsalter der neu gewählten Akademiemitglieder beträgt jetzt 62 Jahre, nachdem es vorher bei 76 Jahren lag.

Damit setzen sowohl Putin als auch die beiden genannten Beamten einen Kontrapunkt zu der im ideologischen Feld mitunter hörbare isolationistische Tendenz. Sie betrachten die Sanktionen trotz des hohen wirtschaftlichen und voraussichtlich auch sozialen Preises eher als Chance, denn als Bedrohung. Wie immer man die Zweckmäßigkeit der Mittel bewerten mag, zeigt sich, dass die herrschende Gruppierung einen offensiven Umgang mit den damit verbundenen Problemen gefunden hat. Dies ist nicht verwunderlich, da die Sanktionspolitik durch »den Westen« seit vielen Jahren schrittweise aufgebaut wurde, also hinreichende Erfahrungen vorliegen. Da immer deutlicher wird, dass ein totaler Boykott Russlands kaum durchsetzbar ist, werden die Sanktionen ihre symbolische Bedeutung behalten, aber die behauptete Wirkung könnte demgegenüber an Gewicht verlieren.

Konzept und Praxis gegenläufig

Diese zur Schau gestellte Entschlossenheit schlägt sich aber offensichtlich noch nicht im Handeln des Staatsapparates nieder. In einer Umfrage des Ombudsmann für das Unternehmer:innentum Boris Titov halten 56,4 Prozent der Befragten die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen für unzureichend und 8,9 Prozent glauben, dass sie durch ihr Handeln die Situation nur verkompliziert. In Bezug auf die Aussichten für die Entwicklung der Wirtschaft wählten 56,4 Prozent die Antwort: »Die Situation ist kompliziert, es ist notwendig, mit kosmetischen Änderungen aufzuhören und die Spielregeln radikal zu ändern – wir brauchen ein neues Wirtschaftsmodell, in dem es angenehm, profitabel und sicher ist, zu arbeiten.« Nur 3,8 Prozent zeigten extremen Pessimismus und antworteten, dass es keine Aussichten gebe. Gleichzeitig wird erklärt, dass das Land gute Perspektiven habe, es sei nur notwendig, alle Reserven zu nutzen, um interne Probleme zu lösen. Bisher bleibt es dabei, dass die Aktivität des kleinen und mittleren Unternehmer:innentums zurück geht.

Titov ist in seiner Funktion Angestellter der Präsidialadministration. Er gilt als Mann Putins, man nennt ihn auch einen »Fake-Liberalen«. Außerdem ist er Vorsitzender der Partei des Wachstums, die einen Duma-Sitz erringen konnte. Daher ist die Veröffentlichung dieser Umfrage mit ihrer regierungskritischen Aussage durchaus auch als Warnung an Teile des Staatsapparates zu verstehen. Dieses Ergebnis erklärt sicher auch, warum Putin in seinen »Prinzipien« an zweiter Stelle die »unternehmerische Freiheit« nennt. Es geht ihm um die Zustimmung des neuen, innovationsorientierten, aber in der Regel schwächeren Unternehmer:innentums. Das ist der Teil der Wirtschaft, der den Umbau der Einbindung Russlands in die internationale Arbeitsteilung voranbringen muss, nicht die Rohstoffkonzerne, auch wenn diese immer noch die Grundlagen für den Umbau sichern müssen. Sie konnten inzwischen die Öl- und Gasexporte nach China um 50 bis 60 Prozent steigern.

Allerdings bleibt die außenwirtschaftliche Position Russlands trotz dieser Tendenz eher prekär. Die Versuche, die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (neben Russland Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien) als Aktivposten in dem ausgebrochenen Wirtschaftskrieg zu nutzen, scheinen bisher wenig Erfolg zu haben. Ein Bericht über ein Treffen der Regierungschefs hat einen kaum verhohlenen ironischen Unterton. Die Regierungschefs der anderen Länder schienen bemüht, unverbindlich zu bleiben. Russland und Belarus erhielten so nicht die Rückendeckung, die sich vielleicht erhofft hatten. Dies ist auch nicht verwunderlich, da Armeniens Regierung wankt und die Situation in Kasachstan und Kirgisien auch immer wieder für jähe Wendungen gut zu sein scheint. Die Ankündigung Putins, mit diesen Partnern Hochtechnologien zu entwickeln oder die Forderung an die anderen Mitgliedsländer, ihre Infrastruktur auf die Sanktionen einzurichten wirkten eher kraftlos.

Das hängt offensichtlich auch mit der nach wie vor starken Stellung der »monetaristischen Fraktion« in der Führungsschicht zusammen. Aus einer Quelle, die dem Vernehmen nach der Präsidialadministration nahe steht, verlautet, dass die Vertreter:innen dieser Richtung, wie die Zentralbankchefin Elvira Nabiullina, die konkreten Fragen des Umbaus der russländischen Wirtschaft in ihren Beiträgen umgingen.

Regionen in Russland unter Druck

Die Gouverneure werden in den letzten Monaten verstärkt darauf orientiert, in ihren Regionen stärker die örtlichen Ressourcen für die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu mobilisieren. Offensichtlich werden die Neubesetzungen der Gouverneursposten (der Prozess läuft schon einige Zeit) und die anstehenden Regional- und Kommunalwahlen als Hebel betrachtet, um die administrativen Blockaden auf dieser Ebene für den wirtschaftlichen Umbau zu lösen.

Die Regionen sind es letztlich auch, die die sozialen Folgen der wirtschaftlichen Krisenerscheinungen zu tragen haben. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Folgen der Krise für die Beschäftigungssituation erst im Herbst sichtbar werden. Mit 4 Prozent soll die Arbeitslosigkeit auf dem bisher niedrigsten Niveau liegen. Es wird allerdings erwartet, dass offizielle Daten und reale Arbeitslosenzahlen immer stärker auseinanderfallen werden. Dies wird z.T. durch die Erleichterung, den Status als Selbständiger zu erlangen und durch verschiedene Maßnahmen der Regierung, Beschäftigt trotz der wirtschaftlichen Situation in den Unternehmen zu halten, erklärt. Eine wachsende Rolle wird die Differenzierung zwischen den Regionen spielen, da sie in unterschiedlichem Maße von den Sanktionen und den damit verbundenen Umbauprozesses betroffen sind. Eventuell werden die Regionen in Sibirien und im Fernen Osten davon profitieren, dass sie im Zuge dieses Umbaus eine Entwicklung erfahren sollen. Demgegenüber sind die Risiken für die Beschäftigungsentwicklung in europäischen Teil Russlands größer.

Die Höhe der Arbeitslosenunterstützung hat sich seit 2019 nicht verändert, und das bei einer Inflationsrate von derzeit etwa 17 Prozent. Folgerichtig suchen die Konsument:innen Wege, ihre Ausgaben zu »optimieren«, also an Essen, bestimmten Waren des täglichen Bedarf und Medikamenten zu sparen. 20 Prozent der Konsument:innen hätten dafür auch in den letzten Monaten aus Sorge um die Zukunft Vorräte angelegt. Eine Umfrage von Anfang Juni kommt zu dem Ergebnis, dass sich für 37 Prozent der Befragten die materielle Lage in den vergangenen zwei bis drei Monaten verschlechtert habe. Die Backwarenindustrie beklagt massive Preissteigerungen der Vorprodukte und erwartet Unterstützung, wenn die Preise gehalten werden sollen.

Folgt man den Nachrichten aus den Regionen, so können diese auf die sich anbahnenden Probleme nicht angemessen reagieren. Modellhaft werden die vorgestellt, die sich bedingungslos auf die Bedürfnisse der Investor:innen orientieren, wie etwa die Region Kaluga.

Das heißt bei weitem nicht, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch bevorsteht. Was absehbar ist, ist freilich eine Verschärfung der sozialen Situation und entsprechender Konflikte. Die Verschärfung der Repressionsmöglichkeiten wird das erst einmal dämpfen, aber damit sind die Konflikte nicht verschwunden.

Geschrieben von:

Lutz Brangsch

Ökonom

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