Kein Problem gelöst – aber das mit ganzer Kraft
In Russland wird der Ausbau eines eigenen Typs staatsmonopolistischer Herrschaft immer enger an sozialen Konservatismus gebunden. Gerade diese Seite des russländischen Weges kann sich in der Zukunft auch in wirtschaftlicher Hinsicht als deren schwacher Punkt erweisen.
Mit seinem Auftritt vor Presse und großem Publikum am 14. Dezember hat Putin weitgehend die bereits im Dezember vergangenen und Mitte dieses Jahres formulierten strategischen wirtschaftspolitischen Entscheidungen bekräftigt. Mit der Mitteilung, dass er zu den Präsidentschaftswahlen im März kommenden Jahres wieder antreten werde, ist auch klar, dass demnächst nicht mit abrupten Veränderungen zu rechnen ist. Im Zentrum der Wirtschaftspolitik steht damit weiter die ökonomische und technologische Souveränität des Landes auf der einen und die Sicherung der finanzkapitalistischen Grundstruktur auf der anderen Seite. Der Gedanke der Souveränität ist zu einem roten Faden in den Argumentationen zur Begründung der Politik nach innen und außen geworden – zuletzt von Putin aus Anlass des Jubiläums der Föderalversammlung betont. Gleichzeitig wird versucht, über verschiedene Integrationsprojekte (z.B. BRICS und Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft) andere Formen der internationalen Arbeitsteilung zu stärken und damit die Abhängigkeit von den durch USA, EU usw. dominierten internationalen Strukturen aufzubrechen. Gerade teilte der Vizepremier Andrej Belousov mit, dass der Anteil der »unfreundlichen Staaten« am Import der Russischen Föderation nur noch 29 Prozent betrage und der Anteil von Waren am Export, die nicht der Energieerzeugung dienen, auf 80 Prozent gestiegen sei. Er vermerkt auch, dass der Export von Erdöl in diesem Jahr um 7 Prozent höher läge als 2021. Gleichzeitig bleiben aber roh- und brennstofforientierte Konzerne wie Rosneft die entscheidenden Investoren in Russland.
Der darauf orientierte Ausbau eines eigenen Typs staatsmonopolistischer Herrschaft wird immer enger an sozialen Konservatismus gebunden. Gerade diese Seite des russländischen Weges kann sich in der Zukunft auch in wirtschaftlicher Hinsicht als deren schwacher Punkt erweisen. Daneben geraten die unverändert monetaristisch orientierte Finanzpolitik und die Anforderungen der Umstrukturierung der russländischen Wirtschaft zunehmend in Widerspruch. Die Profite der Rohstoffproduzenten und der Banken sind im abgelaufenen Jahr trotz Krieg und Sanktionen erheblich gestiegen, während für die Masse der Bevölkerung das Lebensniveau wenigstens stagnierte. Auch Unternehmen, wie der Lieferdienst »Wildberries« konnten den Reichtum ihrer Eigner:innen erheblich steigern, während deren »PartnerInnen« (im Kern Scheinselbständige) um ihre Vergütungen kämpfen müssen. Das tun sie auch – wie Lehrer:innen, Beschäftigte im Gesundheitswesen und andere.
Eine weitere Seite dieses wirtschaftlichen Kurses ist der Aufbau eines neuen militärisch-industriellen Komplexes und die Anpassung der Streitkräfte und Sicherheitsapparate an die Bedingungen moderner Kriege. Eine der Konsequenzen aus den Erfahrungen der ersten Kriegsmonate war die Entscheidung, eine qualifizierte Berufsarmee aufzubauen, deren Sollstärke zu erhöhen und dafür die entsprechenden Apparate neu zu strukturieren. Das ausgewiesene wirtschaftliche Wachstum Russlands dürfte sich vor allem auf die steigende Rüstungsproduktion zurückführen lassen, wie auch das Gaidar-Institut in seinem jüngsten Monitoring der Industrieproduktion bestätigt Freilich sind seit langem keine offiziellen Daten über die Entwicklung dieses Wirtschaftsbereiches mehr zugänglich, so dass genauere Aussagen über zu erwartende volkswirtschaftliche Effekte unsicher sind. Weitgehend unbekannt sind auch die Kosten des Krieges. Gegenwärtig sollen 38 Prozent des Staatshaushaltes für Rüstung und Sicherheit ausgegeben werden. Nicht erfasst sind dabei allerdings die Folgekosten, etwa im Gesundheits- und Sozialwesen.
Ungelöste Probleme
Die Differenz zwischen der Geschwindigkeit, mit der administrative Entscheidungen getroffen und ideologische Entwürfe wirtschaftlicher Souveränität entwickelt werden, und der der Veränderungen in der wirtschaftlichen Realität kann sich zu ernsten Konflikten verdichten. Das zeigt sich unter anderem in fünf Druckpunkten der russländischen Wirtschaft. Keines dieser Problemfelder ist neu oder überraschend.
Erstens betrifft das die Anforderungen der Umstrukturierung nach dem weitgehenden Abbruch der direkten Beziehungen zu den westlichen Volkswirtschaften. Auch wenn der Export von Rohstoffen in diese Richtung noch teilweise möglich ist, bedeutet der Zwang, für viele Waren auf den internationalen grauen oder Schwarzmarkt auszuweichen erhöhten volkswirtschaftlichen Aufwand. Die »Wendung nach Osten [und Süden]« braucht Zeit und wird durch das westliche Sanktionsregime ebenfalls behindert. Die binnenwirtschaftliche Umgestaltung verläuft vor dem Hintergrund einer restriktiven Geld- und Kreditpolitik, die von der Zentralbank mit der Notwendigkeit eines ausgeglichenen Wachstums der Volkswirtschaft begründet wird. Damit sollen Krisen verhindert werden. Auf der jüngsten Tagung der größten ÖkonomInnen-Vereinigung des Landes wurde positiv vermerkt, dass damit seit 2020 eine antizyklische Wirtschaftspolitik verfolgt werde. Dieser Ansatz führt aber die Wirtschaft auch an die Grenzen ihrer Reaktions- und Leistungsfähigkeit. Im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Haushaltes und den Planungen für die Entwicklung des Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK) für die Jahre 2025-2034 verwies Putin Ende September schon auf ungeklärte Finanzierungsfragen, die z.B. Veränderungen im Steuerrecht (Steuererhöhungen oder Übergewinnsteuern) erfordern könnten. Inflation, Schwankungen des Rubel-Kurses und die hohen Kreditkosten brächten hohe Unsicherheiten in die Planungen. Wenn dies schon für diesen eng mit dem Staat verflochtenen Sektor ein Problem ist, so erst recht für den Reste der Wirtschaft. Allerdings vermerkt eine Analyse der Raiffeisenbank, dass die Investitionen in den letzten Wochen deutlich gestiegen seien, was auf eine Verbilligung der Investgüter zurückzuführen sei.
Die Lösung des Widerspruchs zwischen dem gewollten Umbau der Wirtschaftsstruktur und den selbstauferlegten haushaltspolitischen Zwängen wird nun offensichtlich darin gesehen, dass die Bürger:innen (auf welche Weise auch immer) an der Finanzierung des Krieges (bzw. des Staatshaushaltes) unmittelbar beteiligt werden sollen. 40 Billionen Rubel (etwa 400 Mrd. Euro) sollen so in die Wirtschaft fließen. Dies würde die Nachfrage im Sinne der Zentralbank tatsächlich begrenzen. Sie sieht die Ursache anhaltenden inflationären Tendenzen vor allem im Nachfrageüberhang. Ob das aber angesichts der realen Lebensverhältnisse für die Masse der Bevölkerung realistisch ist, ist eher unwahrscheinlich. Weitergeführt werden soll auch die Teil-Privatisierung von Staatskonzernen, wie der Finanzminister gerade ankündigte.
Zweitens das Valuta-Problem. Der Ausschluss Russlands aus den internationalen Zahlungssystemen und die Sanktionen im Bankensektor (etwa Beschlagnahme der russländischen Aktiva) wurden sofort als entscheidender Faktor bei der Scherung der ökonomischen Souveränität erkannt. Die Versuche, sich von der Abhängigkeit von Dollar und Euro in den internationalen Verrechnungen zu lösen, sind eine Konstante russländischer Politik seit Kriegsbeginn. Der Anteil der Verrechnungen in Rubel oder anderen nationalen Währungen im Außenhandel soll zuletzt auf 65 Prozent gestiegen sein. Die eigene Geldkarte »MIR« werde in zehn Staaten akzeptiert, was allerdings nicht bedeutet, dass dies alle Banken in diesen Ländern tun. Mit China werden 90 Prozent des gegenseitigen Zahlungsverkehrs in Rubel oder Yuan abgewickelt. Dahinter steht auch eine Verdopplung des Warenaustausches zwischen beiden Ländern seit 2019. Ähnliche Dynamik wird von der Entwicklung der Beziehungen mit Indien erhofft.
Bei den Bemühungen um die Umgehung der westlich dominierten Finanzstrukturen kann sich das Land auf ähnlich gelagerte Interessen Chinas, Indiens und einiger anderer Volkswirtschaften stützen. Allerdings ist das für diese Länder nur ein komplementärer Weg, sie bleiben gleichzeitig Teil der Dollar-Welt. Diese Möglichkeit besteht für Russland nur in begrenztem Maße. Versuche, im Rahmen der BRICS eine tragfähige und Russland entlastende Alternative zur Dollardominanz zu initiieren, sind vorerst gescheitert. Mit der Erweiterung des Kreises um Länder wie Saudi-Arabien dürfte das Thema eines alternativen Weltfinanzsystems vorerst in den Hintergrund treten. Russland wird seine BRICS-Präsidentschaft 2024 nutzen, um diese Frage trotzdem wieder stärker in die Diskussion zu bringen.
Drittens geht es um die Arbeitskraft und die demographische Entwicklung. Eine aktuelle Untersuchung zu den Problemen der Unternehmen steht das Defizit an qualifizierten Arbeitskräften an erster Stelle (bei 47 Prozent der Befragten). Offen ist, inwieweit die Emigrationswellen 2022/2023 immer noch für diesen Mangel Bedeutung haben. Die Aussagen dazu sind widersprüchlich – sie reichen von »die wollen wir gar nicht mehr« bis »Rückkehrer:innen sind willkommen«. Kurzfristig scheint das Problem nicht lösbar. Eine tatsächliche Offensive zur Erhöhung der Qualifikation der gesellschaftlichen Arbeitskraft ist nicht zu erkennen. Zwar soll mit dem kommenden Haushalt die Berufsausbildung stärker gefördert werden, aber die Grundprobleme im Bildungswesen, einschließlich der schlechten Bezahlung der Lehrer:innen, werden nicht angegangen. Man verweist auf die Verantwortung der Regionen, ohne dass grundsätzliche Finanzierungsfragen geklärt wären. Die Ausgaben des Staatshaushaltes für die Grundlagen- und die angewandte Forschung sollen ebenfalls sinken, was auch Folgen für die Hochschulbildung haben dürfte. Auch hier wird auf private und regionale Initiativen gehofft.
Einen eigenen und hochideologisierten Problemkreis bilden die Versuche, die Geburtenzahlen zu erhöhen. Dazu sind weitere Vergünstigungen für Familien eingeführt worden, zuletzt für Familien mit Kindern mit Behinderungen. Gleichzeitig wird versucht, unterhalb gesetzlicher Regelungen Schwangerschaftsabbrüche unmöglich zu machen. Die entsprechende ideologische Kampagne liegt auf einer Linie mit der Kriminalisierung »nichttraditioneller Lebensweisen« und von LGBT auf der einen und einer Überhöhung der traditionellen Familie auf der anderen Seite. Ob diese Maßnahmen tatsächlich zu einem Wachstum der Bevölkerung beitragen werden, ist unsicher und hätte ohnehin erst in vielleicht zwanzig Jahren volkswirtschaftlich spürbare Effekte. Die hier lauernden Konflikte können genauso gut zu einem Sprengsatz gegen das unter Putin entstandene System werden.
Viertens die Ausgeglichenheit der regionalen Entwicklung. Im Zuge des Krieges ist die Rolle der Regionen ständig gewachsen. Ihnen wird eine entscheidende Rolle bei der Realisierung der Importablösung, der Stimulierung der Investitionstätigkeit, der Lösung demographischer Probleme, der Sicherung der sozialen Stabilität, der Verbesserung der Infrastruktur und bei der Sicherung der politischen Stabilität – also der Repression gegen Kriegsgegner:innen und andere tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle zugemessen. Die wirtschaftliche Stabilität und Entwicklungsfähigkeit der Regionen wird zunehmend als Voraussetzung für die Realisierbarkeit der strategischen staatlichen Ziele verstanden. Das erklärt den hohen Stellenwert, den die Vorbereitung der Gouverneurswahlen im September 2023 hatte.
Betrachtet man die Schwerpunkte der im Haushalt 2024-2026 vorgesehenen Förderung für Regionen, so fällt nicht überraschend der hohe Aufwand für die umkämpften Regionen im Donbass und für die Krim auf. Sie sollen, so Svetlana Solyannikova von der Moskauer Finanzuniversität, zu neuen Zentren des Wachstums der Wirtschaft werden. Für die immer wieder genannte Zukunftsregion im Fernen Osten stehen bedeutend niedrigere Beträge zu Verfügung, ebenso wie für die ebenfalls als wesentlich betrachtete arktische Region. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die dort eingesetzten Fördermittel eher private Investitionen stimulieren als in einem Kriegsgebiet, stellt sich die Frage, ob damit die noch immer enormen Herausforderungen an die Entwicklung der Infrastruktur in diesen Regionen so gemeistert werden können.
Fünftens ist offen, ob die soziale Stabilität gewahrt bleiben kann und inwieweit sie die Entwicklung der Wirtschaft stimulieren kann. Zwar wird versucht, durch Anpassung von Sozialleistungen und Löhnen sowie die verstärkte Förderung von Familien die soziale Situation stabil zu halten, aber eine Trendwende zu sichtbaren Wohlstandsgewinnen wird nicht wahrgenommen. Berichte aus den Regionen zeigen, dass die Teuerung weit höher liegt, als die Inflationsrate von 7 Prozent suggeriert. Teilweise sollen die Preise bei Waren des Grundbedarfs um 40 Prozent gestiegen sein Besondere Aufmerksamkeit (auch von staatlichen Stellen) erregte die Teuerung bei Eiern und Geflügel. Gleichzeitig steigt vor allem unter den betroffenen Frauen die Unzufriedenheit mit dem Umgang mit den Soldaten. Schon in der Frühphase des Krieges hatte es immer wieder Proteste von Müttern und Ehefrauen gegeben. Im November begann die Sammlung von Unterschriften für eine Petition, die sich gegen die Praxis einer endlosen Dauer der Mobilisierung richtet. Das ist nicht systemerschütternd. Aber das offene Auftreten mit diesem Protest ist ein Indikator für die wachsende Unzufriedenheit, die einen Eckpunkt der ideologischen Formierung, die Anrufung eines konservativen Familienbildes, als Absurdität demaskiert.
Alternativen nicht sichtbar
Wie gesagt, diese Probleme sind nicht neu, sie sind bekannt und sie stehen hinter den wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Regierung. Man kann nicht sagen, dass sie ignoriert werden würden. Immer stärker stellt sich aber die Frage, ob sie mit den gewählten Instrumenten lösbar sind. Die Lösungsversuche bewegen sich weitgehend in einem traditionell-neoliberalen Rahmen, modifiziert durch ein repressiv-konservatives politisches System. Der politische Druck hat die ohnehin schwachen Ansätze alternativer wirtschaftspolitischer Ansätze (seien sie keynesianisch oder links inspiriert) weitgehend abgewürgt. Die Verhaftung und monatelange Inhaftierung des linken Soziologen Boris Kagarlitzky hat die Grenze des diskutierbaren deutlich enger gezogen. Auch nach seiner Freilassung ist er durch ein faktisches Publikationsverbot weitgehend aus den öffentlichen Diskussionen ausgeschlossen. Mit dem Tod von Alexander Buzgalin ist der Verlust von alternativen Diskussionsräumen verbunden, die er durch seine Stellung im akademischen Apparat immer noch schaffen konnte. Die linken (oder ehemals linken) »systemischen« Oppositionsparteien KPRF und Gerechtes Russland sind als Vertretung alternativer wirtschaftspolitischer Ansätze durch ihre Bindung an das System Putin weitgehend ausgefallen.
Sieht man von dem zähen Widerstand kleinerer Gewerkschaften ab, die von den verschiedensten linken Gruppierungen unterstützt werden, so wird möglicherweise die Gründung einer neuen sozialdemokratischen Partei in Russland zu einer Belebung der Suche nach Alternativen jenseits akademischer Diskurse beitragen. Ob es der Partei gelingt, sich dafür den politischen Raum zu schaffen, ist allerdings fraglich. Ihre Orientierung auf die Sozialistische Internationale spricht dafür, dass sie sich klassisch-sozialstaatlich orientieren wird. Damit greift sie den dominierenden Diskurs im linken akademischen Feld auf, der sozialstaatliche Reformen als halbwegs realistisches Minimalprogramm betrachtet. Ob sie damit Anknüpfungspunkte für deutlicher antikapitalistische Bestrebungen bieten kann, ist offen. Viel wird von den Personen, die dieser Partei ihr Profil geben werden, abhängen.
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