Wirtschaft
anders denken.

»Der Staatshaushalt ist keine Ortsverein-Kasse!«

Die Jugendorganisationen von SPD und FDP trennen grundsätzliche Überlegungen zur Staatsfinanzierung.

18.11.2022
Manon Luther, Jahrgang 1996, studiert Rechtswissenschaften, ist stellvertretende Bundesvorsitzende der JuSos und dort für Finanzpolitik zuständig. Nemir Ali, gleicher Jahrgang, ist stellvertretender Bundesvorsitzender der JuLis und zuständig für Programmatik.

Frau Luther, Herr Ali, Sie sitzen Jugendorganisationen vor, deren Mutterparteien Teil der Ampel-Koalition sind. Sehen Sie noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen?

Nemir Ali: Wenn es um Außenpolitik geht, sind wir uns einig, dass man Menschenrechten den Vorrang vor wirtschaftlichen Beziehungen geben muss und sich nicht einschüchtern lassen darf von Diktatoren. Das gilt gegenüber Russland, China und dem Iran.

Manon Luther: Dem würde ich zustimmen. Ich glaube, die Unterschiede sind dann inhaltlicher Natur. Natürlich, es gibt gute Gründe, warum man entweder zu den JuSos oder zu den JuLis geht. Trotzdem sind Jugendorganisationen immer auch ein bisschen die jungen Wilden, die gegen die Mutterpartei arbeiten. Diese Erfahrung teilen wir natürlich.

Kann man denn sagen, dass die Ampel-Koalition auch eine Koalition der Jugendorganisationen der Parteien mit sich bringt?

Nemir Ali: Bei einzelnen Themen arbeiten wir durchaus zusammen. Zum Beispiel haben wir zu Beginn des Kriegs in der Ukraine ein gemeinsames Statement herausgegeben. Gleichzeitig ist es natürlich so, dass wir stark darauf bedacht sind, unsere eigene Partei zu beeinflussen. Wir wollen, dass die JuLi-Inhalte, die es in den Koalitionsvertrag geschafft haben, jetzt auch durchgesetzt werden. Und manchmal wollen wir vielleicht auch, dass gewisse Dinge, die vielleicht den JuSos wichtig sind, ausgebremst werden. Das wird bei denen vermutlich ähnlich sein.

Manon Luther: Dass das 9-EuroTicket eingestampft wurde, nehmen wir der FDP schon sehr übel. Aber wir kritisieren ja des Öfteren FDP-Minister.

Zum Beispiel Christian Lindner wegen der Schuldenbremse. Über die möchten wir heute sprechen, ist doch die Generationengerechtigkeit ein vielgenutztes Argument wahlweise für oder gegen sie. Wie stehen Sie zu dieser Haushaltsregel?

Nemir Ali: Wir haben die Schuldenbremse im Grundgesetz. Sie besagt, dass der Staat in normalen Zeiten nicht mehr ausgeben darf, als er einnimmt. Das ist der Aspekt der Generationengerechtigkeit: Schulden müssen irgendwann abbezahlt werden. Beschränken wir sie, belasten wir künftige Generationen nicht. Es gibt aber trotzdem die Möglichkeit, dass der Staat in Krisenzeiten doch Schulden aufnimmt, um handlungsfähig zu sein. Davon machen wir in diesem Jahr auch Gebrauch und davon haben wir auch in den letzten zwei Jahren bedingt durch Corona Gebrauch gemacht. Das sind zwei Dinge, die zusammengehören – die Sparsamkeit in normalen Zeiten und die Schuldenaufnahme in schlechten. Die Zurückhaltung in guten Zeiten garantiert die Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten. Hätten wir schon vor der Corona-Krise massenhaft Schulden gemacht, hätten wir die Folgen für die Menschen und für die Betriebe nicht abfedern und auch nicht solidarisch sein können.

Da stimmen Sie inhaltlich vollkommen mit Olaf Scholz überein. Der hatte damals als Finanzminister seine »Bazooka« auch mit den sparsamen Haushalten in den vorherigen Jahren gerechtfertigt. Wollen Sie Ihrem eigenen Kanzler widersprechen, Frau Luther?

Manon Luther: Ich bin mir sehr sicher, dass Olaf und ich da grundsätzlich unterschiedliche Analysen haben. Wir JuSos fordern eine ersatzlose Streichung eben dieses Artikels im Grundgesetz. Die Schuldenbremse ist undemokratisch. Der Haushalt ist das schärfste Schwert, das das Parlament hat. Das sollte man nicht mit einem Artikel im Grundgesetz beschränken. Wir sagen außerdem: Sie ist dysfunktional. Sie steht einer antizyklischen Haushaltspolitik konträr entgegen. Erst in Ausnahmesituationen zu handeln ist zu spät. Kluge wirtschaftspolitische Entscheidungen muss man treffen können, bevor man überhaupt in eine solche Krise reinschlittert. Es gibt auch keine Belege dafür, dass solche festgeschriebenen Haushaltsregeln überhaupt dazu beitragen, Schulden abzubauen. Steuereinnahmen und Arbeitslosigkeit werden negativ beeinflusst. Was dann wieder zu mehr Verschuldung führt.

Nemir Ali: Wir sehen in Deutschland doch, dass in den Zeiten, als wir die Schuldenbremse eingehalten haben, das Gegenteil der Fall war. Wir hatten Rekordbeschäftigung und Rekordsteuereinnahmen!

Was sagen Sie zur Generationengerechtigkeit, Frau Luther?

Manon Luther: Ich sehe keine jungen Menschen auf der Straße, die für schwarze Zahlen protestieren. Wenn sie auf der Straße gehen, dann protestieren sie in der Regel für eine lebenswerte Zukunft, vor allem für Klimaschutz. Die Schuldenbremse ist am Ende auch eine Klimaschutz-Bremse. Wir wissen alle, dass wir all das, was wir uns vorgenommen haben, ohne riesengroße Investitionen in Infrastruktur und den Energiesektor niemals erreichen werden. Deswegen ist es falsch zu sagen, dass die Schuldenbremse generationengerecht ist. Wir gehen ja nicht ernsthaft davon aus, dass in 50 Jahren irgendjemand kommt und sagt »So, hier ist aber noch eine offene Rechnung.« Der Staatshaushalt ist keine Ortsverein-Kasse!

Was entgegnen Sie, Herr Ali?

Nemir Ali: Ich frage mich, ob du das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch undemokratisch findest, Manon. Das viel diskutierte Urteil, dass der Staat die Freiheit künftiger Generationen beim Klimaschutz berücksichtigen muss, zwingt den Gesetzgeber ja ebenfalls, in eine gewisse Richtung zu handeln. Ist das auch undemokratisch? Durch unsere Verfassung begrenzen wir den Staat auch in einer ganzen Reihe von Sachen, wo wir sagen, auch eine demokratische Mehrheit soll hierüber nicht entscheiden. In diesem Rahmen finde ich die Schuldenbremse nicht undemokratisch, sondern Ausdruck einer starken Verfassung, die sich eben auch den Freiheitsrechten künftiger Generationen verschrieben hat.

Manon Luther: Ich sehe ein, dass es Einschränkungen des Gesetzgebers geben muss, wenn es eine Notwendigkeit gibt, die einen solchen starken Einschnitt rechtfertig. Aber eben nur mit einer Notwendigkeit! Beim Klimaschutz sehe ich diese Notwendigkeit vollständig gegeben. Aber bei irgendwelchen Zahlen, nach denen ehrlicherweise aus meiner Perspektive in 50 Jahren niemand ruft, würde ich diesbezüglich ein sehr großes Fragezeichen machen.

Und das Argument, dass man Krisen verhindern sollte, bevor sie entstehen, Herr Ali?

Nemir Ali: Schauen wir doch mal auf die aktuellen Krisen. Diese Energiekrise hätte ohne Probleme verhindert werden können, wenn die SPD und auch Teile der CDU nicht so naiv gegenüber Russland gewesen wären. Das hat nichts mit Schuldenaufnahme zu tun. Und das Corona-Virus hätten wir mit Schulden auch nicht verhindern können. Leider.

Die Klimakrise kann auch nicht mehr verhindert werden?

Nemir Ali: Gerade beim Klimaschutz finde ich das Argument des Investitionsbedarfs immer sehr interessant. Es suggeriert, dass ausschließlich die öffentliche Hand dafür zuständig ist, massig Geld in die Hand zu nehmen. Dabei sind es doch eigentlich die Privaten: Unternehmen handeln klimaschädlich und die sollten mit entsprechenden staatlichen Anreizen dann natürlich auch Investitionen in Klimaschutz und in klimafreundliche Technologie tätigen. Ich verstehe nicht, warum das nur der Staat machen soll. Unsere unterschiedlichen Positionen zur Schuldenbremse gehen einfach auf ein anderes Verständnis der Rolle von Staat und Privatwirtschaft zurück. Wir wollen, dass es, so gut es geht, erst einmal die Privaten machen, bevor der Staat einspringt. Das ist effizienter!

Manon Luther: Die Situation ist einfach zu dramatisch, als darauf zu hoffen, dass Private was tun. Selbstverständlich glaube ich auch, dass Unternehmen ihren gerechten Anteil übernehmen müssen und harte Vorgaben brauchen. Aber wir haben einen sehr gravierenden Unterschied in der Analyse, ob so etwas freiwillig passieren sollte oder nicht. Es ist staatliche Aufgabe und dafür braucht der Staat die Mittel. Sonst haben die nächsten Generationen ganz andere Probleme, als sich dann wirklich um die Kreditwürdigkeit Gedanken machen zu müssen. Noch mal: Niemand wird in 50 Jahren nach dem genauen Schuldenstand fragen!

Nemir Ali: Wir sind uns einig: Wir wollen, dass die Welt, die wir unseren Kindern und nachfolgenden Generationen hinterlassen, ökologisch nachhaltig ist, dass sie sozial nachhaltig ist. Dazu gehört, dass wir eine gute Infrastruktur haben und dass sie wirtschaftlich nachhaltig ist. Das heißt auch, dass der Schuldenstand nicht erdrückend ist. Wieso soll das ein Entweder-oder sein? Es heißt immer, entweder Schuldenbremse oder Investitionen. Und ich frage mich, warum versucht man denn nicht beides? Das ist ein Mythos, dass beides nicht zusammengeht. Und bevor nicht der Beweis erbracht ist, dass es nicht geht, finde ich es schwierig, die Schuldenbremse abzuschreiben.

Was wäre denn Ihr Vorschlag zur Reform der Schuldenbremse, Frau Luther?

Manon Luther: Wir sind für eine ersatzlose Streichung, keine Reform der Schuldenbremse, weil wir generell gegen Schuldenregeln sind, auch zum Beispiel gegen die Maastricht-Kriterien auf europäischer Ebene. Allerdings gibt es immer mal wieder Vorschläge, Investitionen für Klima und Bildung rauszunehmen aus der Schuldenbremse. Die Liste von Dingen, die von der Schuldenbremse ausgenommen sein sollten, wäre zwar lang und Situationen, in denen man über Kredite generell Sozialmaßnahmen finanzieren muss, würde es weiterhin geben, aber solche eine Reform wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Nemir Ali: Da kann ich mir sehr gut vorstellen, was dann passiert. Man wird nämlich mit den Steuereinnahmen nur noch Sozialleistungen bezahlen und alle Investitionen über Schulden finanzieren. Das wird dazu führen, dass der Schuldenstand absurd hochsteigt und wir uns gar nicht erst die Mühe machen zu überlegen, was denn sinnvoll ist und benötigt wird.

Zum Abschluss noch eine kleine Prognose-Frage: Christian Lindner hält eisern daran fest, die Schuldenbremse 2023 nicht auszusetzen. Glauben Sie, das hält er durch? Wird die Schuldenbremse nächstes Jahr eingehalten?

Nemir Ali: Wir haben im Jahr 2022 Schulden aufgenommen, um das Ende der Corona-Krise abzufedern. Wir haben Schulden aufgenommen, um mit 200 Milliarden Euro die Energiekrise abzufedern. So haben die Bürgerinnen und Bürger Planungssicherheit und müssen nicht immer auf den nächsten kleinen Schritt der Koalition warten. Damit haben wir jetzt für alle Eventualitäten vorgesorgt. Deswegen bin ich mir sicher, dass wir mit Blick auf die Energiekrise 2023 die Schuldenbremse nicht aussetzen müssen. Mit Blick auf die anderen Krisen auch nicht. Wenn es keine außergewöhnlichen Krisen gibt, die ich jetzt nicht vorhersagen kann, haben wir nächstes Jahr einen ausgeglichenen Haushalt.

Manon Luther: Ich würde der Koalition sehr raten, sie weiterhin auszusetzen. Ich glaube nicht, dass sich die Situation bis dahin so normalisiert hat. Insbesondere mit Blick auf die Länder: Deren Schuldenregeln werden 2023 auch ziehen und dann steigen die Landesregierungen dem Bund aufs Dach. Zu Recht, denn es ist politisch nicht haltbar, dass 2023 die Schuldenbremse zieht, wenn wir an anderen Stellen wahnsinnige Kürzungen hinnehmen müssen. Das kann man sich in der aktuellen Situation politisch nicht leisten! Ich gehe davon aus, dass die Schuldenbremse in diesem Kontext ausgesetzt wird – zumindest würde ich es Christian Lindner sehr ans Herz legen.

Ihre Einschätzungen werden wir nächstes Jahr überprüfen können. Danke für das Gespräch!

Das Interview führte:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

Philip Blees

OXI-Redakteur

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