Wirtschaft
anders denken.

Schulz, die Sozialdemokratie und die Systemfrage

25.10.2017
Olaf Kosinsky (wikiberatung.de), Lizenz: CC BY-SA 3.0

Etwas unterhalb des Radars läuft die Debatte über eine mögliche Neuerfindung der gesellschaftlichen Linken. Die Grüne Antje Vollmer meint, der Knackpunkt daran ist, ob die Sozialdemokratie zur Erneuerung fähig ist. Martin Schulz hat nun das Wort Systemfrage in den Mund genommen. Das wird aber noch nicht ausreichen.

Sagen wir es so: Es ist eine Diskussion über die Chancen und Grenzen sozialdemokratischer Politik, womit nicht dasselbe gemeint ist wie bisherige SPD-Politik. Sondern etwas, das Thomas Meyer in der »Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte« als »soziale Transformationsstrategie« bezeichnet, die auf den »demokratischen Marx« fußt und auf die Durchsetzung des Vorranges »sozialer und gesellschaftlicher Interessen vor dem Profitmotiv« zielt.

Man könnte hinzufügen: erst einmal. Es wird auch Linke geben, die das für zu wenig halten. Oder um es mit Georg Fülberth zu sagen, eine solche sozialdemokratische Politik reicht nicht aus und wäre »vielleicht noch nicht einmal eine Vorstufe« für eine »weit größere Umwälzung« über »den Kapitalismus« hinaus. »Sie stehen ihr aber auch nicht im Wege. Also wäre es dumm, auf sie zu verzichten.«

Nur, wie kommt man dorthin? Die politischen Mehrheiten sehen derzeit anders aus, darüber kann auch nicht hinwegtrösten, dass sie laut Umfragen nicht der politische Selbsteinordnung einer Mehrheit als mehr oder weniger links entsprechen. Abgesehen davon ist es nicht nur ein bundesdeutsches, sondern ein europäisches Problem.

Strategisches Mitläufertum und mithelfenden Sozialarbeit

Die Grüne Antje Vollmer hat es so formuliert: Die politische Linke in ganz Europa müsse sich jetzt »an Haupt und Gliedern, in der Theorie und in der Praxis, vom Geist der Großen Koalitionen trennen, von ihrer Bereitschaft zur machtpolitischen Kooperation, zum strategischen Mitläufertum und zur mithelfenden Sozialarbeit bei gerade jenem Politik- und Strategie-Konzept, das die letzten 25 Jahre den Westen in dessen tiefste Krise gestürzt hat.«

Das ist vor allem eine Ansage in Richtung SPD, ein bisschen auch eine in Richtung der Grünen. Und nicht zuletzt auch eine an die Adresse der Linkspartei. Aber, Vollmer, die in besagtem Beitrag über »die Notwendigkeit der Wiedervereinigung der europäischen Linken« nachdenkt, weil andernfalls »nicht nur den Sozialdemokratischen Parteien Europas, sondern auch den neuen linken Bewegungen« ein »Dasein als Mauerblümchen der Geschichte« drohe, ist jedenfalls in diesem Punkt zuzustimmen: »im Zentrum einer neuen Politik muss doch die Erneuerung der SPD stehen«.

Eine solche wird man nicht allein mit »Dialogveranstaltungen« oder rein organisationspolitischen Verbesserungen erreichen, es muss schon um die Substanz gehen. SPD-Chef Martin Schulz hat dazu in einem Interview mit der »Zeit« einige bedenkenswerte Äußerungen gemacht – und einige, die aufzeigen, wie weit die Entfernung noch ist zu einem Politikwechsel »an Haupt und Gliedern, in der Theorie und in der Praxis«.

Arbeiterbewegung à la SPD: Ein Schritt vor, ein Schritt zurück

Das Problem ist: Schulz weiß genau, wo das Problem liegt, seine Antworten bleiben aber im Bannkreis des Problems gefangen. War der Schulz-Hype Anfang 2017 Ausdruck eines  großen Wunsches nach »linkerer Politik« der SPD, wird er da gefragt – und antwortet mit Ja. Zugleich vermag er nicht einzugestehen, dass der Wahlkampf dann eben zu wenig links war. Bernd Ulrich nennt es ein Bedürfnis, »das die real existierende SPD nicht befriedigt hat«. Was er mit dem guten Hinweis ergänzt, eine linke Politik sie »in einem Wahlkampf erst spürbar, wenn irgendjemand von der Gegenseite schreit – die Union, die FDP, die Unternehmerverbände, wer auch immer. Doch niemand hat geschrien.«

Man kann das Zögern von Schulz förmlich hören, diese Mischung aus vorhandener Erkenntnis und Angst, etwas zu sagen, was dieses Schreien auslöst. Er verweist erst zur Entgegnung auf seine Reden, die seien doch links gewesen. Dann sagt er immerhin: »Wir hatten keine überwölbende Botschaft.« Worin hätte eine solche bestehen können? Schulz legt dann einen weiteren Millimeter zurück: »Wir müssen wieder den Mut zur Kapitalismuskritik fassen.«

Dass ein SPD-Chef die Systemfrage stellt, ist nicht nichts. Und es passt zu Vollmers Forderung nach einem Bruch mit dem »strategischen Mitläufertum« und der »mithelfenden Sozialarbeit«. Schulz nennt denn auch als Problem die »Unterwerfung der europäischen Sozialdemokratie, der progressiven Kräfte weltweit unter diese These, es gehe nicht mehr ums System, sondern nur noch um die Verteilung der Effekte im System«. Er sagt, dass der Kurs von Gerhard Schröder eine der Ursachen für die Krise der Sozialdemokratie »ist und bleibt«.

Nicht nur symbolisch vom Neoliberalismus verabschieden

Doch an dieser Stelle kommt nach einem Schritt voraus schon gleich der erste wieder zurück. Er wolle Linkssein nicht entlang der »alten Schlachtordnungen« definieren – »Bist du für oder gegen die Agenda« -, was er doch gerade selbst getan hat. Er nennt dann lieber Angela Merkels asymmetrische Demobilisierung als einen Grund für das schlechte Durchdringen jener Töne, die er selbst als links einschätzt. Um dann im nächsten Moment doch wieder zu sagen, es gehe »sehr wohl um die Frage, welches System wir haben, wie wir wirtschaften«, und zu fordern: »Die SPD muss sich nicht nur symbolisch vom Neoliberalismus verabschieden.«

An seinem Interview in der »Zeit« wird man Schulz sicher künftig noch öfter messen. Die Systemfrage? »Ich werde sie stellen. Das ist eine ganz klare Neuausrichtung der SPD«, sagt da einer ihrer Vorsitzenden – wann war das das letzte Mal der Fall? Und während man noch darüber nachdenkt, läuft Schulz schon wieder ein Stückchen rückwärts: »Eine so fundamentale Erneuerung wie in England oder Italien halte ich für ausgeschlossen.« Wie aber sonst käme man denn »raus aus dem Klein-Klein«, also auf den Weg, den Schulz selbst als zwingend betrachtet?

Eine soziale Gegenlogik zum Profitprinzip

Thomas Meyer hat in besagter »Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte« von der Möglichkeit gesprochen, »demokratische Macht zu organisieren, und dem Kapitalismus in wichtigen Bereichen eine Gegenlogik aufzuzwingen«. Die Frage sei dann freilich, »wie viel Kraft, wie viel Zielstrebigkeit kann die Arbeiterbewegung aufbringen«.

Was in diesem Wort heute gefasst werden müsste, ist mehr und anderes als zu Zeiten von Karl Marx oder der 1950er Jahre. Es ist ein politischer Raum, in dem heute nicht bloß die SPD und die Gewerkschaften agieren, sondern linkssozialistische, ökologische, zivilgesellschaftliche, um persönliche Freiheitsansprüche ringende Kräfte und viele mehr.

Aufeinander bezogen sind sie vor allem im Konflikt, der mit ihren eigenen Spaltungen zu tun hat. Die Grüne Vollmer legt ihnen nahe, diese Geschichte zu überwinden – und eine neue gemeinsame Tradition dort zu suchen, wo auch historisch bereits der »Kompromiss zwischen Demokratie und Sozialismus« auf der Tagesordnung stand.

In seinem Interview mit dem SPD-Vorsitzenden fordert Bernd Ulrich diesen mit der Formulierung heraus, »Schulz stellt Systemfrage – kaum auszudenken«. Kaum auszudenken, könnte man hier anfügen, wenn Schulz die Systemfrage nicht bald auch beantwortet.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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