Wirtschaft
anders denken.

Wirkungslose Wunderdinge

29.01.2021
Schwarzes Graffiti auf der Wand: "auch mal was abgeben!" in Schreibschrift. darunter Kellerfenster, darüber Fenster mit Spotzen-Gardinen.Foto: Privat

Nicht bestellt und trotzdem geliefert, manchmal auch umgekehrt. Was schwarz-grün mit der Zirbenkuschelkuh gemein hat, und warum es jetzt wirklich Zeit ist für Politik statt Marketing. Teil 12 des Corona Tagebuchs in KW4.

Zwei Unterhosen müssten ja eigentlich in einen Briefumschlag passen und könnten deshalb von einer Postbot*in in den Briefkasten geliefert werden. Pandemiekonform, solidarisch gegen die Arbeitsbedingungen ausgebeuteter Paketboten (in meinem Lieferbereich ausschließlich Männer) und ökologisch vertretbar – so die Vorüberlegungen. Denkste Puppe. Stattdessen hole ich vom DHL-Stützpunkt eine Kiste, in der Stiefel Platz gehabt hätten und die soviel wiegt, wie drei Vollkornbrote. Waren aber drei Kataloge des Versandhändlers mit dem schönen Namen „Pro Idee“. Kataloge wie diese faszinieren mich schon seit meiner Vor-Internet-Kindheit und eignen sich entsprechend gut als Bettlektüre. Besonders, wenn sie mit dem Bild einer schlafenden Frau (groß) und einem Astronauten (klein) auf dem Titel werben, dazwischen Wolken, Mond, Sterne und irgendwie futuristisch aussehende farbige Wellen über den jeweiligen Köpfen. Dann noch der Satz: „Dank NASA-Technologie: schneller einschlafen und besser durchschlafen. Auf natürliche Weise.“ Was kann frau mehr erwarten vom Kapitalismus? Allzumal in diesen Zeiten. Die, und das ist faszinierend, im gesamten Katalog der Wunderdinge kein einziges Mal direkt als Pandemie, Corona, Covid-19 oder ähnliches benannt werden. Dennoch: Reisetoiletten, „geniale Walkingstöcke“, „hygienische Nasen- und Ohrhaarschneider“, aber auch „Zirbenkuschelkkuh Emma hilft Kindern tief und ruhig zu schlafen. Von feinem Zirbendurft umschwebt, ruhen die Kleinen entspannt – wie in frischer Tiroler Bergluft“. Auf jeder Seite dieses Druckerzeugnisses präsentiert sich „die Wirtschaft“ als Retterin in Gefahr und höchster Not. So eingelullt schleicht sich der mit UV-Licht wirkende Sterilisator „zum berührungslosen, chemiefreien Entkeimen…für den mobilen Einsatz können sie die stabförmige UV-C-Leuchte abnehmen“ in meine Träume. Irgendwo zwischen Raumschiff Orion, Lichtschwert und Phaser angesiedelt, begrüßen sich post-pandemische Wesen, indem sie sich wechselseitig „im Nu“ entkeimen. „Keine Desinfektionsflüssigkeit, keine Chemie“.

Beim Aufwachen der Gedanke: Diese Katalogwelt des Pro-Idee Concept Store, das ist, mehr oder weniger, Projekt schwarz-grün. Auch wenn Robert Habeck natürlich dafür sorgen würde, dass vieles besser gemacht wäre, klüger beschrieben und schöner aussähe. Aber die stille, leere dunkle Stadt, durch die ich manchmal auch nach zehn noch radle – ist ja nicht Eindhoven –, verspricht mehr. Mehr Freiraum für wirkliche Veränderungen. Wo doch so viele jetzt merken, dass Kinder und andere Menschen auch ohne Zirbelkuh ganz gut schlafen, wenn sie wissen, dass sich irgendwer um sie kümmert. Was viele gerne und gut täten und tun, wenn sie nicht irgendwie in der Zirbenkuschelkuhproduktionsundkonsumationsmaschine feststeckten.

Hostel-Personal beispielsweise bedient mit großer Freude Menschen, die sonst ohne Obdach wären, berichtet der Deutschlandfunk in einem sehr hörenswerten Wochenendjournal aus Berlin. Freund*innen, die sich noch treffen dürfen, entdecken, dass sie mit einer scharfen Schere ganz geschickt sind im Haareschneiden, und vielleicht reicht es auch für die Krallen der alten Hündin. Die öffentlich-rechtlichen Medien, also die, die wir alle gemeinsam mit Gebühren finanzieren, haben mittlerweile doch auch ziemlich viel im Angebot, das Kindern dabei hilft, ohne Schule nicht ganz zu verdoofen. Wenn sich jetzt noch Bildungspolitiker*innen einen Ruck gäben, ließe sich das gesamte Schuljahr einfach mal aus der Wertung nehmen. Außer Konkurrenz gewissermaßen könnten dann alle mal lernen und lehren, was immer nützlich ist: kochen, lesen, kopfrechnen oder was sie interessiert: Luftreinigungsgeräte selber bauen, Zirbenholz hobeln, oder blaue Vorhänge zählen in Erdgeschossfenstern, nur so als Beispiel. Jedenfalls kann jede unbeschulte 9-Jährige sehen, dass „die Wirtschaft“ hier gerade nichts liefert: Keine Medikamente für Kranke, weil stattdessen Patente geschützt werden, nicht genügend Sauerstoff zum Atmen für Arme im Amazonas, keine Tablets fürs flächendeckendes Homeschooling. Selbst öffentlich von EU-Offiziellen angeprangerte Vertragsbrüche von eben noch zu „Heilsbringern“ hochgejubelten Impfstoffproduzenten haben, siehe Aston Seneca, keinen negativen Einfluss auf die Börsenkurse. Eher ist es umgekehrt. Die Wirkungslosigkeit einer Zirbenkuschelkuh hat schon lange nichts mehr mit dem Profit zu tun, der sich mit ihr erzielen lässt.

„Der Bereich des Lebens wird vom Standpunkt der gesellschaftlichen Lebensmittelproduktion randständig und mit ihm diejenigen, die ihn in erster Linie bevölkern. Zugleich wird die Tätigkeit im gesellschaftlich zentralen Bereich entfremdet, so dass Hoffnung auf Befreiung sich auf jenen lebendig randständigen Bereich richtet. Auf die Frauen kommt die unzumutbare Belastung zu, im Stadium der Unterdrückung die Hoffnung auf ein besseres Leben darzustellen, auf Genuß, Sinnenfreude.“ Das sagte Frigga Haug 1987, in einem Vortrag auf der 8. Westberliner Volksuni mit dem Titel „In der Arbeit zu Hause sein“. Es ging um den Arbeitsbegriff bei Marx und seine kritische Neubewertung aus feministischer Sicht. Heute wäre vielleicht einzuwenden, das „Lebensmittel“ ein viel zu freundlicher Euphemismus ist für die Lebensvernichtung, die das herrschende Produzieren und Konsumieren schon viel zu lange in Kauf nimmt.

Warum unter diesen Umständen die Gesellschaft zunehmend zu zerfallen scheint in Staatsüberschätzer und Coronaleugner, beziehungsweise postpolitische Technokratenregimes und libertäre Populisten erklärt eine umfassende Analyse auf dem Blog „Solidarisch gegen Corona“. Am Ende der Lektüre lässt sich auch die eigene, nun als „Pandemiemüdigkeit“ gelabelte, täglich steigende Unzufriedenheit als strukturelles, damit aber nicht weniger deprimierendes Problem verstehen. „Die Doppelbotschaften dieser Politik bestehen darin, den Individuen einerseits die Verantwortung für die Pandemie zu übertragen, ihnen andererseits aber keine Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen zu ermöglichen und die Verhältnisse im Allgemeinen so zu gestalten, dass egoistisches Verhalten rational und notwendig erscheinen müssen.“

Immerhin: Nach fast 12 Monaten Pandemie fordern insgesamt 36 Verbände und Gewerkschaften Geld für die Armen. Dietmar Bartsch durfte in den Tagesthemen sprechen, im Deutschlandradio empfiehlt sich der hier gerne erwähnte SPD Oberbürgermeister von Solingen, Tim Kurzbach, als übernächster Kanzlerkandidat, falls es die Sozialdemokratie dann noch geben sollte. Unter dem Titel „Enteignen und dann“ veranschaulichen IG-Metall Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban und Autorin Sabine Nuss die unterschiedlichsten, allesamt durch Paragraph 15 Grundgesetz gedeckten Möglichkeiten zur Vergesellschaftung. Lauter gangbare Auswege aus dem tödlichen Profitstreben. Sogar das fehlende Gedenken für die Verstorbenen ist, kaum hatte die Kollegin es zweimal beklagt, gleich auch dem Bundespräsidenten aufgefallen. Noch hat sich #lichtfenster, trotz Präzisierung durch die ekd – jeden Freitag eine Kerze ins Fenster stellen – nicht so richtig verbreitet, aber vielleicht, wenn alle überhaupt immer ein Licht im Fenster hätten? Für alle Toten. Überall. Egal, woran sie gestorben sind.

Geschrieben von:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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