Roter Olaf, Schwarze Null: ein Kernproblem sozialdemokratischer Krise und die neue Ausgabe von »Mittelweg 36«
Mit dem Roten Olaf Scholz weiter auf Kurs Schwarze Null: Wer das Leitbild des Konsolidierungsstaates verfolgt, schwächt die Demokratie im Kapitalismus. Und mit Erneuerung hat das schon gar nichts zu tun. Warum? Die SPD sollte die neue Ausgabe von »Mittelweg 36« lesen.
Die »Schwarze Null« gehört zwar gerade nicht zu den Tophits des medial-politischen Empörungsbetriebes, es könnte aber trotzdem sinnvoll sein, sich zum Start einer neuen Bundesregierung mit der Frage etwa näher zu befassen, wie diese grundsätzlich steuerpolitisch tickt. Aufhänger gibt es hinreichend, zum Beispiel dieses Interview mit dem neuen Finanzminister, der sich darin als Meister hanseatischer Wortkargheit inszeniert – und trotzdem genug sagt, über das man politisch nachdenken sollte.
»Alle dürfen sich auf einen seriösen Haushalt freuen«, sagt Olaf Scholz da der »Süddeutschen Zeitung«. Wobei »seriös« hierzulande in etwa die Bedeutung von »proeuropäisch« oder »verantwortungsvoll« hat – es handelt sich um aufhübschende Adjektive, die dem politischen Framing dienen und damit politisch wirksam werden – also Stimmungen, Meinungen beeinflussen: Wer will schon einen unseriösen Etat?
Was ein solcher wäre, sagt Scholz auch, indem er klarstellt, was man nicht wolle: Die GroKo werde einen Haushalt aufstellen, »der keine neuen Schulden vorsieht und zugleich sicherstellt, dass wir die Aufgaben finanzieren können, die für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land wichtig sind«.
Mit dem Roten Olaf wird es also bei der Schwarzen Null bleiben. Das ist keine Überraschung mehr, auf die Frage, ob die Sozialdemokraten dem haushaltspolitischen Programm des Vorgängers Wolfgang Schäuble folgen würden, hatte der SPD-Mann schon vor ein paar Wochen gesagt: »Ja, das gilt auch für uns. Die Sozialdemokraten stehen für solide Finanzen. Mit einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik steigen auch die finanziellen Spielräume.«
Kernproblem sozialdemokratischer Krise
Da taucht erneut dieses politische Framing auf, das nur in einer bestimmten Politik etwas »Solides« verstanden wissen will, damit die Debatte über alternative Optionen gar nicht erst durch den Gedanken befördert wird, auch eine solche oder vielleicht gerade erst diese könnte sich als »seriös« oder »solide« erweisen. Soweit, so bekannt und ganz sicher ein Kernproblem sozialdemokratischer Krise. Warum? Das kann man im aktuellen Heft der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung lernen.
Der Frühjahrs-Schwerpunkt von »Mittelweg 36« handelt »Von Steuern und Staaten« und betrachtet aus kritisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive die Veränderungen in den Fiskalregimen, die politische Ökonomie von Steuergerechtigkeit, die Krise des Steuerstaates durch Vermeidungsbemühungen von Kapital und Reichtum sowie die Bemühungen, dem wiederum transnational einen Riegel vorzuschieben.
Was die Sache noch interessanter macht, ist die fiskalsoziologische Perspektive, und dies zunächst auf einer diskurspolitischen Ebene: Auch dieser Heft-Schwerpunkt könnte für die nicht nur von Heinz Bude beobachtete Renaissance der Soziologie zu Lasten einer langjährigen Deutungsdominanz der Ökonomen stehen, die zudem noch einseitig von marktorientierten Vorstellungen geprägt war. Die Beiträge zeigen jedenfalls, dass ein solcher Paradigmenwechsel auch mit Blick auf ganz grundsätzliche Fragen der Steuerpolitik ein Gewinn sein kann.
Wiedergewinnung demokratischer Handlungsspielräume
Zumal, wenn man sich darüber Gedanken macht, wie eine Wiedergewinnung demokratisch legitimierter Handlungsspielräume gelingen könnte. Dazu wäre eine Korrektur der »Schwarze-Null-Ideologie« nötig, was politisch nun auch keine sensationelle Aussage ist. Aber der Weg dieser Korrektur verläuft eben über das Feld der Erkenntnis, oder, um es mit dem in den »Mittelweg 36«-Schwerpunkt einführenden Lars Döpking zu formulieren: Man muss dazu schon begriffen haben, »warum es sich lohnt, historischen wie soziologischen Fragen nach den Beziehungen zwischen kapitalistischer Dynamik und Steuerstaatlichkeit nachzugehen.«
Dieser Fokus beinhaltet mindestens drei Kerngedanken: Der Zusammenhang von Kapitalismus, Demokratie und Ungleichheit lässt sich erstens »gar nicht angemessen reflektieren«, ohne Steuern und Politiken der Besteuerung zu thematisieren.
Zweitens kann man in Anlehnung an Wolfgang Streeck (und indem man kritisch über ihn hinausgeht) die Ausgestaltung des jeweiligen Fiskalregimes als Kernmoment der politischen Arrangements verstehen, mit der die expansive Dynamik des Kapitalismus (wieder) eingebettet werden kann, also etwas gegen den systemisch angelegten Drang getan wird, alles Marktbeziehungen zu unterwerfen und so immer neue (Selbst-)Zerstörungspotenziale hervorzubringen.
Hier wäre an Karl Polanyi und dessen Überlegung über die ständige Tendenz zur Herauslösung der Wirtschaft aus der Gesellschaft als Kennzeichen des tiefgreifenden Wandels der kapitalistischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert zu denken – was, schließt man dort an, auf sozialdemokratische Strategien hinauslaufen müsste, gegen diese Entbettung der Ökonomie eine Politik (wieder) durchzusetzen, die den Raum der gesellschaftlichen Logik zulasten der Profitlogik ausdehnt und sich dem Trend zur Kommodifizierung, Liberalisierung und Privatisierung des Sozialen entgegenstemmt.
Hebel für innergesellschaftliche Solidarität
Hier liegt ein zentraler Hebel für die Herstellung innergesellschaftlicher Solidarität, es ist darüber hinaus eine Kernfrage politischer Gestaltungsmacht, die stets umstritten ist – und die Geschichte der vergangenen 30 Jahre ist eine, in der diese Gestaltungsmacht nicht zuletzt durch steuerpolitische, von Interessen beförderte und aus der Logik der Fiskalregime selbst wiederum befeuerten Wandlungen stark geschwächt wurde.
Damit ist drittens der Blick gelenkt auf die Veränderungen des Fiskalregimes, die Streeck als Entwicklung vom Steuerstaat über den Schuldenstaat zum Konsolidierungsstaat beschrieben hat, und die zu einem Wandel der Zielvorgaben führten: vom expansiven Regime, das Vollbeschäftigung anstrebt, zu einem austeritären Regime, das dem ausgeglichen Haushalt oberste Priorität einräumt.
Ein SPD-Kassenwart im Konsolidierungsstaat
Olaf Scholz versteht sich als Kassenwart im Konsolidierungsstaat. Das hat Folgen, Döpking verweist auf den Fiskaldemokratieindex, der den Spielraum anzeigt, innerhalb dessen demokratische Regierungen ihre Gestaltungsaufgaben wahrnehmen – und der im Konsolidierungsstaat »empfindlich« eingeschränkt ist. Hinzu kommt, »dass austeritäre Finanzregime vergleichsweise robust sind und dazu tendieren, auch nach einer formalen Sanierung des Staatshaushaltes fortzuexistieren«, die »Schwarze Null« wird dabei zum Selbstzweck des Fiskalregimes – mit der Folge, dass der (Wieder-)Einbettung kapitalistischer Dynamik die Finanzierungs- und dann auch die Legitimationsgrundlage entzogen ist. Nicht zuletzt liegt hier ein Schlüssel zum Verständnis der Wandlungen der Wohlfahrtsstaatlichkeit, und damit für Entwicklungen der Entsicherung, der Armut, der Ungleichheit und so fort.
Im konsolidierungsstaatlichen Denken werden die drei historisch ausgebildeten Funktionen der Besteuerung praktisch auf die Hinterbühne verbannt, vor dem roten Vorhang tanzt die Schwarze Null Solo. Das ist aus sozialdemokratischer Perspektive besonders fatal, weil diese gesellschaftspolitische Veränderung per demokratischer Verfahren anstrebt, was eine Frage der existierenden (und ergriffenen) Möglichkeiten ist: Allokation volkswirtschaftlicher Ressourcen (ökonomische Steuerungsfähigkeit), Eingriff in die Verteilung und das Eigentum (wohlfahrtsstaatliche Steuerungsfähigkeit) und Lenkung von Leitbildern sowie von sozialen und ökonomischen Verhaltensmustern (herrschaftssoziologische Steuerungsfähigkeit) – was davon wurde und wird gemacht, was nicht und warum?
Auf dem möglicherweise für die SPD überlebenswichtigen Weg, sich von »marktsozialdemokratischen« Imperativen wieder zu verabschieden, fungiert Scholz als Hemmschuh. Wie seine, womöglich zur Versinnbildlichung des eigenen politischen Anspruchs demonstrierte »sparsame Redeweise« dann doch zeigt, wird hier weiter auf einer Spur gedacht und agiert, die eben nicht auf politisch durchgesetzte (Wieder-)Einbettung kapitalistischer Dynamik hinausläuft, sondern auf das Gegenteil, also einen neoliberalen Aberglauben: Wenn die Wirtschaft nur hinreichend brummt, was durch Entfesselung von Marktkräften – Deregulierung, Kommodifizierung, Privatisierung – erreicht werden soll, dann kommt auch genug rein, was dann zur sozialen Integration verteilt werden kann. In Scholz Worten: »Mit einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik steigen auch die finanziellen Spielräume.«
Ist das so? Oder gilt nicht eher: Mit einer sozialdemokratischen Steuerpolitik würden die gesellschaftspolitischen Spielräume wieder größer? Dazu müsste die Ausrichtung des Fiskalregimes grundlegend verändert werden, auch das Reden darüber, das Framing: Steuern wären dann nicht böse Abgaben, vor denen das Kapital wegläuft und mit denen man Bürger nicht zur Wahl animiert. Sondern sie wären wieder ein »bedeutender Faktor der fiskalischen Zähmung kapitalistischer Dynamik«, ein Hebel zur bewussten Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, einer, um die nötigen Eingriffe in die Eigentumsordnung zu realisieren, einer, um die Grundrichtung der ökonomischen Entwicklung zu steuern.
Keine Naturgewalten, sondern veränderbare Verhältnisse
Und einer, um Demokratie wieder handlungsfähiger zu machen. Wer die Tophits des medial-politischen Empörungsbetriebes genau anhört, weiß darum, wie nötig das in Zeiten der grassierenden politischen Krise ist. Das Vorhaben ist nicht eben ein kleines, alles geschieht unter den Bedingungen einer schon seit Mitte der 1970er Jahre laufenden Wandlung der Steuerstaatlichkeit, der Räumlichkeit von Wertschöpfung und politischem Eingriff (Globalisierung), transnationaler Konzerne, die Steuervermeidung im Umfang ganzer Staatshaushalte betreiben.
Man muss oder eher: man sollte, darauf weist Döpking auch hin, aber nicht so pessimistisch sein wie Wolfgang Streeck, der die »Vollendung des hayekianischen Gesellschaftsmodells der Diktatur einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft« als das »wahrscheinlichste Zukunftsszenario« ansieht. Warum? Weil es sich auch bei Fiskalregimen nicht um Naturgewalten handelt, sondern um politisch veränderbare Verhältnisse. Wer sich im Konsolidierungsstaat verbarrikadiert, wie es Scholz offenbar gegen zunehmende Kritik aus den eigenen Reihen vorhat, zeigt, dass er möchte, dass alles so bleibt wie es ist. Angesichts der kapitalistischen Dynamik heißt das aber in Wahrheit: zuzulassen, dass alles nur noch schlimmer wird.
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