Wirtschaft
anders denken.

Sergej Eisenstein und Das Kapital

13.07.2017
Nahaufnahme Sergej Eisenstein.Foto: wikimediacommonsSergej Eisenstein in den 1910er Jahren.

Wie der Regisseur der Revolution, Sergej Eisenstein, das theoretische Hauptwerk der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx verfilmen wollte.

Am 12. Oktober 1927 notierte der Filmregisseur Sergej M. Eisenstein (1898-1948) in sein Arbeitsheft: »Der Entschluss steht fest, das Kapital nach dem Szenarium von K. Marx zu verfilmen – dies ist der einzig mögliche formale Ausweg.« Was bedeutete diese Eintragung? Eisenstein hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinen ersten drei Filmen Weltruhm erworben. Streik von 1924 thematisierte mit dramaturgisch völlig neuen Mitteln die Niederschlagung eines Industriearbeiterstreiks. Panzerkreuzer Potemkin aus dem Jahr 1925 ging durch sein fesselndes Pathos, die emphatische Montage und eine für herkömmliche Sehgewohnheiten komplett revolutionierte Bildkomposition in die Geschichte ein. Der Film Oktober aus dem Jahr 1928 verknüpfte als Nachstellung der revolutionären Ereignisse von 1917 auf bis dahin unbekannte Art und Weise Faktizität mit symbolischer Bildverstärkung. Geradezu spektakulär prallen in diesem Werk politische und philosophische Standpunkte aufeinander. Noch während der Endmontage dieses Films kam dem 29jährigen Wunderkind Eisenstein die Idee, Das Kapital von Marx zu verfilmen. Es ging ihm darum, seinen politisch-ästhetischen Ansatz weiterzuführen: Er wollte das Publikum mittels einer »intellektuellen Montage« befähigen, in der Schule des Sehens zu einer revolutionären Welthaltung zu gelangen.

Eisenstein ohne sozialistische Revolution ist undenkbar. Sein gesamtes Werk – sowohl die Filme als auch die theoretischen Arbeiten – speiste sich daraus. Der Regisseur kam über eine erschütternde Erkenntnis zur Kunst: Es dürfe nicht sein, dass Kunstwerke in einer elenden Welt das Elend verschönern. Kunstwerke seien nicht dazu da, Pseudolösungen anzubieten. Stattdessen müsse man sich die höchsten Höhen der Hochkultur lernend aneignen. Man müsse also zuerst Meister werden und dann die Tempel der Illusion mit artistischen Mitteln zerstören. Erst nach dem alles verzehrenden Feuer der totalen Desillusionierung könne ein wirklich emanzipatorischer Neubeginn einsetzen.

Aus Sicht der überkommenen Tradition jedoch war es: Wahnsinn.

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Diesen Prozess des Lernens bis zur Meisterschaft und der anschließenden Zerstörung von Illusionen wollte Eisenstein jedoch nicht als planlosen Bildersturm verstanden wissen. Stattdessen ging es ihm darum, Elemente des Fortschritts im Dienste der menschlichen Gesellschaft weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund war das Vorhaben, Das Kapital von Karl Marx zu verfilmen, logisch und folgerichtig. Aus Sicht der überkommenen Tradition jedoch war es: Wahnsinn.

Der Regisseur schrieb ein Szenarium zum theoretischen Hauptwerk der Kritik der politischen Ökonomie. Dies tat er, um den alltagsrelevanten Charakter der darin behandelten Probleme ästhetisch darstellbar zu machen. Eisenstein sah vor, »intellektuelle Attraktionen« zu sammeln und so ein kamerataugliches »Sujet-Rückgrat« zu entwerfen. Dies sollte der Ausgangspunkt für Assoziationsketten sein, mit deren Hilfe grundlegende Kapitel des Hauptwerks von Karl Marx dialektisch dargestellt werden könnten. Literarisches Vorbild für dieses ambitionierte Vorhaben war ihm der formale Aufbau des Romans Ulysses von James Joyce (1922 erschienen), der in achtzehn Episoden einen einzigen Tag – den 16. Juni 1904 – im Leben des Leopold Bloom beschreibt.

Aus allen symbolischen Einstellungen des Films Oktober ging klar und deutlich hervor, warum für Eisenstein die Verfilmung des Kapitals der einzig mögliche formale Ausweg sein konnte. Nur so wäre es möglich, zu einer vollständigen Revolutionierung des Sehens und damit des Denkens zu gelangen. Und nur so ließe sich die Metaphorik dialektisch positionieren. Das zu erreichen war für Eisenstein unverzichtbar. Genau das verfochten John Heartfield in der Fotomontage, Bertolt Brecht im Theater und Hanns Eisler in der Musik. Und genau dem diente auch das Manifest zum Tonfilm, 1928 in der Zeitschrift Shisn Iskusstwo (Leben der Kunst) veröffentlicht, das einen kontrapunktischen Einsatz des Tones und seine scharfe Abgrenzung von visuellen Formen forderte. Trotz ihrer inhaltlichen und formalen Überlegenheit gegenüber herkömmlichen ästhetischen Methoden konnten sich diese Überlegungen nicht durchsetzen. Und auch deshalb präsentiert sich die Ausweglosigkeit unserer Gegenwart in so gravierender ästhetischer Ärmlichkeit. Nicht nur im Film.

Wie hätte die Kapital-Verfilmung also ausgesehen? Der Film hätte zunächst mittels Webstühlen und Straßenbahnen im Verhältnis zur Lage der Arbeiter das Problem der fatalen Modernisierung angesprochen. Die Kulis legen sich auf die Schienen der Straßenbahn, um zu sterben. Vermutlich wären es insgesamt fünf Teile geworden: vom Teller Suppe zum imperialistischen Gerichtsvollzieher. Gestern die britische Kriegsmarine, heute die US-Air Force – und wieder zurück. Ein Sujet wäre der Häuslichkeit der Arbeiter gewidmet, denn das schlimmste Übel des gegenrevolutionären Prozesses ist, dass die Ausgebeuteten und Geschlagenen nie ganz hungrig sind. Das heiße Wassersüppchen bekommt eine weltgeschichtliche Dimension und übernimmt die Funktion der Korruption.

Der Infarkt, der den tendenziellen Fall der Profitrate symbolisiert.

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Dazu die Fabrikantenebene: Der Kampf um die Seide als Farce. Ein zerrissener Frauenstrumpf – eine Zeitung, in der über den Kampf um einen Zentimeter Seidenstrumpf berichtet wird. Schließlich im Streit liegende Seidenstoffproduzenten. Der Infarkt, der den tendenziellen Fall der Profitrate symbolisiert. Ein bis aufs Messer ausgetragener Konflikt um Geld und die Senkung der Kosten zwischen den Produzenten führt schließlich zur Anhäufung stofflichen Reichtums und zur Verarmung der als unbrauchbar verachteten Besitzlosen.

Im letzten Teil des Films ist die Suppe fertig. Eine Suppe ohne Nährwert plus Neo-Getränk. Der Ehemann kommt nach Hause. Er ist aufgebracht ob seiner sozialen Lage. Die heiße Wassersuppe verwässert jedoch versöhnlerisch sein Pathos. Blutige Zusammenstöße drohen. Doch das Schlimmste an allem ist soziale Gleichgültigkeit, die sozialem Verrat gleichkommt. Blut, Zerstörung, Heilsarmee, ein alles zerstörendes Feuer. Der Ehemann umarmt das Skelett seiner Frau. Die sorgfältig gestopfte Bettdecke strafft sich. Überraschung – denn die Frau reicht dem Mann ein billiges Zigarettchen. Sentimentalität nach all dem Schrecklichen, was passierte, ist umso entsetzlicher. Die Decke gestrafft, statt des Schönheitsschlafes oder gar der Rumhurerei folgt die Abblende. Die allgemeine Lösung sollte nach der Vorstellung des Regisseurs so lakonisch wie möglich ausfallen.

Eisenstein konnte dieses und andere Projekte nicht realisieren. Am nächsten kam seinen Vorstellungen Erich von Stroheims Film Greed – Gier nach Geld (1923) und später Das gelobte Land (1976) von Andrzej Wajda. Alexander Kluges experimenteller Versuch der Nachahmung in dem Essayfilm Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital (2008) entspricht hingegen nicht annähernd den Intentionen des ursprünglichen Entwurfes.

: Es dürfe nicht sein, dass Kunstwerke in einer elenden Welt das Elend verschönern.

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Leben

Sergej Michailowitsch Eisenstein wurde am 23. Januar 1898 in Riga geboren. Der Vater war Rigaer Stadtarchitekt und Staatsrat, die Mutter eine Kaufmannstochter. Nach Ingenieursstudium und Dienst in der Roten Armee stieg Eisenstein ab 1920 in die Bühnenarbeit ein und lernte Regie und Dramaturgie bei Wsewolod Meyerhold. Filmerfolge mit Streik, Panzerkreuzer Potemkin und Oktober, danach Auslandsaufenthalte in Westeuropa.

Vierjährige Arbeit (mit Unterbrechungen) an dem lange unterschätzten Kollektivierungsfilm Die Generallinie (1926-1929). Auf Einladung der Paramount ging Eisenstein 1930 in die USA und versuchte anschließend Que viva Mexico! zu realisieren, was 1933 endgültig abgebrochen wurde und heute nur als Fragment vorhanden ist. Rückkehr in die UdSSR und Übernahme der Regie von Die Beschinwiese (1935/37), der von der Stalinschen Filmbürokratie nicht zugelassen und vernichtet wurde.

1938 patriotisches Epos Alexander Newski zur Warnung vor deutschen Aggressionsplänen. Während des Krieges in Alma Ata Arbeit an Iwan der Schreckliche (Teil 1: 1945, Teil 2: 1946, der wegen möglicher Parallelen zwischen zaristischer und Stalinscher Gewaltherrschaft erst 1958 aufgeführt wurde).

Daneben intensive Lehrtätigkeit zu Film- und Theaterfragen mit umfangreichem theoretischem Werk. Am 11. Februar 1948 erlag Eisenstein einem Herzinfarkt.

Schriften

Sergej Eisenstein: Ausgewählte Aufsätze. Mit einer Einführung von R. Jurenew. Aus dem Russischen übersetzt von Lothar Fahlbusch. Henschelverlag, Berlin (O) 1960.

Sergej M. Eisenstein: Schriften. 4 Bände. Hg. von Hans-Joachim Schlegel. Hanser, München u. a. 1974-1984; Band 1: Streik (= Reihe Hanser. Bd. 158). 1974, Band 2: Panzerkreuzer Potemkin (= Reihe Hanser. Bd. 135). 1973, Band 3: Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx‘ Kapital (= Reihe Hanser. Bd. 184). 1975, Band 4: Das Alte und das Neue (Die Generallinie). Mit den Notaten eines Vertonungsplanes und einem Briefwechsel mit Wilhelm Reich im Anhang, Hanser 1984. Die Bände 5 und 6 sind nicht erschienen.

Medien

2005 wurde Panzerkreuzer Potemkin als Projekt der Kulturstiftung des Bundes unter der Leitung des Filmhistorikers und ehemaligen Direktor des Münchner Filmmuseums Enno Patalas aufwendig restauriert. Das British Film Institute in London erarbeitete eine englischsprachige Fassung. Dieser und weitere Eisenstein-Filme werden von der Deutschen Kinemathek – Filmmuseum Berlin, für Vorführungen leihweise zur Verfügung gestellt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der November2016-Ausgabe von OXI.

Geschrieben von:

Detlef Kannapin

Politiktheoretiker

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