Wirtschaft
anders denken.

Solidarität ist Zukunft!

05.05.2021
Klaus Dörre am Rednerpult vor dem Transparent Solidarität ist ZukunftFoto: Hansi Volkmann

Von der Pandemie zur Zukunft der nachhaltig-solidarischen Gesellschaft. OXI dokumentiert die Rede von Klaus Dörre zum 1. Mai 2021 auf der Braunschweiger DGB-Kundgebung.

Liebe Kolleg:innen,

es ist der 1. Mai und schon wieder redet ein Soziologe. Ich gestehe, ich habe noch genauso viele Manschetten wie beim letzten Mal. Egal, die Zeiten sind nicht so, dass Wissenschaftler im Elfenbeinturm bleiben können. Deshalb freue ich mich und empfinde es als eine große Ehre, heute erneut zu euch sprechen zu dürfen. Ich empfinde es als eine besondere Ehre, nach einem Betriebsratsvorsitzenden sprechen zu dürfen, der mit seiner Belegschaft um den Betrieb und die Arbeitsplätze kämpft. Es ist noch nicht lange her, da haben wir ein Papier von Wirtschaftsminister Althaus gelesen, es müsse Industriepolitik gemacht werden, um strategisch wichtige Unternehmen zu halten. Herr Althaus, machen Sie zukunftsorientierte Industriepolitik. Seien Sie solidarisch. Helfen Sie, das Alternativkonzept von IG Metall und Belegschaft umzusetzen. Tragen Sie Ihren Teil dazu bei, den Traditionsbetrieb Zollern BHW zu sichern. Andernfalls ist Ihre Industriepolitik das Papier nicht wert, auf dem sie niedergeschrieben ist.

I.  Arbeitskampf in der Pandemie

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vier Jahre liegt meine erste Braunschweiger Mai-Rede nun zurück. Damals habe ich behauptet, dass wir eine Zeitenwende erleben. Ich hätte mir aber nicht träumen lassen, dass ein Virus eine weltweite Pandemie auslöst, die bis zum heutigen Tag mehr als 3 Millionen Tote gefordert hat und die dazu führt, dass es alles andere als selbstverständlich ist, wenn wir heute hier stehen und öffentlich den 1. Mai feiern.

Ich weiß, dass manch überzeugte Gewerkschafter:innen sich fragen, ob es richtig ist, in Zeiten der Pandemie öffentlich zu demonstrieren. Selbstverständlich kann man da unterschiedlicher Meinung sein. Aber sollen wir Straßen und Plätze querdenkenden Verwirrten überlassen? Nein, das machen wir nicht! Wir demonstrieren heute mit Anstand, Abstand, Maske und solidarisch! Damit setzen wir ein Zeichen. Der Staat der Pandemie ist ein Staat, der im Rahmen der Verfassung, ich betone: im Rahmen der Verfassung Grundrechte einschränkt, um eine lebensgefährliche Seuche zu bekämpfen. Die einzige Legitimation für die Einschränkung von Grundrechten ist die Pandemie. Sobald die Seuche vorüber ist, fordern wir unsere Freiheiten in vollem Umfang zurück! Und wo möglich und nötig nehmen wir diese Grundrechte auch schon während der Pandemie wahr. Demokratie benötigt Öffentlichkeit, Opposition, Streit, Disput, Versammlungen, Demonstrationen und Streiks. Diese Grundrechte müssen dauerhaft gesichert bleiben – trotz Krisen jeglicher Art!

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es gut, dass im Jahr der Pandemie kaum weniger Streiks stattgefunden haben als in den Jahren zuvor. Die Gewerkschaften haben Stärke und vor allem Fantasie bewiesen. Unter schwierigsten Bedingungen haben sie gezeigt, dass sich Tarifrunden und Streiks auch online organisieren lassen. Sie haben gezeigt, dass sie sich mit smarten Formen des Arbeitskampfs auf neue Bedingungen einstellen können. Von wegen Dinosaurier des Industriezeitalters. Mit den Gewerkschaften ist zu rechnen – auch und gerade im digitalisierten Kapitalismus!

II. Solidarität mit antirassistischen Kämpfen

Klar ist aber auch, dass wir keine gemeinsame Sache mit denen machen, die Covid-19 bagatellisieren, die den Klimawandel leugnen, Wissenschaft in Frage stellen und auf diese Weise zur Zerstörung der Vernunft beitragen. Erinnert euch: Es war Donald Trump, den ich bei meiner letzten Braunschweiger Rede als Beleg für die Behauptung einer Zeitenwende genannt hatte. Tatsächlich hat Trump seinen Neusprech nach dem Motto „Wahrheit ist Lüge“ bis zu einem Punkt vorangetrieben, den kaum jemand für möglich gehalten hätte. Seine Wahrheitsverdrehungen, die an George Orwells 1984 erinnern, mündeten in die Behauptung, die Wahlniederlage sei in Wahrheit in Wahlsieg! Ein faschistoider Mob nahm das beim Wort und stürmte mit Waffengewalt das Kapitol. Das war ein Frontalangriff auf die Demokratie. Aber dieser Angriff ist abgewehrt. Donald Trump ist nicht mehr Präsident der USA! Seine rassistische Nekropolitik, die das Virus relativiert, weil die Krankheit vor allem die Ärmsten und damit hauptsächlich people of colour trifft, ist gescheitert. Mit Joe Biden wird nicht alles gut, aber der menschengemachte Klimawandel wird nicht mehr geleugnet. Billionen Dollar werden investiert, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie zumindest abzumildern. Das ist ein Schritt nach vorn. Es ist vor allem ein Triumph von Bewegungen wie Black Lives Matter. Ein Triumph, zu dem Gewerkschafter:innen maßgeblich beigetragen haben.

Wir alle erinnern uns an die schrecklichen Bilder mit den Todesqualen von George Floyd. Zu Tode drangsaliert durch einen rassistischen Polizisten. Wir haben aber auch die machtvollen Proteste miterlebt, die dieser Polizistenmord weltweit ausgelöst hat. Nun ist der Täter verurteilt und wird bestraft. Das zeigt, was Solidarität bewirken kann. Es zeigt, dass systemischer Rassismus erfolgreich zurückgedrängt werden kann.

Klaus Dörre hebt am Rednerpult die Hand
Foto: Hansi Volkmann

III. Marktradikale Wirtschaftspolitik hat versagt, die Zukunft braucht einen Paradigmenwechsel

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte uns ermutigen! Solidarität ist Zukunft! Auch bei uns und in unserer Gesellschaft. Der Umgang mit Covid-19 macht vor allem klar: Bei uns gibt es vieles, was grundlegend verändert werden muss. Wie unter einem Brennglas hat die Pandemie alle Unsicherheiten und Ungleichheiten sichtbar gemacht, die ein ungezügelter Kapitalismus seit langem mit sich bringt. Privatisierungen und die finanzielle Ausblutung der Gesundheitssysteme haben die sozialen Sicherungen in vielen Ländern derart geschwächt, dass Covid-19 zu einer ernsten Bedrohung selbst der ökonomischen Globalisierung werden konnte. Die Auswirkungen sind schon jetzt erschreckend. Einige wenige Fakten aus dem Bericht der Vereinten Nationen zur Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele mögen das illustrieren:

  • Covid-19 sorgt dafür, dass erstmals seit Jahrzehnten sämtliche Formen der Armut wieder zunehmen. 2020 sind 71 Mio. Menschen zusätzlich in extreme Armut getrieben worden; vier Mrd. Menschen verfügten über keinerlei Sozialschutz. Auch die Bekämpfung des Hungers ist ins Stocken geraten.
  • Die Geschlechtergleichstellung leidet. Mit Ausgangssperren nimmt das Gewaltrisiko für Frauen und Mädchen zu. Zudem sind Frauen wegen der Pandemie mit Hausarbeit zusätzlich belastet. Durchschnittlich stellen Frauen 70 Prozent des Personals in den Gesundheits- und Pflegediensten, das von Ansteckung besonders bedroht ist.
  • Weltweit kann die Wirtschaftskrise, die der Pandemie folgt, bis zu 400 Mio. Arbeitsplätze kosten; 1,6 Mrd. Menschen in der Schattenwirtschaft sind existenziell bedroht.

Das zeigt: Die Pandemie ist ein globales Problem. Sie lässt sich nur solidarisch und global bekämpfen. Im Moment ist eher das Gegenteil der Fall. Aller Solidaritätsbekundungen zum Trotz haben sich ganze zehn Staaten 76 Prozent des verfügbaren Impfstoffs gesichert. 85 einkommensschwache Länder werden möglicherweise erst nach Jahren mit der Immunisierung ihrer Bevölkerungen beginnen können. Das erhöht die Gefahr von Mutationen, die sich gegenüber den Impfstoffen als resistent erweisen. Offenbar ist ein gewinnorientiertes Gesundheitssystem nicht in der Lage, Impfstoffe als öffentliches Gut zu behandeln, um dem Vorrang der Gesundheit weltweit Geltung zu verschaffen. Ich muss es offen aussprechen: Diese Art von Kapitalismus ist für viele Menschen zu einem unkalkulierbaren Risiko und damit lebensgefährlich geworden. Gut möglich, dass sich in Zukunft immer weniger Menschen mit diesem Risiko abfinden wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil schon vor der Pandemie vieles im Argen lag, wollen wir nicht einfach zurück zur Normalität. Wir wollen eine solidarische und deshalb zukunftsfähige Gesellschaft. Wollte ich alles aufzählen, was besser werden muss, könnte ich bis heute Abend sprechen. Ich nenne beispielhaft aber einige Zukunftsthemen, an denen angesetzt werden muss.

Da sind erstens die vielzitierten Helden des Alltags. Erinnern wir uns an den Anfang der Pandemie. Plötzlich waren sie in aller Munde und wurden gefeiert – das Personal in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen, die Kassiererin im Supermarkt, der Busfahrer, die Altenpflegerin und die Erzieher:innen im Hort. Ihnen allen sollte in Zukunft Gerechtigkeit widerfahren. Was ist davon eingelöst? Wenig bis nichts! Es gab eine Prämie – und die auch nur für einen Teil der Pflegekräfte. „Ein bisschen Kleingeld, in den Ausschnitt gesteckt“, kommentierte das eine feministische Journalistin sarkastisch. So geht das nicht! Was die Kolleg:innen in den Pflegeberufen und sozialen Diensten, aber auch im Einzelhandel oder im Öffentlichen Nahverkehr und vielen anderen Berufen brauchen, ist endlich die Anerkennung, die sie verdienen – materiell und ideell! Das geht nicht ohne Tarifvertrag. Wir brauchen endlich einen verbindlichen Tarifvertrag in der Sozialwirtschaft und in den Gesundheitsberufen, der für alle gilt und Lohnkonkurrenz ausschließt! Es ist das Gegenteil von Solidarität, wenn ausgerechnet kirchliche Träger einen solchen Tarif verhindern. Deshalb dürfen wir da nicht lockerlassen. Wir fordern eine Aufwertung aller sorgenden, pflegenden, erziehenden, bildenden Berufe. Das ist dann auch ein Schritt zur Überwindung des Gender-pay-Gap und zur Beseitigung niedrig entlohnter, prekärer Arbeit.

Ist das zu bezahlen? Diese Frage bringt mich zum zweiten Zukunftsthema, der Wirtschaftspolitik. Geht nicht, können wir nicht machen, ist nicht bezahlbar – wer kennt es nicht, das ewig gleiche Lied von den leeren Kassen, der schwarzen Null und dem Schuldenmachen des Staates, was angeblich einer Todsünde gleichkommt. Und nun? Tempi passati! Der Corona-Staat – das ist seine andere Seite – interveniert in die Wirtschaft. Er kann gar nicht anders. Zum zweiten Mal innerhalb von gut zehn Jahren müssen große Unternehmen mit Steuergeldern gerettet werden. Der Staat interveniert als Ressourcenbeschaffer, Planer und Finanzier von Infrastruktur und – im besten Falle – als Beschleuniger sozial-ökologischer Innovationen. Haushaltdisziplin und schwarze Null – Schnee von gestern! Schuldenmachen – völlig angesagt.

Richtig so, möchte man sagen. Wir müssen aber damit rechnen, dass man uns nach dem Ende der Pandemie die Quittung präsentiert. Schon jetzt ist aus dem Arbeitgeberlager manche Kampfansage zu hören. Die IG Metall, so heißt es aus dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall, solle auf „Höchstkonditionen“ verzichten, Krisenbetrieben mehr Ausnahmeregelungen bieten und Tagesstreiks unterlassen. Geschehe das nicht, müsse die Gewerkschaft mit dem Ende des Branchentarifs rechnen: „[…] wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlassen, kann die Gewerkschaft zusehen, wie sie sich im Häuserkampf durchschlägt“. Andere Stimmen klingen noch radikaler. (So haben Wirtschaftsvertreter in den neuen Ländern gefordert, die Kernarbeitsnormen der ILO außer Kraft zu setzen.) Das ist eine Kampfansage!

Dagegen können unsere Forderungen nur lauten:

  • Wirtschaftlicher Paradigmenwechsel statt Rückkehr zur Schuldenbremse und zur schwarzen Null! Die marktradikale Wirtschaftspolitik hat versagt, ein grundlegender Politikwechsel muss her. Öffentliche Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau müssen her. Nur das wird neue, krisenfeste Jobs schaffen. Insgesamt 1,8 Billionen Euro wollen die Mitgliedsstaaten der EU bis 2027 aufwenden, um die Wirtschaft neu aufzubauen. Immerhin 30 Prozent der Gelder sollen für grüne Investitionen ausgegeben werden. Zur Finanzierung des Green Deal nehmen die Länder erstmals gemeinsame Schulden auf. Das schien einen Paradigmenwechsel in der europäischen Union anzudeuten. Doch schon drohen die Programme verwässert zu werden. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir alle gefragt: Wir brauchen industrie- und wirtschaftspolitische Fantasie in den Regionen. Wir müssen den Regierenden auf die Finger schauen und dafür sorgen, dass die Gelder an die richtige Stelle gelangen und in Branchen mit Jobs für die Zukunft fließen. Das geht am besten mit regionalen Wirtschafts- und Strukturräten oder besser mit: Nachhaltigkeits- und Transformationsräten, in denen die demokratische Zivilgesellschaft etwas zu sagen hat.
  • Und auch zur Finanzierung haben wir gute Ideen. Wir empfehlen eine gerechte Steuerpolitik. Eine Reichensteuer mit Einmalabgabe auf große Vermögen. Eine Tobin Tax, die spekulative Finanztransaktionen wirklich besteuert und so weniger attraktiv macht. Eine progressive Einkommenssteuer, denn die großen Portemonnaies müssen mehr zum Gemeinwesen beitragen als die kleinen. Und es gäbe da noch etwas, was anzupacken wäre: ein Erbschaftsrecht, das große Vermögen in ein Eigentum auf Zeit verwandelt. Dieser Vorschlag stammt von dem bekannten Ökonomen Thomas Piketty. Und der Vorschlag hat was. Warum sollen vermögende Erben davon profitieren, was inzwischen ein weltweites Heer von 3,6 Milliarden Menschen herstellt. Das Vererben großer Vermögen ist nicht mehr zeitgemäß, wir sollten uns daran machen, andere Lösungen zu finden. Dabei geht es gar nicht um Um-, sondern um Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums hin zu denen, die ihn mit ihrer Arbeit überhaupt erst geschaffen haben!
  • Und noch etwas möchte ich anfügen: Das Forschungsinstitut SIPRI hat festgestellt, dass die Rüstungsausgaben trotz Pandemie weltweit ein neues Rekordniveau erreicht haben. Das ist wirklich skandalös, denn wir wissen: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Die nächste Seuche kommt bestimmt. Dagegen würde nur ein weltweites Präventionssystem helfen, das aber teuer ist. Will man ein solches Präventionssystem, müssen die Rüstungsausgaben drastisch beschnitten werden. Ständige Aufrüstung oder weltweiter Gesundheitsschutz lautet die Entscheidungssituation vor der wir stehen: Deshalb liebe Kolleginnen und Kollegen: Besser als bewaffnete Drohnen nicht anzuschaffen und nicht einzusetzen, weil sie die Schwelle zum Krieg senken, wäre, sie gar nicht erst herzustellen! Dazu benötigen wir Einfluss auf Entscheidungen über das Was, Wie und Wozu der Produktion. Wir wollen mehr Wirtschaftsdemokratie wagen! Dann würde nicht geschehen, was Großkonzerne wie die Lufthansa praktizieren. Sie nehmen Milliarden vom Staat, um dann Beschäftigte zu entlassen. Viele Konzerne benutzen die Pandemie als Vorwand, um Verlagerungspläne durchzusetzen, die schon lange in der Schreibtischschublade liegen. Wenn schon Milliarden in die Wirtschaft fließen, dann muss das gestoppt werden. Zum Beispiel, indem man Staatsgelder nutzt, um Belegschaften zu verantwortlichen Kollektiveigentümern des Unternehmens zu machen.

Das bringt mich zum dritten Zukunftsthema, zur digitalen Ökonomie. Die Big Five (Google, Apple, Facebook, Microsoft und Amazon) der digitalen Ökonomie sind die Gewinner der Pandemie. Amazon hat den Gewinn in der Coronakrise verdreifacht, wie der SPIEGEL berichtet.

Der Gewinn im ersten Quartal des Jahres stieg auf 8,1 Milliarden Dollar (rund 6,7 Milliarden Euro) an. Der Umsatz stieg im Vergleich zum Vorjahresquartal um 44 Prozent auf 108,5 Milliarden Dollar. Damit wurden die Erwartungen von Analysten klar übertroffen. Anlieger reagierten entsprechend positiv: Der Aktienkurs von Amazon stieg im nachbörslichen Handel um zunächst mehr als fünf Prozent an.

Und die Mitarbeiter:innen? Man ist von Amazon schon einiges gewöhnt. Das Unternehmen funktioniert wie eine Wertschöpfungsgemeinschaft. Was gut für das Unternehmen ist, soll auch gut für die Mitarbeitenden sein. Man duzt Kolleg:innen und auch die Führungskräfte. Doch wenn es um Beschäftigteninteressen geht, stellt man um auf bissigen Hund.

Das jüngste Beispiel: Der Onlinehändler Amazon hat nach Recherchen von NDR, WDR und SZ Mitarbeiter:innen in einem Werk in Norddeutschland verboten, während der Arbeitszeit FFP2-Masken zu tragen. Der Grund sind offenbar häufigere Pausen, die Beschäftigte benötigen, weil sich mit den besten Masken schlechter atmen lässt. Diese Pausen will das Unternehmen nicht bezahlen. Milliardengewinne auf der einen Seite, Abwälzung des Gesundheitsrisikos auf die Beschäftigten, auf jene, die den Profit erwirtschaftet haben, auf der anderen Seite. Das ist die höchst unschöne neue Welt der digitalen Ökonomie.

Amazon ist nur ein Beispiel von vielen: In der gesamten Plattformökonomie geht es oftmals zu wie im wilden Westen, schreibt die stellvertretende IGM-Vorsitzende Christiane Benner. Sie hat recht und manchmal ist es noch schlimmer. Denn der Einsatz digitaler Technik erlaubt eine Industrialisierung geistiger Arbeit. Mit Hilfe einer Zerlegung von Arbeitsschritten in überschaubare Pakete, der Ausschreibung von Aufträgen und Global Sourcing wird die anonyme Masse (Crowd) selbstständiger Softwareentwickler als Arbeitskräftepotential nutzbar. Industrialisierung geistiger Arbeit im Inneren der Unternehmen bedeutet, dass auch anspruchsvollste Tätigkeiten austauschbar werden. Zwischen dem Innen und dem Außen von Ingenieursarbeit vermittelt die Cloud. Sie ermöglicht, dass die Stammbelegschaft des Unternehmens beständig mit äußeren Leistungsanbietern konkurriert. Selbiges geschieht mit dem Effekt, dass die externen Arbeitskräfte die internen disziplinieren und zur Leistungssteigerung animieren.

Diesem Trend zu digitaler Tagelöhnerei muss Einhalt geboten werden. Wir brauchen elementare Schutzrechte für das Arbeiten im Netz. Auch die Digital-Konzerne müssen Steuern zahlen – und zwar dort, wo ihre Filialen stehen. Aber das reicht nicht: Wissensmonopole der Big Five müssen zerschlagen werden. Wissen ist keine Ware wie jede andere. Wissen hat zuerst einen Wahrheitswert. Wird es künstlich verknappt, um Gewinn zu machen, leidet sein Wahrheitswert. Deshalb muss einem Geschäftsmodell, das darauf gegründet ist, unbezahlte Datenarbeit von uns allen anzueignen, um die Daten z.B. für immer passgenauere Werbung zu nutzen, ein Riegel vorgeschoben werden. Das Netz ist ein öffentliches Gut, der Zugang für alle muss gesichert werden. Und das geht nur, wenn die Big Five einen Gutteil ihrer Macht verlieren. „Digitaler Sozialismus“ (Evgeny Morozov) statt Überwachungskapitalismus ist das Gebot der Stunde.

Dazu werden die Gewerkschaften beitragen. Nötig ist ein langer, zäher Kampf. Das zeigt der Streik bei Amazon. Seit Jahren kämpft Ver.di für einen Einzelhandelstarif, der deutlich besser als der Logistik-Tarif ist. Das Unternehmen weigert sich trotz der satten Profite, der Forderung Folge zu leisten. Doch die Gewerkschaften geben nicht klein bei. Die Arbeitskämpfe werden international. Ver.di arbeitet, etwa in Polen, mit kleinen Basisgewerkschaften zusammen.

In Italien fand der erste Streik bei Amazon statt, der die ganze Logistikkette betraf. Am 24-stündigen Streik beteiligte sich nicht nur das direkt angestellte Amazon-Personal, auch die Lieferboten waren dabei. Die Mitarbeiter des gesamten Logistiknetzes rund um Amazon legten die Arbeit nieder. Sie forderten eine geringere Arbeitsbelastung, weniger Arbeitsstunden und mehr Geld für den Einsatz der Lieferboten in Zeiten der Coronapandemie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, so wird das gemacht! Und demnächst nicht nur bei Amazon, sondern überall, wo das Tönnies-Prinzip herrscht. Das Tönnies Prinzip gilt nicht nur in den Schlachthöfen. Es findet sich überall, wo Tiefstpreise für Güter des täglichen Bedarfs durch Überausbeutung und prekäre Arbeit entlang der Wertschöpfungsketten ermöglicht werden. Solidarität heißt: Schluss mit dem Tönnies-Prinzip. Schluss mit Niedrig- und prekärem Lohn, von dem allein hierzulande ein Fünftel der Beschäftigten betroffen ist. Solidarität heißt Schluss mit Mini- und Midi-Jobs. Schluss mit ungerechtfertigter Befristung von Arbeitsverhältnissen, die kein Mensch braucht. Schluss mit beengten Wohnverhältnissen, mit Höchstmieten, die durch Immobilienspekulation entstehen. Schluss mit prekärer Armut und prekärem Leben – in der Fabrik, dem Büro und auch in Hochschule und Universität. Das ist im Übrigen der beste Gesundheitsschutz, denn nun wissen wir: Das Virus wirkt vor allem dort, wo Armut und Enge zuhause sind!

IV. Klimawandel ist ein Gerechtigkeitsproblem

Liebe Kolleginne und Kollegen, irgendwann, so hoffen und wünschen wir uns alle, wird die Pandemie vorbei sein. Doch dann werden wir wieder spüren: Hinter der Corona-Pandemie lauert eine andere, wahrscheinlich noch gefährlichere Krise. Ich nenne sie ökonomisch-ökologische Zangenkrise. Damit ist gemeint, dass wir mit unserer Art des Wirtschaftens schnurstracks auf einen Klimakollapps zusteuern. Die klimaschädlichen CO2-Emissionen, den Energie- und Ressourcenverbrauch der Gegenwart in die Zukunft verlängert, steuern wir auf ein Erderhitzungsszenario von 3,5, 4 oder gar 4,5 Grad zu, das große Teile des Planeten unbewohnbar machen würde. Noch ist Zeit, umzusteuern. Aber die Zeitbudgets schrumpfen. Die Ziele der aktuellen Bundesregierung sind – wie jetzt auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat – viel zu wenig ehrgeizig. Das ist eine Versündigung an den nachwachsenden Generationen. Künftig muss sich jede Politik daran messen lassen, ob die Emissionen sinken, der Ressourcen- und Energieverbrauch abnimmt und der gesellschaftliche Wohlstand möglichst allen und auch künftigen Generationen zur Verfügung steht.

Ich will nicht verschweigen, dass dies große Belastungen mit sich bringen wird. Bis 2040 werden 5,3 Millionen Arbeitsplätze wegfallen, aber auch 3,6 Mio. neu entstehen, schätzt das Bundesarbeitsministerium. Aber es hilft uns nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Wenn man die sozialökologische Transformation aufschiebt, holen einen die Probleme anschließend umso heftiger ein.

Wir müssen sehen: Der Klimawandel ist vor allem ein Gerechtigkeitsproblem. Während die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung mit ihren luxuriösen Lebensstilen 2015 sage und schreibe 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verursachten, waren die untersten 50 Prozent nur für 10 Prozent verantwortlich. Betrachten wir EU-Europa, so sehen wir: Zwar wurden unionsweit seit 1990 ca. 25 Prozent der Emissionen eingespart, doch dies ist ausschließlich das Verdienst einkommensschwächerer Haushalte. Während die Emissionen des reichsten ein Prozents der Haushalte zwischen 1990 und 2015 um fünf Prozent und die des einkommensstärksten Dezils um drei Prozent gestiegen sind, haben sie bei den ärmsten 50 Prozent der Haushalte um 34 Prozent abgenommen. Während das reichste ein Prozent in Deutschland nichts einsparte, reduzierte die untere Hälfte ihre Emissionen um ein Drittel. Das heißt: Luxusproduktion und Luxuskonsum der oberen Klassen sind zu einer Haupttriebkraft des Klimawandels geworden. Darunter leiden weltweit vor allem die ärmsten Bevölkerungsgruppen. Dieses Gerechtigkeitsproblem schreit geradezu danach, von Gewerkschaften und ökologischen Bewegungen aufgegriffen und skandalisiert zu werden.

Wir alle benötigen ein Umsteuern auf langlebige Produkte und nachhaltige Dienstleistungen. Die kosten in der Regel mehr Geld. Lohn- und Einkommensgerechtigkeit ist deshalb ein Nachhaltigkeitsziel. Ökologische ist ohne soziale Nachhaltigkeit, ohne Klimagerechtigkeit nicht zu haben. Das bedeutet: Löhne rauf, damit sich auch die kleinen Portemonnaies hochwertige Produkte leisten können. Arbeitszeit runter und gerecht verteilen, damit wir uns alle ein gutes Leben leisten können. Und da tut sich ja Erstaunliches. Vor die Wahl gestellt, ob mehr Geld oder zusätzliche freie Zeit, haben bei den Eisenbahnern 60 Prozent freie Zeit gewählt. Bei Ver.di und der IGM gibt es Ähnliches. Das ist bemerkenswert und zeigt, auf welche Weise Nachhaltigkeit erstritten werden kann.

Um die Nachhaltigkeitsrevolution voranzutreiben, die wir alle so dringend benötigen sind neue Bündnisse und Allianzen erforderlich. Die Klimabewegungen sind nicht unsere Gegner. Im Gegenteil. Ein Beispiel aus dem Organisationsbereich von Ver.di: Zur Verkehrswende gehört ein preiswerter ÖPNV. Aber billige Tarife dürfen nicht auf dem Rücken der Kolleginnen und Kollegen ausgetragen werden. Deshalb hat die Klimabewegung in mehr als 25 Städten die Tarifbewegung im Öffentlichen Personennahverkehr unterstützt. Und Ver.di hat die Tarifrunde bewusst als Kampf für Klimagerechtigkeit angelegt! Das ist, was wir brauchen: Mehr Aufmerksamkeit für Arbeitsthemen in den ökologischen Bewegungen, aber auch größere Offenheit für die ökologischen Nachhaltigkeitsziele der ökologischen Bewegungen in den Gewerkschaften!

V. Feminismus der 99 Prozent ist die Zukunft

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gewaltige Aufgaben liegen vor uns. Die meistern wir nur, wenn wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Weil das so ist, möchte ich abschließend aus einem Manifest zitieren, das – für einen ersten Mai und eine gewerkschaftliche Abschlusskundgebung vielleicht ungewöhnlich – aus einer feministischen Perspektive argumentiert. Meine Kolleginnen Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser beschreiben in ihrem beispielhaften Manifest „Feminismus für die 99%“ einen Politikansatz, der ein kritisches Verhältnis zu allen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung einschließt: „Der Feminismus, der uns vorschwebt, verzichtet auf halbherzige Maßnahmen und ist bestrebt, die kapitalistischen Ursachen einer metastasierenden Barbarei anzugehen. Indem er sich weigert, das Wohlergehen der vielen der Freiheit der wenigen zu opfern, verteidigt er die Bedürfnisse und Rechte der vielen – von armen Frauen und Frauen aus der Arbeiterklasse, von rassifizierten und migrantischen Frauen, von Queer-, Trans- und körperbehinderten Frauen, von Frauen, die man ermutigt, sich zur Mittelschicht zu zählen, obgleich das Kapital sie ausbeutet. Doch damit nicht genug. Dieser Feminismus beschränkt sich nicht auf Frauenthemen, wie man sie traditionell definiert hat. Er vertritt die Sache aller, die ausgebeutet, beherrscht und unterdrückt werden, und hofft, eine Hoffnungsquelle für die gesamte Menschheit zu sein. Deswegen sprechen wir von einem Feminismus für die 99 Prozent.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passt doch zu uns. Das könnten wir doch aus einer gewerkschaftlichen Perspektive ganz ähnlich formulieren. An einem solchen Feminismus haben wir nicht das Geringste zu kritisieren. Im Gegenteil: Die Frauenstreikbewegung, auf die sich das Manifest bezieht, zeigt uns: Solidarität ist Zukunft. Wenn wir das beherzigen, öffnen wir das Tor zu einer neuen, einer sozial und ökologisch nachhaltigen und deshalb besseren Welt! Dafür lasst uns kämpfen, gemeinsam, solidarisch und mit langem Atem!

Herzlich Dank und Glückauf!

Geschrieben von:

Klaus Dörre

Professor für Soziologie

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