Wirtschaft
anders denken.

»Sozialer Arbeitsmarkt«: Jamaika-Parteien sondieren, Experten diskutieren

03.11.2017
Bernd Schwabe in Hannover, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Experten gehen »dauerhaft von einigen 100.000 Personen« aus, die in der normalen Lohnarbeitsmühle keine Chance haben – weshalb nun die Debatte über öffentliche Beschäftigung wieder lauter wird. Auch bei den Jamaika-Sondierungen steht das Thema »sozialer Arbeitsmarkt« auf dem Zettel.

Michael Müller leitet an diesem Freitag seine erste Bundesratssitzung. Dazu gehört eine Antrittsrede – einen Vorgeschmack hatte der SPD-Politiker bereits vergangenes Wochenende in einem langen Zeitungsbeitrag gegeben, darin schlug er unter anderem »ein solidarisches Grundeinkommen« für Menschen vor, die entweder schon lange erwerbslos sind oder wegen der technologisch getriebenen Umwälzungen ihre Stellen verlieren, dann aber soziale Tätigkeiten unter öffentlicher Regie ausüben sollen.

Müller steht nicht allein mit der Forderung nach etwas, was man je nach Ausgestaltung einen Öffentlichen Beschäftigungssektor oder Bürgerarbeit nennen könnte. Der Evangelische Pressedienst hat jetzt den Arbeitsmarktforscher Matthias Knuth mit den Worten zitiert, eine radikale Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik sei nötig, da man »dauerhaft von einigen 100.000 Personen ausgehen« müsse, »die für eine vorzeitige Rente zu gesund, für eine Altersrente zu jung und für den Arbeitsmarkt zu krank sind«. Für diese Menschen biete »die derzeitige Aktivierungsphilosophie der Jobcenter keine Perspektive«, wird der Forscher vom Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen wiedergegeben – Knuth sieht einen »sozialen Arbeitsmarkt« als nötig an, »auf dem Langzeitarbeitslose Beschäftigung und wieder gesellschaftliche Anerkennung finden«, wie es die Nachrichtenagentur formuliert. Wie Knuth sich so einen sozialen Arbeitsmarkt vorstellt, verrät diese Präsentation einer Veranstaltung beim DGB im Frühjahr dieses Jahres.

Zahl der Langzeiterwerbslosen seit Jahren sehr hoch

Sei 2012 sind offiziell rund eine Million Langzeiterwerbslose registriert, ihre Zahl ist fast unverändert. Das wird in den Jubelnachrichten über die Entwicklung auf dem Erwerbsmarkt meist nicht an erster Stelle genannt. Dis bisherige Strategie der Jobcenter lautet »Fördern und Fordern«, wobei letzteres durch entsprechenden Druck geschieht, ersteres aber wenn dann ohne Erfolg, wie die Zahlen zeigen. Knuth forderte deshalb, die Politik müsse »sich grundsätzlich eingestehen, dass man durch Druck und Sanktionsdrohungen bestenfalls verwaltungskonformes Verhalten von Arbeitslosen erzwingen kann, aber keine in dauerhafte Arbeit führende Aktivierung«.

Was den »sozialen Arbeitsmarkt« angeht, plädierte Knuth für »einen anderen politischen Diskurs über derzeit dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Menschen, der es für Unternehmen ehrenhaft macht, sie zu beschäftigen«. Für die öffentlichen Beschäftigungsverhältnisse sollten seiner Meinung nach »auch private Firmen Jobangebote machen«, wie der epd schreibt.

IAB: Sozialer Arbeitsmarkt als Ultima Ratio

Ähnliche Signale, wenn auch teils in ganz andere Richtungen, hört man auch von anderen Experten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB sieht zwar zu den »Prinzipien des konsequenten Forderns und des systematischen Förderns der Leistungsempfänger« keine Alternative. Das IAB schlägt mit Blick auf die Langzeiterwerbslosigkeit aber »eine deutliche Aufstockung des Jobcenter-Personals« vor. Die Arbeitsvermittler sollten für weniger Hartz-IV-Betroffene zuständig sein, um diese besser betreuen zu können. Wer die Zahl der Langzeitarbeitslosen dauerhaft unter einer Million drücken wolle, müsse auch mehr für die ihre beruflich Förderung tun. Statt kurzer ein- bis zweiwöchiger Trainingskurse sollte geeigneten Bewerbern verstärkt eine Berufsausbildung angeboten werden, rät das IAB. Hierfür wäre mehr Geld nötig, seit 2013 hat die Bundesregierung das Budget aber gedeckelt.

Das IAB nimmt auch zur Idee eines »sozialen Arbeitsmarktes« Stellung: »Bei realistischer Betrachtung wird es allerdings auch Menschen geben, denen auch nach Ausschöpfung aller arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten eine Integration nicht gelingen wird. Zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe bedarf es hier als Ultima Ratio eines sozialen Arbeitsmarktes, der diesen Menschen für einen längeren Zeitraum öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse bietet. Wichtig sind in diesem Kontext eine strikte Begrenzung des Teilnehmerkreises auf besonders schwer vermittelbare Personen sowie die Beibehaltung und Förderung aller Optionen eines Übergangs in reguläre Beschäftigung.«

Sell: Schluss mit der »restriktiven Förderpolitik«

Die Deutsche Presse-Agentur lässt auch andere Forscher zu Wort kommen, darunter Toralf Pusch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und den Koblenzer Arbeitsmarktforscher Stefan Sell. Der fordert seit langem ein Ende der »restriktiven Förderpolitik« gegenüber Menschen ohne Arbeit und plädiert für eine offensive öffentliche Beschäftigung. Mit Blick auf den Sondierungsstand der Jamaika-Verhandler kommentierte Sell dieser Tage: »Ob es diesmal hilft, wenigstens teilweise dringend erforderliche Verbesserungen wenigstens anzustreben? Man darf gespannt sein.«

Gemeint ist unter anderem die Passage, die sich mit Langzeiterwerbslosen befasst: Da heißt es mit Stand 30. Oktober, »gemeinsames Ziel ist es, mehr Langzeitarbeitslosen den Einstieg auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen«. Dies soll durch die Verminderung der Zahl von Menschen ohne Bildungsabschluss und nachholende Qualifikationen erreicht werden. Auch heißt es, man spreche »darüber hinaus über« die »Überprüfung und Weiterentwicklung der Fördermaßnahmen der Jobcenter« und die »Möglichkeiten für Personen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen sowie die Frage deren dauerhafter Förderung«, wobei in Klammern auch die »Frage eines sozialen Arbeitsmarktes« angesprochen wird. Sogar »die Frage der Rechtsstellung der SGBII-Bezieher (Sanktionen)« steht in dem Sondierungspapier als Punkt für weitere Gespräche. Sell dazu: »Offensichtlich versuchen gerade die Grünen, einige Spuren bereits in dieser ersten Phase, vor dem Beginn offizieller Koalitionsverhandlungen, zu hinterlassen. Der Sache wegen sei gehofft, dass es ihnen gelingt, das auch bis zu einem Koalitionsvertrag durchzuhalten.«

Die Grünen hatten sich in ihrem Wahlprogramm dafür ausgesprochen, Hartz IV zu erhöhen, so »dass man menschenwürdig davon leben kann«. Die Sanktionen für Langzeiterwerbslose will die Partei abschaffen. Und weiter: »Wir geben auch Langzeitarbeitslose nicht auf und fordern einen verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt.« Dies will auch die Caritas, deren Präsident Peter Neher mit den Worten zitiert wurde, »wir brauchen den Ausbau eines sozialen Arbeitsmarktes, in dem Langzeitarbeitslose reale Chancen auf soziale Teilhabe erhalten«.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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