Wirtschaft
anders denken.

Sprengstoff für linke Politik

23.09.2021
Eine leere schwarze Tafel mit KreidespurenBild von stux auf PixabayMuss die Tafel bei Manchen einfach mehr gefüllt werden?

Theorien um die Bildungs- und Chancengleichheit könnten erklären, warum Trump und Co. gewählt wurden.

Der Philosoph Michael J. Sandel hat ein Buch geschrieben, das politischen Sprengstoff beinhaltet. Es kritisiert eines der linken Lieblingsthemen: Chancengleichheit durch Bildung (er nennt es »Meritokratie«). Dieses Konzept trage nicht dazu bei, dass die Ungerechtigkeit geringer wird, sondern im Gegenteil dazu, dass die wachsende Ungleichheit gerechtfertigt wird. Es führt seines Erachtens dazu, dass die »smarten« Hochschulabsolventen – die Bildungselite – arrogant auf die große Mehrheit der Bevölkerung, die nicht studiert hat, herabschauen. Darauf führt er als Gegenbewegung die Wahl von Trump, den Brexit in UK und die Wahl von rechten Parteien in vielen europäischen Staaten zurück.

Kulturkampf um Chancengleichheit

Der Autor hält es für einen Fehler, in populistischen Protesten nur Engstirnigkeit oder Wut auf die wachsende Ungleichheit zu sehen. Die Klagen und Proteste der Menschen, die Donald Trump gewählt haben, sind nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch moralischer und kultureller Natur. Es geht ihnen nicht nur um Löhne und Arbeit, sondern auch um gesellschaftliche Wertschätzung. Die weißen Männer ohne Hochschulabschluss fragen sich, warum Frauen, Schwarze und Behinderte gefördert werden, sie aber als »white trash« diskriminiert und in Fernsehsendungen als »dumm« und »ungebildet« dargestellt werden.

Daraus entsteht ein Hass, der sich nicht primär gegen die »Reichen«, sondern vor allem gegen die Bildungselite wendet. Es ist kein Wunder, dass Trump überwiegend von Menschen ohne Hochschulabschluss gewählt wurde. Nur ein Drittel der Republikaner bewerten höhere Bildung positiv.

Bildung als scheinbare Antwort auf Ungleichheit

Viele Politiker:innen erklärten seit den 90er Jahren, Bildung sei die Lösung für die wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung – für wachsende Ungleichheit, stagnierende Löhne und den Verlust von gutbezahlten Arbeitsplätzen in der produzierenden Industrie. Insbesondere linke Politiker wie Bill Clinton, Toni Blair, Gerhard Schröder und zuletzt auch Barack Obama haben mit ihrer starken Betonung von Bildung und Chancengleichheit entscheidend dazu beigetragen, dass nichtakademische Berufe entwertet wurden und der »Arbeiter« nichts mehr zählt. Die Aussage von Obama, dass jeder Mensch einen Hochschulabschluss braucht, war keine Lösung, da zwei Drittel der Bevölkerung keinen bekommen. Tatsächlich ist es eine Diskriminierung der Mehrheit der Menschen, die im Wettbewerb versagt hat.

Infolgedessen haben die linken Parteien das Vertrauen vieler einfacher Menschen verloren und wurden zu Akademikerparteien. Heute werden linke Parteien in allen wohlhabenden Staaten weltweit um so mehr gewählt, je höher der Bildungsstand ist.

Die Betonung der Chancengleichheit durch die Politik wirkte um so unglaubwürdiger, je stärker dies in Kontrast mit der Wirklichkeit geriet. Denn tatsächlich landeten die Einkommenszuwächse seit den 1980er Jahren nur bei den oberen Einkommen. Das Realeinkommen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung ist in den USA in den letzten 40 Jahren sogar gesunken. Und auch in Deutschland hat die Ungleichheit deutlich zugenommen. Der Anteil der unteren Hälfte der Bevölkerung am Gesamtvermögen fiel seit 1980 von fünf Prozent auf unter zwei Prozent.

Warum das Gerede von Aufstieg und Chancengleichheit Menschen demütigt

Sandel sieht in der Leistungsgesellschaft auch ein grundsätzliches ethisches Problem, selbst wenn echte Chancengleichheit hergestellt würde. Er fragt, ob Erfolg ein Verdienst ist. Natürlich gehört zum Erfolg fast immer auch Fleiß und harte Arbeit. Aber Intelligenz ist oft auch angeboren. Dass ein Baseballspieler in den USA Millionen verdient, in Europa dagegen nicht, ist Glück. Und auch Fleiß und Anstrengung hängen erheblich von motivierenden Eltern oder Lehrer:innen ab.

Es wird immer Ungleichheit bei den Fähigkeiten geben. Deshalb sollte man den Beitrag jedes Menschen würdigen. Arbeit ist eine Quelle sozialer Anerkennung und Wertschätzung. Auch hat der ökonomische Erfolg nichts mit Verdienst für die Gesellschaft zu tun. Eine (in den USA) schlecht bezahlte Lehrer:in oder eine Krankenpfleger:in leisten mehr für die Gesellschaft als ein Börsenspekulant, der das Hundertfache an Geld verdient, aber nicht »verdienen«.

Daher sind die einseitige Betonung von Leistung und Bildung und die Aussage »Jeder kann es schaffen – durch harte Arbeit« demütigend für die zwei Drittel der Bevölkerung, die keinen Hochschulabschluss haben. Sandel fordert daher, dass die Politik die elitäre Herablassung und die examensgläubigen Vorurteile bekämpfen soll und die Würde der Arbeit in den Mittelpunkt der politischen Agenda stellen muss. Dazu gehört sowohl eine entsprechende Bezahlung – aber auch eine Anerkennung der Arbeit als Beitrag zum Gemeinwohl.

Entdemokratisierung

Für Obama war »intelligent« die höchste Form des Lobes. Er benutzte das für Menschen, aber auch für Außenpolitik, Ausgabenkürzungen oder seine Energiepolitik. Sandel sieht darin auch eine Entdemokratisierung. Je mehr die Ausübung von Politik als eine Angelegenheit von »smart« versus »dumb« dargestellt wird, desto stärker plädiert man dafür, dass Entscheidungen von »smarten« Leuten (Expert:innen und Eliten) getroffen werden, anstatt von allen Bürger:innen.

So ist es kein Zufall, dass die Grünen – die Partei mit den meisten Akademiker:innen neben der FDP – die Forderung nach einem bundesweiten Volkentscheid aus ihrem Grundsatzprogramm gestrichen hat und auch die SPD, die diese Forderung seit über 100 Jahren vertrat, diese fallengelassen hat.

Die politische Debatte in Deutschland

Auch in Deutschland ist eine Debatte entbrannt, warum rechtes Gedankengut Boden gewonnen hat. Rechtskonservative Autoren behaupten, das sei eine Folge der Fixierung der linksliberalen Politiker auf Antidiskriminierungsfragen wie Genderpolitik und Antirassismus. Sahra Wagenknecht geht sogar noch einen Schritt weiter und hält die sogenannte Identitätspolitik linker Parteien für eine Diskussion unter ökonomisch Privilegierten.

Dem widerspricht die Jenaer Soziologin und Diskursforscherin Silke van Dyk entschieden: Der kollektive Kampf für Arbeiteremanzipation ist stets mit der Entdeckung der Individualität verbunden gewesen. Feministische Kämpfe waren nie Minderheitenkämpfe. Der Kampf gegen Rassismus in den USA und gegen die Ausgrenzung der Einwanderer war schon immer existentiell für die Solidarität der Unterschichten. Es ist deshalb notwendig, dass die Linke sich auch für Frauengleichstellung, für die Rechte von Schwarzen, von Minderheiten und Migrant:innen einsetzt.

In dieser Debatte kann die Analyse von Sandel einen wichtigen Beitrag leisten. Nämlich, dass es bei der Abwendung der Unterschichten von den Linken Parteien nicht nur um die mangelnde Bekämpfung der Ungleichheit geht. Die Linke muss sich auch für die Würde der Arbeit – von der Krankenpflege bis zur Müllabfuhr – in der Gesellschaft einsetzen. Dabei geht es natürlich nicht nur um Reden, sondern auch um Handeln: Die faire Bezahlung für die Arbeit und die Besteuerung der Reichen.

Literatur:

Michael J. Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls – Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020. Sandel (geb. 1953 in Minneapolis) ist seit 1980 Professor für politische Philosophie an der Harvard University. Er wurde bekannt durch seine Kritik an John Rawls, in der er dessen abstrakten Freiheitsbegriff kritisiert, da eine Priorität für die Freiheit ohne soziale Werte und Tugenden nicht akzeptabel ist.

Silke van Dyk, Stefanie Graefe: Wer ist Schuld am Rechtspopulismus? Zur Vereinnahmung der Vereinnahmungsdiagnose : Eine Kritik. Leviathan, 47. Jahrgang 4/2019, Professorin für politische Soziologie in Jena.

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