Wirtschaft
anders denken.

Ganz große deutsche Steuergeschichte

14.09.2022
Das Cover des Buchs "Das Versprechen der Gleichheit Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute" vor einem orangenen Hintergrund

Steuern sind Verteilungspolitik! Marc Buggeln legt ein umfassendes Werk zur Analyse des deutschen Steuerwesens vor. 

1871 bis 1945 – eine Epoche, die auf den ersten Blick global wenig Gemeinsamkeiten aufweist. Doch schaut man auf die Vermögenden der Welt, fällt auf: Kaum jemand der Reichsten der Reichen, die die Geschichte hervorgebracht hat, wurde in diesen Jahren geboren. John D. Rockefeller, lange Zeit berüchtigter Anführer der inflationsbereinigten Liste der reichsten Menschen, kam 1839 auf die Welt. Jeff Bezos, der Rockefeller wegen der exponentiellen Amazon-Bestellerei in den Corona-Lockdowns vom Thron stieß und erstmals die Grenze von einem Vermögen höher als 200 Milliarden US-Dollar riss, startete die Lebenskarriere 1964. Dazwischen: Gähnende Leere mit wenigen Ausnahmen. Zwei Weltkriege vernichteten genug Vermögen für mehrere Generationen.

Doch Marc Buggeln verweist in der Einleitung seiner Habilitationsschrift, die unter dem Titel »Das Versprechen der Gleichheit« am 12. September überarbeitet und ergänzt bei Suhrkamp erscheint, auf einen weiteren Aspekt. Auch die sich wandelnde Steuerpolitik spielt neben dem ausgebauten Sozialstaat eine zentrale Rolle, so die These des Berliner Historikers, der an der Humboldt Universität zu Berlin lehrt. Diese Entwicklung der Steuerpolitik untersucht Buggeln in seinem Buch umfassend auf mehr als 1000 Seiten. Dabei fokussiert er sich auf die Bundesrepublik und ihre Vorgängerstaaten, vergleicht diese zudem durchgängig mit den größten kapitalistischen Konkurrenten Großbritannien, Frankreich und den USA und, wenn ein konträrer Entwurf dargestellt werden soll, auch mit passenden Staaten wie der Sowjetunion. Die DDR bleibt allerdings ganz außen vor.

Steuern versteht Buggeln dabei im Sinne von Sozialwissenschaftler Fritz Neumark: Sie sind Zwangsabgaben gegenüber dem Staat, die keinen Anspruch auf Gegenleistung begründen und in der Regel durch Geld beglichen werden müssen. Sie gelten steuerrechtlich für alle auf einem Staatsgebiet. Damit unterscheiden sie sich von den Gebühren, die ein Staat erheben kann, welche aber direkt gegen eine staatliche Leistung getauscht werden. Wer schon mal einen Personalausweis beantragt hat, kennt das.

Hier setzt eine beliebte ordo-liberale – oder neoliberale – Kritik am Steuerstaat an. Ideenhistoriker Thomas Biebricher fasst sie am Beispiel von James Buchanan in seinen Publikationen so zusammen: Gewählte und nicht-gewählte Staatsdiener:innen hätten zwar kein individuelles Interesse am Staat insgesamt, maximieren allerdings gemeinsam seinen Nutzen, also die Steuereinnahmen. Die immer weiter steigendende Steuerbelastung, die bei Erhebung ohne Zweckbindung als Enteignung angesehenen wird, ist zentral für die neoliberale Theorie. Im Besonderen die Schuldenaufnahme zur Staatsfinanzierung wird kritisch gesehen. Die Schulden von heute seien die Steuern von morgen. Sie – Schulden und Steuern – sind damit nicht Teil eines politischen Aushandlungsprozesses, sondern angeblich objektiv nur Belastung für die Steuerzahler:innen.

Buggeln, der eine Durchsetzung dieser neoliberalen Steuerideen in den 90er Jahren der Bundesrepublik konstatiert, folgt dieser Perspektive allerdings nicht. Zwar gibt er zu, dass seine Geschichtsschreibung in vielen Teilen einer des sozialliberalen Fortschritts entspricht. Er betont jedoch immer wieder deutlich, dass Themen der Steuerpolitik, wie beispielsweise progressive Besteuerung der Reichen oder Datenerhebung zur effektiven Besteuerung, mit tiefen gesellschaftlichen Konflikten einhergehen. Man könnte interpretieren, dass sie in eine allgemeine Historie der Klassenkämpfe eingebettet werden muss, auf die Buggeln immer wieder auch eingeht. Die Besteuerung wird folglich nicht generell vom ausufernden Leviathan zur Selbstbereicherung ausgedehnt, die progressive Ausgestaltung musste ihm abgerungen werden.

Vielmehr ermöglichten Steuern in der Frühphase des Kapitalismus eine Integration in den Kapitalprozess. Subsistenzwirtschaft wurde schwieriger, die Bäuer:innen mussten staatlich gedrucktes Geld verdienen, um staatliche Abgaben zu zahlen, argumentiert Buggeln. Eine Lenkungswirkung hatten sie also auch schon damals und nicht erst mit einer imaginierten Aufblähung des Steuerstaats, wie es angeblich nach dem zweiten Weltkrieg zu sehen sei. Das Steuerwesen bildet für viele Entwicklungen hin zum gegenwärtigen Kapitalismus also das Fundament. Diese Entwicklungen sind jedoch nicht immer eindeutig, sondern auch widersprüchlich: »Steuern trugen so nicht nur zur Durchsetzung des Kapitalismus bei. Sie trugen auch dazu bei, dass die Bürger Rechte durchsetzten, die die Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses beschränken konnten«, schreibt Buggeln.

Wer wissen will, wann welche Ausrichtung der deutschen Steuerpolitik die Grundlage wofür legt und wie dies auf die soziale Ungleichheit wirkte, braucht eine detaillierte Übersicht und Einschätzung ihrer Geschichte. Diese liefert Marc Buggeln mit seinem umfassenden Werk.

Buggeln, Marc: »Das Versprechen der Gleichheit – Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute«, Suhrkamp, Berlin, 2022

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