Wirtschaft
anders denken.

Stimmung gegen den Sozialstaat: Von einer Billion und was die Zahl verschleiert

05.08.2018
aus dem Trailer

»Die Sozialausgaben steigen – ein gefährlicher Trend«, konnte man dieser Tage oft lesen. Lobbyisten nutzen die Gunst, um gegen den Sozialstaat Front zu machen. In Wahrheit wächst der Anteil der Sozialausgaben am BIP seit Jahren nur wenig. 

»Die Sozialausgaben steigen – ein gefährlicher Trend«, warnt die »Süddeutsche Zeitung«. Die Summe aller Aufwendungen für soziale Sicherung lag 2017 erstmals jenseits der Schwelle von einer Billion Euro, schreibt die »Frankfurter Allgemeine«, beim »Handelsblatt« sind es 965,5 Milliarden Euro. Jedenfalls sei ein »Rekordwert« erreicht. Anlass der Meldungen sind Aufstellungen des Bundesarbeitsministeriums, darin ist auch der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt berechnet, er liegt bei 29,6 Prozent. Dazu gleich mehr. 

Natürlich werden Zahlen dieser Größenordnung immer auch dazu genutzt, ein bisschen die politische Trommel zu rühren. Lobbyisten derer, die sich Arbeitgeber nennen, beklagen die »wachsende Zukunftsvergessenheit deutscher Politik« und erheben die Stimme gegen den »Umverteilungsstaat«. Die Freidemokraten verlangen schon einen »Umbau des Sozialbudgets« und wollen »die Sozialpolitik künftig unter eine ganz andere Überschrift stellen«. Wer hier an Sozialabbau denkt, der dann als Beitrag zu mehr »Zielgenauigkeit« verkauft wird, dürfte nicht ganz falsch liegen.

Die journalistischen Bauchredner der dahinterstehenden Interessen haben schon den Zeigefinger erhoben. »Die größten Haushaltsrisiken stecken nach wie vor in einer Sozialpolitik, die in Zeiten guter Konjunktur im Übermaß neue Ansprüche schafft«, heißt es in FAZ. Und in der »Süddeutschen« glaubt jemand, die Bundespolitik würde »nach dem Motto ›Da geht noch was‹« bei den Sozialausgaben immer nur draufsatteln, was sich dann leicht mit den Worten »ein gefährlicher Trend, der obendrein aller ökonomischen Vernunft widerspricht« verbinden lässt. 

Nun gibt es gute Gründe, bestimmte Sozialleistungen kritisch in den Blick zu nehmen, weil sie entweder klientelistische Maßnahmen sind, aber nicht »sozial« (etwa Baukindergeld), weil sie dazu dienen, ein Unternehmertum staatlich zu subventionieren, das keine auskömmlichen Löhne zahlen will (siehe Aufstocker) oder weil sie in der gegenwärtigen Form nicht zuvörderst denen helfen, die das brauchen können (zum Beispiel Maßnahmen gegen Altersarmut).

Der Punkt ist: Diejenigen, die jetzt hier Warnrufe ausstoßen, weniger Sozialausgaben fordern oder demonstrativ auf die »eine Billion« verweisen (mal mit dem austeritätspolitischen Argument, es sei jetzt wichtiger die Haushalte zu konsolidieren, mal in der offenkundigen Absicht, die sozialen Verhältnisse gegen Kritik zu immunisieren), arbeiten sich an absoluten Zahlen ab, aus denen alles mögliche abzuleiten wäre, nicht aber die Behauptung, »dass der deutsche Staat noch nie so viel für seine Bürger ausgegeben hat«. 

Denn dieses »so viel« müsste man ins Verhältnis setzen, der Indikator dafür heißt Sozialleistungsquote. Sie beschreibt den Anteil der Ausgaben für Wohlfahrt, Schutz und Absicherung im Verhältnis zu dem gesellschaftlich produzierten Reichtum, hier ausgedrückt am (kritikwürdigen) Maßstab Bruttoinlandsprodukt. Dieser Anteil lag laut der Berichte 2017 bei 29,6 Prozent.

Das ist kein Rekord, sondern liegt etwa auf dem Niveau der vergangenen Jahre, in denen es mal etwas unter 29 Prozent ging und mal etwas darüber. Wer das schiefe Lied der absoluten Zahlen singt, bei dem eine Strophe zum Beispiel lautet: »Vor einer guten Generation, im Jahr 1970, betrug das Sozialbudget noch umgerechnet 84 Milliarden Euro, 1980 waren es bereits 223 Milliarden, dann 400 Milliarden, und immer weiter«, macht nur Stimmung. Ausgeblendet wird, dass diese Gesellschaft immer reicher geworden ist, einige wenige darin sogar viel reicher und viele partizipierten gar nicht von den Zuwächsen. 

Die Sozialleistungsquote wird natürlich auch dadurch beeinflusst, wie die Wirtschaftsleistung wächst – weil in der großen Krise seit 2008 das BIP einbrach, nicht aber die Sozialausgaben zurückgefahren wurden, »stieg« die Sozialleistungsquote folglich an (deshalb liegt im Jahr 2009 auch der bisherige Rekord von 30,5 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt). 

Auch im Vergleich mit anderen EU-Staaten liegt die Bundesrepublik keineswegs an der Spitze. Schaut man weiter in die Vergangenheit zurück, machen methodische Brüche die Sicht etwas schwer – 2009 wurde die Berechnungsmethode verändert, Vergleiche mit früheren Jahren sind also vorsichtig zu genießen, seit 2009 sind auch die Grundleistungen der privaten Krankenversicherung einberechnet. 

Aber für dieses Thema hier soll doch einmal zurückgeblickt werden: 1913 betrug die Sozialleistungsquote in Deutschland rund 3 Prozent. Das waren nicht nur andere Ausgabentöpfe und Anspruchsberechtigte. In der Bundesrepublik lag der Anteil in den 1950er und 1960er Jahren um die 18 Prozent – und er stieg dann deutlich an. Das war eine politische Entscheidung, sie entsprach der Überlegung, dass die Menschen in einem reichen Land soziale Ansprüche haben sollten. Es war, kurzum, Ergebnis sozialdemokratischer Umverteilung. 1975 lag die Quote bei etwa 26 Prozent. 

Was auffällt, ist höchstens, das der Anteil für Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung seither kaum noch wuchs und in einer Schwankungsbreite zwischen etwa 24 und 30 Prozent verblieben ist. Man könnte es auch so formulieren: Es ist seither nicht mehr gelungen, das in der Sozialleistungsquote zum Ausdruck kommende Verteilungsvolumen deutlicher zu erhöhen. 

Geschrieben von:

Vincent Körner

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