Wirtschaft
anders denken.

Älter als Trillerpfeifen und Warnwesten

19.06.2022

Streik, Fabrik und Frauen: Aus der langen Geschichte unterschiedlicher und häufig zu Unrecht vergessenen Arbeitskämpfe. Aus OXI 6/22.

Deutschland ist seit dem Faschismus nicht nur ein streikarmes Land. Auch das Wissen um die Geschichte des Streiks ist hier vergleichsweise mager und schematisch. Eine Wiederentdeckung der bunten und reichen Facetten des kollektiven Arbeitskampfs könnte gerade in Zeiten wie diesen interessant sein, da die Fabrikgesellschaft und einheitliche Tarifverträge zusehends aufgelöst werden.

Die vorherrschende Darstellung der deutschen Streikgeschichte ist nationalstaatlich beschränkt und stark begradigt hin auf die goldene Ära der DGB-Gewerkschaften als tragenden Säulen des Staates. Als vermeintlich logischer Endpunkt erscheinen Flächentarifverträge und zentralisierte Industriegewerkschaften. So gesehen hätte die Streikgeschichte ihren Zenit etwa 1974 beim Streik der ÖTV unter Heinz Kluncker erreicht (11 Prozent mehr Lohn). Merkwürdig ist auch, dass wir auf den gut aufgearbeiteten Seiten der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (gewerkschaftsgeschichte.de) zwar erfahren, wann sich die ersten Gewerkvereine der Zigarrendreher und Buchdrucker gründeten – im Jahr 1848 –, aber nicht, wann die ersten Streiks stattfanden. Sollte es Streiks womöglich schon viel länger geben als Gewerkschaften?

Als Anfang und Ursache des Streiks gilt fälschlicherweise die Industrialisierung – tatsächlich aber waren die Gesellen und ihre Verbände im späten Mittelalter ausgesprochen streikfreudig. Der Historiker Reinhold Reith schreibt: »Im 18. Jahrhundert war der Streik als Mittel des Arbeitskampfes im Handwerk und dann auch in der Manufaktur besonders in Gewerbestädten wie Nürnberg oder Augsburg durchaus keine Seltenheit. Für die deutschen Städte dieser Zeit sind allein mehr als 500, in England von 1717 bis 1800 fast 400 solcher Fälle bekannt. Diese Arbeitsniederlegungen verliefen keineswegs gewalthaft, wie vielfach angenommen wurde, und es handelte sich dabei auch nicht um spontan-emotionalen Protest: Die Aktionen der Gesellen waren in der Regel gut vorbereitet und organisiert. Zu Gewalt kam es meist erst nach dem Eingreifen der Obrigkeit, wenn z. B. die Herberge vom Militär oder von der Stadtwache umstellt wurde oder man Gesellen verhaftete, wie beim ›Breslauer Gesellenaufstand‹ von 1793.«

Als erster überlieferter Streik der Geschichte gilt eine Arbeitsniederlegung im ägyptischen Deir el-Medina im Jahr 1159 v. Chr., der in einen Aufstand mündete. Deir el-Medina war das Dorf der Steinmetze und Handwerker von Theben, die Grabstätten und Monumente im Tal der Könige bauten und dekorierten. Sie sollten ein großes Fest zum 30. Jahrestag der Thronbesteigung Ramses III. vorbereiten. Die Zeit drängte, doch die Kunsthandwerker, denen spirituelle, magische Kräfte zugeschrieben wurden, hatten seit einem Monat keinen Lohn erhalten. Sie hungerten. Irgendwann stürmten sie den zentralen Getreidespeicher in Theben. Der Polizeichef gab nach und zahlte sie aus. Als sich ihr Lohn im nächsten Monat wieder verzögerte, blockierten die Streikenden sogar das Tal der Könige, was in der Glaubensvorstellung der Ägypter schwerwiegende Folgen für die Seelen der Toten in der Nachwelt hätte haben können. Der Streik verankerte sich seitdem im alten Ägypten.

Die Beschreibungen ähneln in einigen Aspekten dem Big Bang des Klassenkampfes in Europa. 1831 eroberte das Seidenweber-Proletariat der Vorstädte für einen Tag die Stadt Lyon, weil ein vereinbarter Tarif – ein zuvor zäh verhandelter Mindestlohn der Präfektur – von vielen Kapitalisten nicht eingehalten wurde. Daraus folgt der erste proletarischen Aufstand der Weltgeschichte. Auch hier war nackter Hunger der Antrieb, auch hier zog man weg aus den Produktionsstätten hin ins Zentrum der Herrschaft. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, doch die mit dem Mut der Verzweiflung und gerechtem Zorn Kämpfenden setzten den Krieg zwischen Arm und Reich auf die Tagesordnung. Ein Gespenst erschien der Bourgeoisie, das damals noch nicht Kommunismus, sondern Anarchie hieß, und von Helmut Bock so beschreiben wird: »Bei dröhnendem Trommelschlag sammelte sich die Menge unter einer schwarzen Fahne, auf der die Losung geschrieben stand: ›Vivre en travaillant ou mourir en combattant!‹ (Arbeitend leben oder kämpfend sterben!) Es war der Wahlspruch von Ausgebeuteten, die in der bürgerlichen Gesellschaft das ›Recht auf Leben‹ durch ausreichenden Arbeitslohn für sich und ihre Familien erringen wollten.«

Der traditionelle Streik-Begriff, wie wir ihn heute verwenden, ist an die Fabrik gekoppelt. Genauer gesagt ist das, was wir traditionell als Streik verstehen, immer auch eine Art Betriebsbesetzung, Betriebsbelagerung oder zumindest Produktionsbehinderung. Arbeiter*innen, die nur die Arbeit niederlegen, aus dem Betrieb marschieren und die Produktion fortan sich selbst überlassen, werden wenn sie nicht die gleich die ganze Stadt lahmlegen schon in der nächsten Schicht ersetzt. Wozu gibt es Leiharbeit und Streikbrecher?

Der neoliberale Vordenker und Union-Buster Ludwig van Mises brachte es 1922 auf den Punkt: »Man muss sich dabei vor Augen halten, dass jeder Streik ein Akt des Landzwanges ist, eine gewaltsame Erpressung, die sich gegen alle richtet, die den Absichten der Streikenden zuwiderzuhandeln bereit wären. Aller und jeder Streik ist Terrorismus. Denn der Zweck der Arbeitseinstellung würde gänzlich vereitelt werden, wenn es dem Unternehmer möglich wäre, anstelle der streikenden Arbeiter andere einzustellen, oder wenn sich nur ein Teil der Arbeiter dem Streik anschließen würde. Das Um und Auf des Gewerkschaftsrechtes ist daher die von den Arbeitern mit Erfolg behauptete Möglichkeit, gegen den Streikbrecher mit Brachialgewalt vorzugehen.«

Dieser leicht faschistoide Von-Mises-Sound hallt bis heute in dem medialen Gejammer wider, das reflexartig ertönt, wenn Lokführer oder Piloten den Verkehr stilllegen. Dabei hat von Mises auf seine verquere Weise durchaus Recht: Einen erfolgreichen Streik zu organisieren heißt auch, konsequent gegen Streikbrecher:innen vorzugehen. So wie im von Helmut Bock beschriebenen Aufstand von Lyon: »Am Montag, dem 21. November 1831, war Streiktag. In Croix-Rousse versammelten sich am frühen Morgen knapp vierhundert mit Stöcken bewaffnete, von einem Mitglied ihrer Tarifkommission angeführte Seidenarbeiter. Sie wollten, dass bis zur Anerkennung des Minimaltarifs keine Maschinen mehr betrieben würden und gingen in die Werkstätten, um jeden noch Tätigen zur Arbeitsniederlegung aufzufordern.«

Allerdings gab es 1831 in Lyon noch keine großen Tuchfabriken nach englischem Vorbild. Genau deshalb geriet man ja ins Hintertreffen. Die hochmaschinell gefertigten Tücher aus England waren billiger, so dass die Lyoner Kapitalisten den Stücklohn senkten. Das französische Proletariat arbeitete in einem Verlagssystem. 392 Kapitalisten lieferten die Rohstoffe, nahmen die produzierten Tücher ab und diktierten die Preise, 9.000 Meister besaßen als Subunternehmer je zwei bis acht Webstühle, bei ihnen standen 30.000 Männer, Frauen und Jugendliche in Lohn.

Da war man an der US-Ostküste schon weiter. 1824 ereignete sich im Städtchen Pawtucket, Rhode Island der erste Fabrikstreik der USA in der ältesten Tuchfabrik Amerikas. (Die Slater Mill wurde 1793 gegründet.) 102 Arbeiterinnen verließen die Webstühle, nachdem die Fabrikbesitzer eine Lohnkürzung um 25 Prozent und Verlängerung des Arbeitstags um eine Stunde angekündigt hatten. Der »Turn-out« von Pawtucket – das Wort Streik hatte es noch nicht über den Atlantik geschafft – entwickelte sich zu einem lokalen Aufstand. Kinder, Männer, Bauern und Handwerker schlossen sich an, bald waren alle acht Tuchfabriken des Städtchens blockiert. Es ging eine Woche. Die aufgebrachte Menge lief zu den Fabrikantenhäusern. Es hagelte Steine und Beschimpfungen.

Ganz aufmerksame Leser:innen werden bemerkt haben, dass in der Beschreibung ein Gender-Doppelpunkt fehlt. Tatsächlich handelte es sich um den ersten Frauenstreik der US-Geschichte. Auch hier war Frankreich mit dem rebellischen Lyon später dran: Im Widerstandsnest Croix-Rousse, das 1834 und 1848 zwei weitere blutig niedergeschlagene Aufstände hervorbrachte, kam es 1869 zu ersten Streiks von Frauen in der französischen Seidenherstellung, die 1899 zur Gründung der ersten Frauengewerkschaftsbewegung durch Marie-Louise Rochebillard führen.

Die Slater Mill in Pawtucket ist heute ein Museum. Ebenso die erste Fabrik außerhalb Englands, die 1783 in Ratingen gegründet wurde – auch wenn hier leider kein Streik überliefert ist. Die Cromford-Tuchfabrik entstand durch eine kriminelle Methode, derer die deutsche Industrie heute China bezichtigt: Industriespionage. Aber das ist ein anderes Thema …

Geschrieben von:

Elmar Wigand

Pressesprecher aktion ./. arbeitsunrecht

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